Ausgabe

GASTBEITRAG Nordost-Polen Tykocins historische Judengemeinde

Stephen Sokoloff

GASTBEITRAG

 

Die polnische Stadt Tykocin, 500 Jahre lang ein wichtiges Zentrum jüdischen Lebens, befindet sich ziemlich am Ende der Welt. Sie liegt 179 Kilometer nordöstlich von Warschau, unweit der Grenze zu Belarus und Litauen. Jedes Jahr besuchen Zehntausende Touristen die 1642 erbaute Synagoge, die nun als Museum dient, und die vielen anderen historischen Gebäude des Ortes. Ein polnisch-jüdisches Restaurant sorgt für das leibliche Wohl der Besucher.

Inhalt

Der polnische Herzog Janusz I., der Ältere, verlieh Tykocin 1425 das Stadtrecht. 97 Jahre später wurden 10 jüdische Familien zur Förderung des Handels in der Stadt angesiedelt. Auch wenn der Vorort, wo sie wohnten, schlammig und unwirtlich war, wuchs die Gemeinde stetig. Bald entstanden eine Synagoge, ein Mikvah (Ritualbad), ein Friedhof sowie Verkaufsstände.

In Polen genossen die Juden Privilegien, die sie anderswo nicht kannten. Die Kahals (jüdische Gemeinden) waren weitgehend autonom und unabhängig von der Gerichtsbarkeit der städtischen Verwaltung. Im 17. Jahrhundert bestand die Leitung des Kahals von Tykocin aus 40 respektierten und auch wohlhabenden Männern. Jeder durfte seine Funktion nur 3 Jahre lang ausüben. Sie kontrollierten die Mikvahs, Schlachthäuser, Schulen und Handwerksbetriebe sowie die Einhaltung der Ritualien. Zum Beispiel stellten sie sicher, dass die Geschäfte rechtzeitig vor dem Sabbat geschlossen wurden. Sie entschieden, welche Juden sich im Ort niederlassen durften, wobei Wohlhabende den Vorzug bekamen. Ihre Gerichte waren dazu befugt, bei zivilen Angelegenheiten zwischen Juden Entscheidungen zu fällen. Vor allem aber sammelten die Kahals Steuern für den Staat ein und waren dabei effizienter als die staatlichen Institutionen. Der Kahal von Tykocin hatte auch die Verwaltungshoheit über jüdische Gemeinden in den umgebenden Orten.

1.-synagoge-1642-erbaut-foto-sokoloff.jpg

Synagoge, 1642 erbaut.

Polen war ein „Paradies für die Juden“

Der Rabbiner war die Autorität in religiösen und moralischen Angelegenheiten. Er leitete die Yeshiva (religiöse Hochschule), lehrte das Recht, regelte Streitigkeiten und predigte. Für die Durchführung des G’ttesdienstes war aber nicht er, sondern der Kantor zuständig. Die jüdischen Bewohner waren verpflichtet, an der Verteidigung des Ortes teilzunehmen und Arbeitskräfte für Gemeinschaftsaufgaben wie die Instandhaltung der Brücken bereitzustellen. Dafür hatten sie, im Gegensatz zu den Bauern, das Recht, den Ort jederzeit zu verlassen und sich anderswo anzusiedeln. Ein Spruch lautet, dass Polen der „Himmel für die Adeligen, das Purgatorium für die Bürger, die Hölle für die Bauern und das Paradies für die Juden“ war.

4.-lehrhaus-ende-18.-jahrhundert.-foto-sokoloff.jpg

Das Lehrhaus, Ende 18. Jahrhundert.

Niedergang

Um 1700 lebten ungefähr 2.000 Juden und genauso viele Christen in Tykocin. Im Grossen Nordischen Krieg, der zu dieser Zeit begann, wurde der Ort teilweise ein Opfer der Flammen. Es folgten Plünderungen und Epidemien. Es gab so viele Tote, dass man kaum alle ordentlich begraben konnte. Die wohlhabende Branicki-Adelsfamilie verlagerte das Zentrum ihrer Tätigkeit in den 20 Kilometer entfernten Ort Bialystok, was Tykocins Niedergang beschleunigte.

In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam es zu Auseinandersetzungen zwischen polnischen und litauischen Juden in Tykocin. Die polnische Fraktion behauptete, ihre litauischen Glaubensbrüder hätten Christen zwangsweise zum Judentum bekehrt. Die Beschuldigungen erwiesen sich als falsch und wurden nach einem langen Verhör zurückgewiesen.

1772 bis 1795 folgte die Aufteilung von Polen zwischen Russland, Preussen und Österreich. Als Tykocin zum Teil des Russischen Reichs wurde, büssten die Juden ihre Privilegien ein. Sie waren nun nicht mehr als Vermittler zwischen Adeligen und Bauernschaft gefragt, ausserdem verloren traditionelle jüdische Handwerker infolge der Industrialisierung an Bedeutung. Viele Juden verarmten und wanderten ab.

 

Unabhängigkeit

1918 erlangte Polen wieder die Unabhängigkeit. In weiterer Folge gründeten Tykocins Juden karitative Organisationen, Bildungseinrichtungen und sogar Kibbuzim in der Nähe des Ortes. Ein Teil der israelitischen Bevölkerung wanderte nach Palästina aus, weil die Briten ihnen versprochen hatten, dort einen jüdischen Staat gründen zu dürfen. Der Stadtteil von Tel Aviv, wo sie sich niederliessen, nannte man den Tykocin-Bezirk.

 

Holocaust

Nur 20 von Tykocins 1.500 Juden überlebten die Nazizeit. Im August 1941 ermordeten die Deutschen 1.400 Hebräer in einem nahegelegenen Wald. Später verwandelten die sowjetischen „Befreier“ die Synagoge in einen Pferdestall, und 1964 verwüstete ein Feuer den jüdischen Teil des Ortes.

Inzwischen hat man die Schäden beseitigt. Die Synagoge, nun ein Museum, strahlt wie in früheren Zeiten. Sie wurde 2013 vom National Geographic Traveler Magazin als eines der „7 neuen Wunder von Polen“ bewertet. Der Besucher bestaunt vor allem den reich ornamentierten Toraschrein und die Kanzel (Bima). Das Geo-Magazin zählt das sorgfältig restaurierte Tykocin zu Polens sieben schönsten Kleinstädten.

5.-fotomontage-der-im-holocaust-ermordeten-juden.-foto-sokoloff.jpg

Fotomontage der im Holocaust ermordeten Juden.

Praktische Hinweise

Verkehrsverbindungen

Tykocin befindet sich 179 Kilometer östlich von Warschau entfernt. Eine Autobahn verbindet beide Orte miteinander. Per Zug erreicht man Bialystok und fährt weiter mit Bus oder Taxi 20 Kilometer nach Tykocin.

Besichtigung

  1. Synagoge: Der Audio-Guide (auf Englisch oder Polnisch) ist ausgezeichnet. Allerdings fehlen deutschsprachige Informationen. Tel. 0048-509-33 6597.
  2. Museum im nahegelegenen „Lehrhaus“, einem Gebäude aus dem späten 18. Jahrhundert.
  3. Führungen durch den Ort sind beinahe unmöglich zu organisieren. Allerdings lohnt sich ein Spaziergang durch den ehemaligen jüdischen Ortsteil in der Umgebung der Synagoge. Die Häuser dort sind sorgfältig restauriert.
  4. Der jüdische Friedhof am Ortsrand. Davon sind nur kärgliche Reste übriggeblieben. Die wenigen Grabsteine sind mit Flechten überwuchert, die Inschriften kaum noch lesbar. Dennoch zeigen einige Grabkerzen, dass man die tragischen Ereignisse nicht vergessen hat.
  5. Denkmäler am Ort des Massakers im Wald bei Lopuchowo, einige Kilometer von Tykocin entfernt. Vom Parkplatz aus nach kurzem Fussmarsch zu erreichen.
  6. Restaurant Tejsja, jüdische und polnische Spezialitäten. In der Nähe der Synagoge. Im Winter geschlossen. Tel. 0048-8571 87750.
  7. Restaurant Kiermusy, einige Kilometer von der Stadt entfernt. Typische regionale Speisen, urige Holzeinrichtung, sehr empfehlenswert. Dort stehen auch Unterkünfte zur Verfügung. Kiermusy 12, 16-080 Tykocin, Tel. 0048-8571-874 44
  8. Jüdisches Festival in Tykocin, 30.06 bis 10.07.2024

6.-altestes-judisches-haus-in-tykocin-aus-der-zwischenkriegszeit.-foto-sokoloff.jpg

Das älteste jüdische Haus in Tykocin, aus der Zwischenkriegszeit.

 

unnamed.jpg

Toraschrein an der Ostwand der Synagoge.

unnamed-1.jpg

Kanzel (Bima). Hier wird die Tora verlesen.

unnamed-2.jpg

Der jüdische Friedhof – kärgliche Reste.

unnamed-3.jpg

Platz, an dem die Nazis Tykocins Juden ermordet haben.

unnamed-4.jpg

Uriges Gasthaus „Kiermusy“.

 

Alle Abbildungen: S. Sokoloff, mit freundlicher Genehmigung.