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Als Kind im jüdischen Wiener Obdachlosenheim Der österreichische Jude Hans Gamliel (geb. 1940) im Wien der unmittelbaren Nachkriegszeit

Fabian Brändle

Obdachlosigkeit ist ein schweres Los: Obdachlose Frauen und Männer sind bekanntlich Kälte, Frost, Regen, Wind und Wetter mehr oder weniger schutzlos ausgesetzt, erleben oftmals auch gefährliche Situationen, namentlich nachts. Sind sie krank, können sie sich draussen kaum erholen und wieder gesund werden. Tagsüber finden sie nur mit Mühe einen geeigneten Aufenthaltsort, und so alltägliche Dinge wie Körperhygiene und Kleiderwäsche gestalten sich als ungemein schwierig, werden zur veritablen Herausforderung.

Inhalt

Die westlichen Metropolen, die im späten 19. Jahrhundert stark angewachsen waren, begegneten der wachsenden Obdachlosigkeit mit dem Bau von Obdachlosenheimen und -asylen. So berühmte Schriftsteller wie der Amerikaner Jack London (John Griffith Chaney, 1876–1916) oder der noch bekanntere Engländer George Orwell (Eric Blair, 1903–1950) setzten sich dieser auch psychisch demütigenden Grenzerfahrung aus und lebten eine Zeitlang als „tramps“ in verschiedenen Grossstadt-Asylen. Dies war eine mehr als schwierige Erfahrung für die beiden Autoren, denn das Zusammenleben mit Obdachlosen mit Suchtproblemen war von vielen Konflikten gekennzeichnet. Auch die Hausordnungen waren rigide, ja teilweise kleinlich und von strikter Geschlechtertrennung geprägt. Das Schlafen in den überfüllten Schlafsälen war von Lärm (Schnarchen) und von Gestank begleitet. Es waren denn auch vor allem alleinstehende Männer, welche die zweifelhaften Angebote der Asyle nutzten.

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte in vielen europäischen (und asiatischen) Städten erneut Wohnungsnot, denn der (Luft-)Krieg hatte ganze Stadtteile weitestgehend zerstört und somit enorm viel wertvollen Wohnraum vernichtet. In die Städte drängten Flüchtlingsströme. Menschen lebten in improvisierten Baracken, drängten sich in die verbliebenen Wohnungen, wohnten provisorisch bei Verwandten und Freunden. Auch die Metropole Wien war nach 1945 ziemlich stark von Obdachlosigkeit betroffen. Die österreichische Hauptstadt hatte schwere Bombardierungen erlebt, zudem requirierten die alliierten Besatzer Wohnraum für Offiziere und für höhere Verwaltungsbeamte. Wer nicht auf der Strasse, in (ehemaligen) Bunkern oder in einsturzgefährdeten Ruinen leben wollte und niemanden mit einer Wohnung kannte, dem verblieb das Obdachlosenheim oftmals als einzige und letzte Alternative.

 

Der österreichische Jude Hans Gamliel, im Jahre 1940 geboren bei Subotica/Jugoslawien als Sohn einer Wienerin auf der Flucht vor den Nationalsozialisten, verbrachte gemeinsam mit seiner Mutter Dorothea und seiner jüngeren Schwester Erika einige Jahre im jüdischen Obdachlosenheim der Frau Citron in der Tempelgasse in Wien-Leopoldstadt. Hans Gamliel wuchs sozusagen im Heim auf. Er war ein guter, sachlicher Beobachter und verfügt offenbar über ein ausgezeichnetes Gedächtnis, denn noch viele Jahrzehnte später konnte er sich im schriftlichen, rund 210-seitigen, bebilderten Rückblick auf seine Kindheit noch an manches sprechende Detail erinnern, das es erlaubt, den „Mikrokosmos Obdachlosenheim“ im Wien der unmittelbaren Nachkriegszeit zumindest teilweise zu

 

rekonstruieren.[1]

 

 

Nachdem sie auf dem beschwerlichen und abenteuerlichen Umweg über Graz, wo sie geheiratet hatte und sich gleich wieder scheiden liess, ihre Heimatstadt Wien erreicht hatte, gelangte die Mutter hilfesuchend an die jüdische Kultusgemeinde, die ihr einen Platz im jüdischen Obdachlosenheim in der Tempelgasse zuwies. Dort bezog die Familie, bestehend aus Mutter und zwei Kindern, ein kleines Zimmer. Da sie mittellos war und über keine Papiere verfügte, war es schwierig für die Mutter, eine eigene Wohnung zu bekommen. Dieser Schritt gelang ihr erst im Jahre 1952, sechs Jahre nach Übernahme des Zimmers im Obdachlosenheim. Es ist erstaunlich, mit wie viel Energie die Mutter nicht nur das Überleben ihrer beiden Kinder in Jugoslawien und auf dem Weg heim nach Wien gesichert hatte, sondern auch, wie hartnäckig, ja beinahe verzweifelt sie im Heim für ein lebenswertes Leben kämpfte. Wie viele andere Frauen jener Zeit auch wuchs sie über sich hinaus, hatte aber einen hohen Preis dafür zu zahlen, indem sie an Schwächeattacken litt.

 

Da sie mit der Heimleiterin Frau Citron auf gutem Fuss stand, wurde es möglich, dass jedes Mal, wenn eine Familie aus einem grösseren Zimmer auszog, Mutter Dorothea dieses bezog, so dass sie am Schluss ihres Aufenthalts immerhin über das grösste Zimmer im Gebäude verfügte. Doch war dieses immer noch klein genug für eine dreiköpfige Familie. Und an eine eigentliche Privatsphäre war nicht zu denken, mussten doch die Bewohnerinnen und Bewohner eines Zimmers in der Regel durch ein anderes Zimmer gehen, um in den Flur zu gelangen. Dies sorgte für Zündstoff und Reibereien, ja für Streit. Oftmals wurde Bewohnerinnen oder Bewohner bei der Heimleitung (Frau Citron) vorstellig und reklamierten. Die Nerven der Bewohnerinnen und Bewohner lagen blank. Alle hatten sie während des Krieges sehr schlimme Dinge am eigenen Leibe erlebt: Verfolgung und Flucht, ja Lagerleben, mit Aussicht auf brutale Ermordung. Untereinander sprachen sie kaum, auch Zimmergenossinnen und Zimmergenossen nicht, und wenn, dann nur das Nötigste oder über banale Dinge wie das Wetter. Jeder hatte insgeheim Angst davor, nicht am meisten gelitten zu haben und sich eine Blösse zu geben. So war jeder Bewohner in erster Linie mit sich selbst beschäftigt, Solidarität zwischen den Leidenden war kaum zu spüren. Streit konnte jederzeit ausbrechen, oft wegen Kleinigkeiten. Auch Handgreiflichkeiten kamen vor.

 

Hans Gamliel versuchte, sich in dieser feindseligen, von Mangel an Dingen und an Zuneigung geprägten Welt so gut wie möglich durchzuschlagen. Dauerhafte Freundschaften zu Gleichaltrigen waren vorerst kaum möglich, denn die meisten Familien verliessen das Obdachlosenheim nach wenigen Monaten, sobald sie eine eigene Wohnung gefunden hatten. Es war ein Kommen und Gehen. Natürlich fand der gesellige Hans Gamliel Spielkameraden jeweils für ein paar Wochen oder Monate, so den kleinen „Danusch“. Und er hatte ja noch seine jüngere Schwester Erika zum Spielen und zum Reden. Doch einen besten Frend fand er erst, als er zur Schule ging und dort auf Heini traf, einen sehr guten Fussballer aus der Umgebung, der stets zu ihm hielt, obwohl er selbst nicht so sportlich und lediglich ein mittelmässiger Fussballer war. Fussball war trotzdem wichtig im Leben des heranwachsenden Hans Gamliel. So hörte er am Radio von Onkel Paul die Länderspiele der starken österreichischen Auswahl mit an. Und im nahegelegenen Park spielte er manchmal gemeinsam mit sowjetischen Besatzungssoldaten Fussball. Wien war damals eine wichtige internationale Hauptstadt des Fussballs („Calcio Danubiano“), von dort kamen die Spieler und Profis des so genannten „Wunderteams“ Dr. Hugo Meisels der frühen 1930er Jahre, dort spielten die Austria, Rapid oder die damals starke Admira im mitteleuropäischen „Mitropacup“. Im Jahre 1954 sollte die österreichische Nationalmannschaft an den Weltmeisterschaften in der kriegsverschonten Schweiz das Halbfinale und schliesslich den sehr guten dritten Platz erreichen. Hans Gamliel war zwar selbst ein nicht sehr begabter Fussballer, aber wie die meisten seiner Altersgenossen ein Fussball-Fan.

 

Die teilweise kriegszerstörte Umgebung bot für die Kleinen des Obdachlosenheims abenteuerlichen Spielgrund, so die Ruinen der Synagoge, die, im Jahre 1938 angezündet („Novemberpogrom“), trotz Einsturzgefahr für so manche aufregende Stunde sorgten. Kinder nehmen vielleicht Zerstörungen anders wahr als Erwachsene, adaptieren sich vielleicht schneller an die neue, noch ungewohnte Umgebung. Im Falle Hans Gamliels war das jedenfalls so. Der Knabe konnte im Tempel zerborstene Sitzbänke ausmachen, sah auch verkohlte Schriftrollen. Da er nicht unbedingt religiös aufwuchs, war dies eine fremde Welt für ihn, eine umso interessantere, ja exotische Welt. Hätte die Mutter vom Treiben ihres Sohnes in den Ruinen gewusst, hätte sie ihm das gefährliche Spiel in den Trümmern bestimmt verboten.

 

Anmerkung

 

[1] 2008 bis 2009 hat DAVID Hans Gamliels Erinnerungen in Form einer Serie veröffentlicht; vgl. Hans Gamliel, Wien 2, Tempelgasse Nr. 3c. Erinnerungen 1943–1953, Teil 1, DAVID Heft 77, Sommer 2008, https://davidkultur.at/artikel/wien-2-tempelgasse-nr-3c-erinnerungen-1943-8211-1953-teil-1, Teil 2, DAVID Heft 78, Rosch Haschana 2008, Teil 3, Heft 79, Chanukka, 2008, Teil 4, DAVID Heft 80, Pessach 2009, https://davidkultur.at/artikel/wien-2-tempelgasse-nr-3c-erinnerungen-1943-8211-1953-teil-4, Teil 5, DAVID Heft 81, Sommer 2009, https://davidkultur.at/artikel/wien-2-tempelgasse-nr-3c; Buchveröffentlichung 2019: Elisabeth Lutter (Hg.): Hans Gamliel, Eine jüdische Kindheit im Nachkriegswien.