Irina Schivolup, ehemals in Isjum (Ukraine) wohnhaft, jetzt in Israel, im Interview.
1991 begann die Wiederbelebung jüdischer Gemeinden in der Ukraine. Sie entstanden hauptsächlich aufgrund einer Begeisterung der Aktivisten der jüdischen Bewegung. In diesen Jahren wurde der Grundstein für das vollwertige jüdische Leben gelegt, das wir heute sehen. Damals wurde auf Initiative der Leiter jüdischer Gemeinden und Organisationen die Föderation der Vereinigten Jüdischen Gemeinden der Ukraine gegründet, um die Bemühungen der jüdischen Gemeinden zu koordinieren und zu vereinen. Die Föderation vereint und koordiniert ihre Aktivitäten, gründet und unterstützt Dutzende Bildungseinrichtungen, führt gross angelegte Wohltätigkeits- und Kulturveranstaltungen durch und fördert die Wiederbelebung der jüdischen spirituellen Tradition. Die Föderation leitet zusammen mit Chabad-Gesandten 179 jüdische Gemeinden. Die Wahl des ethnischen Juden Wladimir Selenskyj zum Präsidenten im Jahr 2019 mit absoluter Stimmenmehrheit änderte wenig am jüdischen Leben in der Ukraine. Der Präsident betont sein Jüdischsein nicht, ist ein säkularer Mensch und seine Kinder wurden christlich-orthodox getauft. Eine seiner wichtigen Aktionen: die Unterzeichnung des Gesetzes „Über die Verhütung und Bekämpfung des Antisemitismus in der Ukraine“ Nr. 1770-IX, das die Werchowna Rada am 22. September 2021 verabschiedete. 2023 feierte Präsident Selenskyj zusammen mit einigen Vertretern der aktiven jüdischen Gemeinde der Ukraine Rosch Haschana, das jüdische Neujahrsfest. Er traf sich mit jüdischen Führern, darunter Rabbi Meir Stambler und fast drei Dutzend anderen Rabbinern und überreichte Auszeichnungen an 15 jüdische ukrainische Militärangehörige. Während des Russisch-Ukrainischen Krieges hatten Vertreter jüdischer Organisationen und der Chabad-Bewegung die schwierige Aufgabe, jüdische Flüchtlinge zu retten und ihre Rückführung nach Israel zu erleichtern, oft unter Einsatz ihres Lebens. Unter den Flüchtlingen befanden sich auch Holocaust-Überlebende. Während des Krieges verteilten jüdische Organisationen etwa humanitäre Hilfe, darunter Lebensmittel, Hygieneartikel, Medikamente, warme Kleidung und Decken. Die Freiwilligen, die hauptsächlich aus Chabad-Abgesandten bestanden, zeigten eine beispiellose Fähigkeit, Orte zu erreichen, an die sonst niemand gegangen war.
Einer der Rabbiner der Ukraine, Moshe Reuven Asman, tritt in sozialen Netzwerken als Oberrabbiner der Ukraine auf. Der Oberrabbiner der Brodsky-Synagoge in Kiew ist einer der Gründer der jüdischen Siedlung Anatevka. Anatevka ist eine auf Kosten der jüdischen Gemeinde in der Region Kiew errichtete Siedlung, bei der es sich um ein soziales Projekt handelt – benannt nach der Siedlung aus der Kurzgeschichtensammlung Tevye the Milkman von Sholem Aleichem. Ursprünglich war sie für Flüchtlinge aus dem Osten der Ukraine gedacht. Und nach der russischen Invasion am 24. Februar 2022 strömten tausende von Kriegsflüchtlingen hierher. Die Siedlung diente vorübergehend als neue Unterkunft und Evakuierungszentrum. Jetzt gibt es hier ein humanitäres Zentrum – ein Team von Freiwilligen hilft täglich den Vertriebenen.
Ziele der russischen „Sonderoperation“ waren offiziell die „Entnazifizierung“ der Ukraine und der Schutz der russischsprachigen Bevölkerung. Dabei sind die Geschichten ukrainischer Juden, deren Leben von den „Befreiern vom Nationalsozialismus“ zerstört wurde, besonders bezeichnend. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg und der Gründung des Staates Israel tauchten zehntausende jüdische Flüchtlinge im Herzen Europas auf. In vielen europäischen Staaten wurden Lager eingerichtet, in denen Freiwillige und Gemeinden jede Art von Unterstützung leisteten: nicht nur beim Grenzübertritt, sondern auch bei der Vorbereitung der notwendigen Dokumente für die Anerkennung des Flüchtlingsstatus in Europa oder für den Umzug nach Israel. Der Hamas-Angriff auf Israel am 07.10.2023 und der darauffolgende Kriegsausbruch erfassten auch jüdische Flüchtlinge aus der Ukraine, die in Israel gelandet waren. Unter ihnen ist Irina Schivolup, eine Notarin aus der ukrainischen Stadt Isjum. Ihre Heimatstadt liegt in der Region Charkiw und hat eine Bevölkerung von etwa 50.000 Menschen. Während der russischen Invasion und der Besetzung der Stadt ab April 2022 kam es zu erheblichen Zerstörungen. In der Stadt wurden mehr als fünftausend Privathäuser und 120 Wohnblocks teilweise beschädigt oder vollständig zerstört. Im September 2022 wurde Isjum während der Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte in der Region Charkiw von ukrainischen Truppen befreit. In der Nähe wurde ein während der Besatzung angelegtes Massengrab entdeckt. Während der sechsmonatigen Besatzung starben nach Angaben der Ukraine mehr als 1.000 Einwohner.
Irina Schivolup erzählt die Geschichte ihrer dramatischen Flucht:
„Am 24. Februar 2022, um fünf Uhr morgens, rief mein Sohn aus Charkiw an und sagte, dass sie bombardiert würden. Am 25. Februar kam er zu uns nach Isjum, er dachte, dass er im Elternhaus Ruhe findet, aber am selben Tag kam es in Isjum zu Explosionen.“ Am 1. März um Mitternacht, als die Familie bereits schlief, rief mein Ehemann: „Flugzeuge!“ Die Druckwelle war so stark, dass ich durch das ganze Schlafzimmer geschleudert wurde.“
Zuerst versteckte die Familie sich im Badezimmer, dann ging sie in den Keller und floh wenig später zu Irinas Mutter, die ein eigenes Haus und einen ausgestatteten Keller hatte. Doch auch dort wurden sie jeden Tag alle anderthalb Stunden bombardiert – die Flugzeuge kamen eines nach dem anderen. Für einen Tag wurde es ruhiger und sie zogen vom Keller ins Obergeschoss. „Der Hund bellte und sofort traf ein Maschinengewehrfeuer das Treppenhaus“, wo sich in diesem Moment die ganze Familie befand: Irina, ihre Mutter, ihr Sohn, ihr Ehemann und ihr Hund:
„Ich allein habe überlebt“, sagt Irina Schivolup. „Ich habe sie geborgen, ich weiss nicht, woher die Kraft kam – mein Kopf war verletzt, voller Blut, meine Beine waren gebrochen. Mein Sohn starb in meinen Armen, wahrscheinlich an inneren Blutungen. Ich weiss nicht, warum ich überlebt habe, aber ich bin ins Haus gekrochen, habe Wasser gefunden, bin auf das Bett geklettert, habe die Jacke und die Mütze meines Sohnes angezogen und habe dort acht Tage lang gelegen. Die Wohnung hatte weder Fenster noch Dach, es herrschte Frost bei minus 10 Grad und die Raketen flogen rund um die Uhr und die Leichen meines Mannes und meines Sohnes lagen vor der Zimmertür. Ich trank Wasser und nahm ein paar Würstchen aus dem Rucksack meines Sohnes. Als ich eines Tages die Stimmen meiner Nachbarn hörte, fing ich an zu schreien. Sie zogen mich heraus, wuschen mich und brachten mich unter Beschuss in das Krankenhaus, das bereits bombardiert worden war. Im Krankenhaus war nur noch ein Chirurg übrig: Juri Kusnezow. Es gab keine Narkose. Ich erinnere mich, wie der Arzt schrie: Versuchen Sie, nicht das Bewusstsein zu verlieren, es gibt nichts, was Sie wiederbeleben könnte. Sie versorgten mich mit Verbandsresten und brachten mich in den Keller des Krankenhauses, wo ich 25 Tage lang lag“.
Haus der Familie Schivolups. Foto: Privatarchiv M. Gold, mit freundlicher Genehmigung: B. Liebermann. Quelle: https://exodus-2022.org/de
Im Keller des Krankenhauses organisierte Irina einen Kreuzworträtsel-Club:
„Zuerst kamen drei, dann fünf, acht Leute und stellten Stühle auf. Die Russen bombardierten, aber wir hatten unser eigenes Leben. Es war ablenkend – es ist beängstigend, wenn die Wände wackeln und der Verputz auf einen fällt.“
Das Labor wurde von der 82-jährigen Nachbarin Eleonora Danilovna geleitet, einer Jüdin, die während des Holocaust gerettet worden war. Sie führte einfache Blut- und Urintests durch, fast ohne Reagenzien. Bald wurden die Russen durch die aus der DVR (sogenannte Volksrepublik Donezk) Mobilisierten ersetzt. „Dem einzigen verbliebenen Arzt wurde gesagt: Wir schiessen dir jetzt in die Beine, mal sehen, was für ein Arzt du bist. Ich liege da, und einer mit einem Maschinengewehr kommt heran, den Finger am Abzug, hebt die Decke hoch und stösst mir mit dem Gewehr an das geschiente Bein“, erinnert sich Irina. Später erzählten ihre Bekannten, dass die Besatzer Wohnungen durchsuchten, Häuser öffneten und Menschen aus Kellern warfen. Wenn sie auf eine verschlossene Tür stiessen, schlugen sie das Schloss ein. Und sie plünderten: sie brachen in Garagen und Büros ein, stahlen Bürogeräte und verlangten Alkohol und Fleisch. Alles, einschliesslich Kosmetik und Unterwäsche, wurde aus Schivolups Wohnung mitgenommen. Als Freunde die Angehörigen von Irina beerdigten, begannen Russen aus einem Hubschrauber auf den Friedhof zu schiessen – hierbei wurde einem Mann der Arm abgerissen. Daraufhin wurden Mann und Sohn an anderer Stelle im Wald begraben. Den genauen Standort erfuhr sie erst ein Jahr später. Sie töteten auch eine von Irinas Freundinnen, die Gynäkologin Lydia Medinskaya, die zu Beginn des Beschusses im Keller ihr Kind zur Welt bringen sollte:
„Wie haben wir überlebt? Wir kochten über dem offenen Feuer, warfen alle Zutaten in einen Topf, einige holten Wasser, einige holten Feuerholz, andere kochten. Entfernte Verwandte fanden mich, immer noch in verletztem Zustand fast zufällig und brachten mich in ein Dorf 20 Kilometer von der Stadt entfernt. Da kein Verbandsmaterial mehr übrig war, gab mir der Arzt zwei Verbandsreste für unterwegs, mit der Empfehlung, diese nicht wegzuwerfen, sondern zu waschen und wiederzuverwenden. Am 7. April zogen Freiwillige mich auf einem Karren über den Fluss Donez und brachten mich bald zur Stadt Dnjepr. Unter Beschuss über die Hängebrücke, dann durch den Wald auf kleinen unbefestigten Wegen. Auf der anderen Seite des Flusses, nahmen uns Bekannte in Empfang. Ich sagte, sie sollen mich nur nicht auf die Stirn küssen, ich sei noch am Leben.“
Im Dnjepr-Krankenhaus wurde Irina behandelt: Ihre Ferse war gebrochen, Fleischstücke wurden herausgerissen. Drei Wochen später organisierte die „EA Sochnut“ ihre medizinische Evakuierung über Warschau nach Israel. In Israel fand Irina Unterschlupf bei Freunden, die 2014 von Donezk nach Isjum geflohen waren, in Kfar Saba. Damals hatte sie ihnen geholfen, jetzt helfen sie ihr. Solche Dinge werden nicht vergessen. In Israel erfährt sie, dass auch ihr zweites Bein gebrochen war und noch Absplitterungen darin vorhanden sind. Zuerst reagiert sie auf alle Geräusche heftig und verwechselt die Sirene eines örtlichen Krankenwagens mit einem Luftalarm, aber dann gewöhnt sie sich daran. Ende 2023 mietet sie eine kleine Wohnung in Netanya, macht ihren Abschluss in Hebräisch am Ulpan. Sie berichtet:
„Gleichzeitig erfuhr ich die Graborte/ -nummern meiner Familie und machte einen DNA-Test. Die Identifizierung dauerte lange, eine Umbettung der Angehörigen am Grab der Grossmutter war nicht möglich – alles dort war vermint. Ich musste dies in einem Bereich tun, der allen Opfern der russischen Aggression vorbehalten war. Während ich die Beerdigung organisierte, hielt ich durch, bis ich einen Nervenzusammenbruch erlitt.“
Als sie Aufnahmen vom Isjum-Friedhof gezeigt bekommt, hat Irina Angst davor, die Anzahl „ihrer“ Gräber zu sehen. Ein Zeichen der Zeit – die Angehörigen eines Freundes liegen immer noch in einem zerbombten Garten. Freunde aus einem Hebräisch-Sprachkurs helfen ihr, aus einer Depression herauszukommen und verhindern, dass sie sich in sich selbst zurückzieht. Insbesondere helfen ihr Menschen aus Moskau und St. Petersburg – Menschen, die sich in Russland gut eingelebt hatten, das Land aber bewusst als Zeichen des Protests gegen die Politik des Kreml verlassen haben.
Am Morgen des 7. Oktober beginnt ein neuer Krieg. Netanya ist weit von der Kampfzone entfernt, aber Irina Schivolup hört das Summen von Drohnen, das die ungeübten Ohren ihrer Nachbarn nicht erkennen können. Sie hat das alles bereits in Isjum erlebt und sieht in der Aggression der Hamas den gleichen Stil wie beim Angriff auf die Ukraine. Von Isjum aus, und nicht nur von dort, beginnen ihre Bekannten sofort, sie anzurufen. Sie erklärt, dass man dem Krieg nicht entkommen könne, sie habe nicht die Absicht wegzulaufen und bleibe in Israel. Irina führt weiterhin ein normales Leben und gerät nicht wie andere Menschen aus der Ukraine, die den Krieg überlebt haben, in Panik:
„Manche Auswanderer, vor allem Freunde aus Russland, bekommen Panikattacken“, sagt Irina Schivolup. „Ich schreibe ihnen Nachrichten, ich rate ihnen, ruhig zu atmen und Musik zu hören, weil wir viel schrecklichere Probleme überstanden haben. In Israel funktioniert die Verteidigung gut, sodass man sich viel besser geschützt fühlt. Als wir in Isjum von den Explosionen aufwachten, wussten wir nicht, wohin wir fliehen sollten.“
Laut Irina befürchten viele in der Ukraine, dass die Aggression der Hamas die Aufmerksamkeit von der russischen Invasion ihres Landes ablenken könnte. Isjum ist inzwischen von der ukrainischen Armee befreit worden und wird wieder besiedelt; Flüchtlinge kehren nach und nach dorthin zurück. Irina Schivolup betont, dass sie sowohl an die ukrainischen Streitkräfte als auch an die IDF glaubt. Die meisten ihrer Freunde in Israel engagieren sich ehrenamtlich und spenden Geld an die IDF, was sie sehr an die Ukraine erinnert. Irina sagt:
„Es muss eine Generation vergehen, um den Russen zu verzeihen, was sie getan haben. Das Schlimmste für mich ist, allein auf dieser Welt zu sein. Hier liege ich unter einem wunderschönen Himmel, die Sterne sind wie Glühbirnen, Leuchtraketen fliegen und ich denke: Wie ist das möglich, vor fünf Minuten hattest du alles, aber jetzt hast du nichts. Ich lag da und dachte, dass ich meine Enkelkinder nie umarmen würde. Ein Teil meines Lebens wurde mir genommen, die Erinnerung an meine Vorfahren, ich hatte keine Zeit, ein einziges Foto zu machen.“
Heute ist Irina, wie sie zugibt, zwischen zwei Ländern hin- und hergerissen, und beide Hymnen – die ukrainische und die israelische – rühren sie zu Tränen. Sie gewöhnt sich sogar an ihre Narben und nennt sie lächelnd eine Erinnerung an die „russische Welt“.
Anmerkung
Die Initiative zu diesem Interview ging von Mikhail Gold, Gründer des Exodus-2022-Projekts und Chefredakteur der jüdischen Zeitung Hadashot in Kiew aus, deren Aktivitäten während des Krieges eingestellt wurden. Im Rahmen des Projekts wurden bereits rund 150 Zeugnisse jüdischer Flüchtlinge aus dem russisch-ukrainischen Krieg gesammelt.