Ausgabe

Fundsache Friedhof

Michael Bittner

Es kommt nicht oft vor, dass ein Jäger im Wald stürzt und dabei einen ganzen jüdischen Friedhof entdeckt. So geschehen in Kőröshegy in der Nähe des Plattensees.

Inhalt

Sándor Kovács, Kürschner von Beruf, stolperte auf der Pirsch und fand sich auf einem Grabstein wieder. Damit begann die Wiederentdeckung des jüdischen Friedhofs von Kőröshegy und der jüdischen Gemeinde des Ortes, der vor 1944 etwa 2.000 Einwohner zählte, davon 5 bis 10 Prozent mosaischen Glaubens.

 

Seit 1670 gab es immer wieder einzelne jüdische Bewohner, erst im 19. Jahrhundert, durch den Bau der Ziegelfabrik von Miksa Berger, wuchs die Gemeinde. Es gab drei jüdische Geschäfte, eine Synagoge, einen Schächter aber keinen Rabbiner – dazu hatte die kehile zu wenige Mitglieder. Der Friedhof wurde nach der Deportation aller jüdischen Bewohner 1944 geschlossen und geriet in Vergessenheit, heute ist der Wald gerodet und eine riesige Talbrücke der Autobahn M7 führt über das Gelände.

 

Der Jäger namens Kovács liess den Friedhof auf eigene Kosten renovieren und einzäunen, heute sitzt er im Rollstuhl und kann seinen Sehnsuchtsort nicht mehr besuchen. Die Erforschung besorgte Pál, ein Lehrer für Geografie und Geschichte, der in Archiven Informationen zusammentrug und Zeitzeugen befragte, auch er ist jetzt an den Rollstuhl gefesselt und kann nur noch aus der Entfernung den Friedhof begutachten.  Er zeigte uns bei unserem Besuch im August 2023, was vom jüdischen Leben von damals übriggeblieben ist. Das Geschäft Frank wurde 1936 zugesperrt und der Rollbalken blieb bis heute unten. Das Haus, fünfhundert Quadratmeter gross, wurde samt der Synagoge an ein junges Ehepaar aus Budapest verkauft, die es renovieren wollen. Sie mochten uns nicht hineinlassen: vielleicht, meinten sie, wenn wir nach der Renovierung wiederkommen.

 

Die Franks hatten Glück und entkamen der Shoah durch Auswanderung, im Gegensatz zu den allermeisten anderen Gemeindemitgliedern, die nach Auschwitz deportiert wurden. Hier hörte ich dieselbe „Wandersage“ wieder, die mir schon aus dem Burgenland geläufig ist: „Die Leute aus unserem Dorf waren das nicht, sie waren entsetzt, wie brutal die Schergen vorgegangen sind; das waren Männer aus dem nächsten Dorf.“ Dieselbe Geschichte musste ich ein paar Tage später in Kobersdorf (ungar. Kabold, kroat. Kobrštof) wieder hören. Mit dem Gedenken an die Shoah ist es hier aber nicht so weit her wie im Burgenland, wo es viele würdige Erinnerungsorte gibt. In der Ortsmitte von Kőröshegy gibt es ein Mahnmal, wo der „Opfer der Weltkriege“ gedacht wird: Honvéd, Wehrmachtssoldat, Pfeilkreuzler (ungar. nyilas) und Opfer der Shoah – alle in einem Topf. 

 

Beim Lokalaugenschein – nach einer Irrfahrt zwischen Privatgrund-Betreten-Verboten-Schildern, Baustellen und Brückenpfeilern – lag ein sehr schön gepflegter, eingezäunter kleiner Friedhof vor uns, nicht verwachsen, keine umgestürzten Grabsteine, so schön wie ein Friedhof nur sein kann. Unsere Vizepräsidentin fand ihre Verwandten, die Besitzer der Ziegelfabrik, und Herr Pál erlebte eine riesige Überraschung – ein Mann namens György Heimlich hatte sich 2021, ohne Páls Wissen, heimlich hier begraben lassen. Pál war konsterniert, aber er versprach, uns (der neologen Kultusgemeinde von Sopron) alle Unterlagen zu schicken. Wir verabschiedeten uns herzlich aus diesem Dorf, wo 1944 die Juden ausgestorben sind und jetzt der Rest der Bevölkerung ausstirbt. Zum Abschied sagte Pál: „Glauben Sie nicht, dass hier alle Menschen mit dem Rollstuhl herumfahren“.

Alle Abbildungen: Ingrid Bittner, mit freundlicher Genehmigung.

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Jüdischer Friedhof in Kőröshegy.

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Blick über den jüdischen Friedhof in Kőröshegy.

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Das ehemalige Kaufhaus Frank und die ehemalige Synagoge in Kőröshegy.

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Das Mahnmal für Kriegsopfer in Kőröshegy.