Im Schlafzimmer meiner Eltern hängt ein Bild: eine Fotografie, um genau zu sein. Darauf ist eine ältere, in schwarz gekleidete Dame zu sehen. Am Kopf ein Häubchen, passend zu ihrem hochgeschlossenen Kleid, sitzt sie leicht lächelnd da, den sanften Blick im Profil nach links gerichtet. Der genaue Zeitpunkt der Aufnahme des Porträts kann nur geschätzt werden, es dürfte aber in etwa um 1900 entstanden sein.
Sicher ist jedenfalls, dass es nach dem Tod der Portraitierten im Jahr 1903 Teil jenes Trauer-Albums wurde, welches sich einige Generationen später immer noch im Besitz ihrer Nachfahren befindet. Der Name dieser Frau war Therese Hassan, der Tochter von Josef Israel Hassan und Marie Mirjam Eskenasy. Und sie war es, die mich dazu veranlasste, die Thematik rund um die sefardische Gemeinde Wiens, der sie zu Lebzeiten angehörte, aufzugreifen. Im Folgenden möchte ich nicht nur die Geschichte der Wiener Türkisch-Israelitischen Gemeinde behandeln, sondern diese auch anhand von konkreten Personen lebendig werden lassen.
Die Sefardim aus Sefarad
Erstmals erwähnt wurde „Sefarad“ im Buch der Propheten („Nevi’im“), genauer gesagt in Obadja 1:20.[1] Anders als heute war damals damit ein Ort in Kleinasien gemeint. Durch die jüdische Diaspora, also das Exil des jüdischen Volkes aus seiner Heimat Eretz Israel, kam es dazu, dass neben Tzarfat[2] und Ashkenaz[3] letztlich auch Sefarad eine neue geographische Bedeutung erhielt. Letzteres wurde die Bezeichnung für die heutigen Länder Spanien und Portugal, bzw. die Iberische Halbinsel. Die dort ansässigen Jüdinnen und Juden wurden daraufhin zu den sogenannten Sefardim.
Von Spanien bis ins Osmanische Reich
Im Zuge der arabischen Expansion des Mittelalters begann nach dem Sieg bei Xeres de la Frontera im Jahr 711 und der darauffolgenden Eroberung des Westgotenreiches, dessen Gebiet fortan al-Andalus genannt wurde, eine Epoche, die später als „Goldenes Zeitalter“ für jüdische Kultur in Spanien bezeichnet werden sollte. Ausgehend vom Zeitpunkt der Entstehung des Kalifats von Cordoba soll es aufgrund der vergleichsweise toleranten muslimischen Herrschaft gegenüber Juden zu vielen kulturellen Schöpfungen des spanischen Judentums gekommen sein. Jedoch darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass es sowohl judenfreundliche als auch judenfeindliche Interpretationen der heiligen Schriften, abhängig vom jeweiligen Herrscher, geben konnte – unabhängig davon, ob diese nun muslimisch oder christlich geprägt waren.[4] So kam es beispielsweise im Jahr 1066 in Granada zum ersten Pogrom auf europäischem Boden, zu einem Zeitpunkt, als die Stadt zu al-Andalus, also dem islamischen Herrschaftsgebiet gehörte.
Ein Ende fand die 800 Jahre andauernde muslimische Herrschaft letztlich durch die in der Geschichtsschreibung als „Reconquista“ bezeichnete, kontinuierliche christliche Rückeroberung der Gebiete, welche 1492 vollendet wurde, nachdem der letzte muslimische Herrscher Muhammad Xll. vor den katholischen Königen Ferdinand II. und Isabella I. kapituliert hatte. Bereits drei Monate danach erliessen diese das Alhambra-Edikt, welches die Vertreibung aller Juden aus ihrem Herrschaftsgebiet vorsah, sofern diese nicht bereit waren, zum Christentum zu konvertieren. Doch besonders diese Conversos (Juden, die zum christlichen Glauben getreten waren und fortan verächtlich „Marranen“, dt. „Schweine“, genannt wurden), rückten in den Fokus der spanischen Inquisition. Um der Verfolgung zu entkommen, wanderten viele von ihnen erst nach Portugal aus, von wo jedoch rund fünf Jahre später ebenfalls die Ausweisung erfolgte. Insgesamt mussten mehr als 100.000 Jüdinnen und Juden ins Exil, wobei viele von ihnen nach Nordafrika, Holland oder Norddeutschland emigrierten; die grosse Mehrheit siedelte sich allerdings im Osmanischen Reich an: ein Umstand, der später dazu führen sollte, dass die Bezeichnung „Sefardim“ mit „Türken“ gleichgesetzt wurde, was sich besonders am Beispiel der Wiener Gemeinde veranschaulichen lässt.
Der zum Zeitpunkt der Vertreibungen regierende osmanische Sultan Bayezid II. hiess die Geflohenen in ihrer neuen Heimat willkommen. Dort war man weitgehend der Meinung, dass eine Aufnahme der Vertriebenen kulturelle, aber auchmilitärische Vorteile bringen konnte. Tatsächlich lässt sich feststellen, dass die Migration der Sefardim in etwa zur gleichen Zeit erfolgte wie die militärische Aufrüstung des osmanischen Heeres mit Feuerwaffen. Wie der Chronist Rabbi Elia Kapsali festhielt, gab es unter den Exilanten erfahrene Eisengiesser sowie Schiesspulver-Hersteller. Mit ihrer Hilfe konnten die türkischen Streitkräfte einige Siege für sich verzeichnen. Neben der Toleranz des Sultans machte aber auch die Tatsache, dass die jüdische Heimat Eretz Israel ab 1517 Teil des Osmanischen Reiches wurde, den Ort für getaufte Juden, die zu ihrem alten Glauben zurückkehren wollten, zu einem grossen Anziehungspunkt. Entlang dieser Route entstanden mit der Zeit aufblühende Gemeinden am Balkan, im Gebiet der heutigen Türkei und in Griechenland. Eine der wohl wichtigsten und grössten jüdischen Gemeinden war, neben jener in Konstantinopel, die kehile von Thessaloniki. 1492 kamen etwa 20.000 Exilanten, um sich dort anzusiedeln. Mit dem Zuzug der Sefarden wurde die lokale Wirtschaft durch Handel, erschlossene Minen und die Gründung der ersten Druckerei belebt. Das am weitesten verbreitete Kleingewerbe war jedoch der Textilhandel. Ab 1515 bezog der osmanische öffentliche Sektor fast seinen gesamten Bedarf an Textilien von Juden aus Thessaloniki. Ähnlich war es mit der jüdischen Gemeinde auf der Insel Rhodos. Die Urgrosseltern von Therese Hassan sollen ursprünglich von der kleinen Insel aus aufs Festland Richtung Belgrad gekommen sein, wo Thereses Grossvater Juda geboren wurde. Im vormaligen Textilwarengeschäft der Familie Hassan auf dem Marktplatz, in der heutigen Altstadt, befindet sich nun ein Souvenirshop. Das Handwerk der Textilherstellung dürfte die Familie jedoch mit nach Wien genommen haben, da Juda Hassan im Jahr 1827 für weitere fünf Jahre das k.k. Privileg des Orientalischen Schneiders erteilt wurde. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits eine blühende sefardische Gemeinde in Wien.
Die Gründungslegende
Die Entstehung der sefardischen Gemeinde Wiens bzw. ihres Begründers umgibt eine Legende. Unter der Inquisition in Portugal entführten Häscher den jüdischen Moses Lopez Pereyra d’Aguilar, er wurde getauft und zum Geistlichen ausgebildet. Als Diego d’Aguilar wurde er zum Bischof ernannt und war in die Aktivitäten der Inquisition involviert. Seine Familie, welche heimlich das Judentum praktizierte, offenbarte sich ihm, nachdem seine Schwester angezeigt und zum Tod am Scheiterhaufen verurteilt wurde. Trotz seiner Bemühungen wurde diese letztlich nicht verschont, woraufhin er dem bischöflichen Palais den Rücken kehrte und mit einer kleinen Schar Sefardim nach Österreich floh. Ein Amulett, welches ihm Maria Theresia während eines Spanienbesuchs gegeben hatte, nahm er mit auf diese Reise. Angekommen in Wien, wurde ihm nicht nur Asyl gewährt, sondern zugleich auch alle Rechte seine angestammte Religion auszuüben gestattet. Mit dem Titel eines Hofjuden bekam er schliesslich die Pacht des österreichischen Tabakmonopols, was ihm Reichtum und Ansehen und damit eine hohe gesellschaftliche Stellung verschaffte. Mit diesem Einfluss setzte er sich regelmässig mehr oder weniger erfolgreich bei Hof für die jüdischen Gemeinden ein. Nachdem die spanische Regierung d’Aguilars Auslieferung beantragt hatte, verliess dieser Wien Richtung London, wo er 1753 starb.
Historisch gesichertes Wissen über Diego d’Aguilar gibt es kaum. Nachweislich kam er in den 1720er Jahren über Amsterdam nach Wien, denn 1723 wurde er nach Österreich berufen, um das Tabakmonopol zu reorganisieren – eine Tätigkeit, die er gemeinsam mit seinem Vater bereits in Portugal innegehabt hatte. Zum Zeitpunkt seiner Ankunft in Wien dürfte er bereits einen portugiesischen Adelstitel geführt haben, was nachvollziehbar macht, weshalb d’Aguilar sofort in den höchsten sozialen Kreisen verkehrte, wie beispielsweise mit dem Diplomaten und Financier des Kaisers, Samuel Oppenheimer. Maria Theresia soll sich insgesamt 300.000 Gulden von d’Aguilar zunutze gemacht haben, um Schloss Schönbrunn ausbauen zu lassen. Und anders als in der legendären Version seiner beschwerlichen Reise, die er allein antreten angetreten habe, nachdem seine Mutter vor Trauer um die verlorene Schwester verstorben sei, zeigt sich, dass er nachweislich einen Teil seiner Familie, inklusive seiner Mutter Sara, mitgenommen haben dürfte. Diese liegen nämlich gemeinsam mit Diegos Vater Abraham, zweien seiner Kinder sowie seinem Schwager Jakob ben Isaak Jeschurun Alvarez auf dem jüdischen Friedhof in der Seegasse begraben. Tatsächlich soll der gesamten Familie das Recht eingeräumt worden sein, ihre Religion frei auszuüben. Gleichzeitig wurde d‘Aquilar verboten, Juden anzustellen. Um den öffentlichen Frieden zu wahren, holte sich d’Aguilar einen christlichen Partner für sein Unterfangen, den Marquis Cafignani. Dies hielt ihn jedoch nicht davon ab, Assistenten jüdischer Herkunft, wie beispielsweise seinen Schwager, für sich arbeiten zu lassen.[5] Für erste religiöse Zusammentreffen soll d’Aguilar diverse Objekte aus Silber gestiftet haben, für welche er schriftlich veranlasste, dass diese im Falle der Auflösung der kleinen Gemeinschaft Wiens der Gemeinde von Temesvár (heute Timisoara, Rumänien) zugute kommen sollten.[6] Gewiss ist ebenfalls, dass es bis zu ihrer Zerstörung 1938 in der sefardischen Synagoge eine von d’Aguilar gestiftete Thora-Krone, mit der Widmung „Moshe Lopez Pereira“ sowie dem legendären Gründungsjahr „5498“ bzw. „1737/38“ versehen, gegeben haben soll. Ebenso wurde zu jedem Jom Kippur ein eigenes Gedenkgebet für den Gründer der Gemeinde gesprochen, solange der Tempel existierte. Ob die oben genannte Jahreszahl tatsächlich als gegebenes Gründungsjahr angenommen werden kann, wird inzwischen in Frage gestellt. Nachweislich versammelte d’Aguilar sehr wohl türkische Juden samt deren Dienerschaft zum gemeinsamen Gebet, trotzdem kann daraus nicht zwangsläufig eine formale Gemeindegründung abgeleitet werden. Teil dieser kleinen überschaubaren Gruppe war jedenfalls ein gewisser Naphtali Eskenasy, ein Vorfahre von Therese Hassans Mutter Marie Mirjam Eskenasy.
Die Entstehung
Bereits ab Mitte des 17. Jahrhunderts soll es Sefardim, wenn auch in geringer Anzahl, in Wien gegeben haben. Gleichsam wie die dort ansässige jüdische Bevölkerung sollen auch diese nur sehr eingeschränkte Rechte gehabt haben. Erst mit dem Frieden von Passarowitz im Jahr 1718 der zwischen dem Habsburger- sowie dem Osmanischen Reich in Kraft trat, änderte sich die Situation. Dem damaligen Sultan Ahmed III. unterstellt, genossen die sogenannten „türkischen“ Juden fortan mehr Rechte als die übrigen jüdischen Untertanen des Kaisers. Der Handel stand ihnen ebenso frei wie sämtliche Berufssparten. Im Friedensvertrag von Belgrad 1789 wurde diese Regelung erneut bestätigt, was letztlich zu einem regen Zuzug von Sefarden nach Wien führte. Bereits 1767 soll es einen Regierungsvorschlag gegeben haben, der vorsah, ein eigenes jüdisches Stadtviertel ausserhalb Wiens zu errichten, in das man auch türkische Juden, sowie Türken allgemein umsiedeln sollte, welcher allerdings wieder verworfen wurde. Letztlich kam es zu jener merkwürdigen Situation, in welcher türkische Juden sich frei in Wien aufhalten durften, während es österreichischen Juden verboten war, dort zu leben. Dies resultierte schliesslich darin, dass viele von ihnen solange ins Osmanische Reich „emigrierten“, bis sie von dort einen Pass bekamen, mit dem sie dann nach Wien zurückkehrten, um jene Vorteile türkischer Juden nutzen zu können. Vorerst wurde ein Visum mit einer Aufenthaltszeit von drei Monaten genehmigt. Maria Theresia erweiterte den Zeitraum dann auf sechs Monate. Jenen, die ihr Visum überschritten und nicht um Verlängerung ansuchten, wurde der Sonderstatus eines türkischen Subjekts aberkannt und jegliche Privilegien wurden ihnen gestrichen.[7] Aufgrund der vielen Vorteile durch diverse Friedensabkommen kam es dennoch zu einem grossen Zuzug türkischer Juden, von denen die meisten Sefardim waren. Zusätzlich ist davon auszugehen, dass sich unter den türkischen Migranten viele „Dönme“ befunden haben, welche allerdings nicht zur sefardischen Gemeinde dazugezählt werden können, da sie zwar einer kryptojüdischen, kabbalistischen Religionsgemeinschaft angehören, jedoch den Islam praktizieren. Mit der wachsenden Gemeinde wuchs schliesslich auch das Bedürfnis nach der Möglichkeit zur Ausübung des eigenen Glaubens. Aus Mangel an einem den Anforderungen entsprechenden Gebetsort wurden religiöse Treffen vorerst in Privathäusern organisiert.
Das erste Schriftstück, welches eine sefardische Gemeinde in Wien als solche dokumentiert, findet sich in den 14 Puncten von 1778. In diesen Punkten erliess die Regierung eine Regulierung für die Türkisch-israelitische Synagoge, was die konstitutionelle Basis für die sefardische Gemeinde darstellte. Gemeindeangelegenheiten wie Steuereinnahmen und die Aufgaben der Funktionäre wurden damit rechtlich fixiert. Jene oben genannte Synagoge befand sich zum besagten Zeitpunkt in der Oberen Donaustrasse, zuvor wurden die G‘ttesdienste im Haus Nr. 307 innerhalb der Stadtmauern abgehalten, der genaue Ort ist heute unbekannt. Bei einem Brand 1824 wurde das Bethaus in der Oberen Donaustrasse jedoch zerstört, woraufhin das Haus Nr. 321 (Grosse Hafnergasse) zu einer Synagoge umfunktioniert wurde. Mit dem stetigen Wachstum der Gemeinde wurde dieses Gebäude jedoch recht rasch zu klein. Durch eine Intervention des Sultans wurde schliesslich das Grundstück Nr. 401 in der Grossen Fuhrmanngasse erworben und der dort entstandene Türkische Tempel 1868 schliesslich eingeweiht. Im Jänner 1885 trat der Vorstand der Gemeinde zusammen und wählte einstimmig Marcus M. Russo zum Präsidenten. Dieser schlug aufgrund von Konstruktionsfehlern eine Demolierung der zu dem Zeitpunkt erst 17 Jahre alten Synagoge vor, um diese „den Anforderungen der Neuzeit“ entsprechend neu zu errichten. Da sich niemand gegen diesen Vorschlag aussprach, kam es am 15. Juni 1885 zur einstimmigen Genehmigung des Abrisses vonseiten des Gemeindevorstands. Bereits im November desselben Jahres fand unter Feierlichkeiten die Grundsteinlegung statt. Während dieser Zeremonie wurde jene Grundsteinurkunde verlesen, unter welche Josef J. Eskenasy, Thereses Onkel, in seiner Rolle als Vorsteher seine Unterschrift setzte.[8] Rund zwei Jahre später wurde der vom Architekten Hugo Ritter von Wiedenfeld im maurischen Stil nach Motiven der Alhambra in Spanien entworfene Prachtbau fertiggestellt. Heute erinnert nur mehr ein Lichtobjekt an das Herz der türkisch-jüdischen Gemeinde, nachdem dieses während des Novemberpogroms 1938 komplett zerstört worden war.
Eine florierende Gemeinde
Zu weiteren Gemeindeeinrichtungen gehörten neben der Beerdigungsgesellschaft (Chevra Kadischa) diverse Vereine für wohltätige Zwecke, welche unter anderem für die Einkleidung von Kindern sozial schwacher Familien sorgten oder Kranke und Alte unterstützten. Weiters gab es einen eigenen Armenfonds, den Fondo de los Desfavorecidos und einen Gesangsverein Schir Ha-kawod. In den 1880er Jahren stiftete der Bankier Menachem Elias aus Bukarest die Ganztagsschule Midrasch Elijahu in der Novaragasse 29. Lehrer an dieser Schule wurde unter anderem David Alkalay, welcher den ersten Zionistenverein Serbiens gründete und später als Präsident des Zionistischen Landesverbandes Jugoslawiens wirkte.[9]
Aufgrund eines ab 1800 erlassenen Importverbots hebräischer Bücher erlebten hebräische Buchdruckereien fortan einen Aufschwung.[10] Joseph Hraschanzky war bereits ab 1791 als k.k. privilegierter deutsch-und hebräischer Drucker tätig. Als er im Mai 1806 verstarb, übernahm sein Sohn Georg die Firma. Die Hrschanzkys druckten nicht nur für die Sefarden in Wien, sondern auch für die Gemeinde in Istanbul. Bedingt durch wirtschaftliche Schwierigkeiten, musste Georg letztlich das Feld räumen und es seinen Konkurrenten Joseph von Kurzbäck und Anton Schmid überlassen. Schmids Druckerei konnte aufgrund diverser sefardischer Publikationen durchaus mit Konkurrenten aus Amsterdam, Italien oder der Türkei mithalten. Gemeinsam mit dem sefardischen Rabbiner Israel Bechor Chajim gab Schmid neben Orientalika und Gebetsbüchern eine ladino-sprachige Übersetzung der Bibel heraus. Zusätzlich liessen viele sefardische Gelehrte ebenfalls in Wien drucken. Damit wurde Wien schliesslich gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein kleines, aber wichtiges Zentrum sefardischer Kultur. Besonders für den spanisch-jüdischen Ladino-Buchdruck wurde Wien zum Begriff – und das bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts. Selbst für viele der 18 zwischen 1856 und 1923 herausgegebenen Zeitschriften wie etwa El Mundo Sefardi oder El Correo de Vienna lebte das Zielpublikum unter anderem im Osmanischen Reich bzw. dann in der Türkei.
Mit der Zeit entwickelten sich verschiedenste Institutionen, welche die Erhaltung sefardischer Sprache und Kultur zum Ziel hatten. Beispielsweise die 1919 gegründete Studentenorganisation Esperanza, welche insbesondere für Ladino sprechende Juden ins Leben gerufen wurde und Anfang der 1930er Jahre nach Sarajevo übersiedelte. Oder die kulturelle Vereinigung Union Espanola, die ein Treffpunkt für Wiens Sefardim werden und gleichzeitig zur Erhaltung der sefardischen Kultur dienen sollte. Einer ihrer Promotoren war Rabbi Nissim Ovadia, der dem dreissig Jahre als Gemeinderabbiner wirkenden Rabbiner Michael Papo nachfolgte. Pauschal wurde bereits 1934 festgehalten, dass basierend auf dem Kultusgesetz nur vier Rabbiner der Gemeinde bekannt sind, darunter Ovadia und Michael Papo. Mit der Übersiedlung Ovadias nach Paris, dem viele Angehörige der Gemeinde ins Ausland folgten, dezimierte sich die Anzahl der Sefardim drastisch. Für Papos Sohn Manfred sollte der Weg in die Fussstapfen des Vaters mit Rabbiner-Ausbildung und akademischem Studium klar geebnet sein. Dieser nahm ein jähes Ende, nachdem Manfred Papo im Herbst 1938 vergeblich um ein Visum zur Einreise nach Guatemala ansuchte und schliesslich am 10. Dezember verhaftet und nach Dachau verschickt wurde. Mithilfe des Londoner sefardischen Rabbiners Chacham Gaster gelang es seiner Frau Luise Papo, eine Entlassung zu erwirken. Manfreds Mutter, sowie seine Schwester Rifka Elfriede wurden jedoch beide im September 1942 deportiert und umgebracht.
Alles unter einem Hut
Wenn man in der Friedhofs-Datenbank der Israelitischen Kultusgemeinde Wien nach „Therese Hassan“ sucht, wird man nicht fündig. Bei meiner Recherche musste ich dies mit Missfallen feststellen, bis mir einfiel, dass diese Dame einst einen Mann namens Robert Loewe heiratete und dessen Nachnamen annahm. Zum Zeitpunkt der Heirat hatte sie bereits drei Kinder, welche sie unehelich in der Wiener Gebäranstalt zur Welt brachte und später vom Vater dieser Kinder, dem oben genannten Herrn Loewe, legitimieren liess. Der Grund, warum sie ihn anfangs nicht ehelichte, so erzählten sich zumindest ihre Nachfahren, lag darin, dass die ehrwürdige Therese, Tochter einer geborenen Eskenasy, doch nicht einen einfachen Aschkenasen heiraten konnte. Diese Haltung von Seiten der Sefarden war nichts Ungewöhnliches. Aufgrund der Privilegien, die sie den Aschkenasen des Habsburgerreiches voraushatten, fühlten sich viele Mitglieder der Türkisch-Israelitischen Gemeinde diesen überlegen. Umso problematischer wurde das Verhältnis zueinander, nachdem das Israelitengesetz von 1890 vorsah, dass es fortan nur eine jüdische Vertretung in Form der Israelitischen Kultusgemeinde geben und dadurch zu einer Fusionierung der Gemeinden kommen sollte. Sowohl Aschkenasim als auch Sefardim wollten die jeweilige organisatorische Unabhängigkeit nicht aufgeben, wobei die sefardischen Repräsentanten ausdrücklich die Unterschiede zwischen den beiden Parteien aufzeigten. Eine spezielle Betonung lag dabei auf der Gründung, welche bereits 100 Jahre früher erfolgt sein sollte. Auf der anderen Seite argumentierten die aschkenasischen Vertreter mit der veränderten politischen Lage, welche dazu führte, dass viele Sefarden ihre türkische Staatsbürgerschaft verloren hatten und dementsprechend nicht mehr die bislang erhaltenen Sonderprivilegien beanspruchen dürften.[11] Eine erste Übereinkunft gab es 1909, als die türkische Gemeinde den Status einer in der Kultusgemeinde integrierten Korporation, jedoch ohne Steuerabgabe an diese, erhielt. Die volle Unabhängigkeit wurde erst wieder mit der Ausrufung der Republik hergestellt, nachdem aufgrund des Zusammenbruchs der Habsburgermonarchie auch das Unterrichtsministerium aufgelöst worden war und die sefardische Gemeinde dies als Aufhebung des Israelitengesetzes von 1890 interpretierte. Jedoch musste man 1922 wieder zum status quo ante von 1909 zurückkehren, nachdem die Republik auch die zu Zeiten der Monarchie erlassenen Religionsgesetze als bindend proklamierte. Abermals wurde den Sefarden eine Teilautonomie eingeräumt. Trotz dieser Selbstständigkeit, vor allem im Bereich der Besteuerung, blieben Streitigkeiten nicht aus.
Insgesamt kann man wohl festhalten, dass die Sefardim besonders stolz auf ihre Herkunft waren und diese kulturellen Unterschiede im Vergleich zu den Aschkenasim auch offen zur Schau stellten. Während diese sich an die weltlichen Gegebenheiten mehr und mehr anpassten, wurde im türkischen Tempel sehr stark am sefardischen Ritus festgehalten. Lange Zeit war dies die einzige grosse Synagoge Wiens ohne Chor. Erst mit dem Präsidenten Marcus M. Russo kam es zu einer Art Modernisierung. Mit Jakob Bauer als Oberkantor und Isidor Löw als zweiten Kantor wurden erstmals Aschkenasen im türkischen Tempel tätig. Grund hierfür war ein Mangel an diesbezüglich ausgebildeten Sefarden. Traditionelle sefardische Melodien wurden fortan dem westlichen Stil angepasst, ohne jedoch ihren orientalisch geprägten Hintergrund zu vernachlässigen. Dieser Stolz auf die eigene Herkunft und die dadurch fast schon angelernte Überlegenheitshaltung dürfte es wohl auch gewesen sein, die Therese Hassan dazu bewegten, etwas zu tun, das sich andere jüdische Frauen in der gleichen Position wohl nicht getraut hätten bzw. womit sie bei den zuständigen Behörden und deren antisemitischer Haltung nicht durchgekommen wären. Wie bereits zuvor erwähnt, hatte die sefardische Therese zunächst kein Interesse, den aschkenasischen Robert Loewe zu ehelichen. Die aus dieser Verbindung entstandenen Kinder waren demnach unehelich zur Welt gekommen. Als unverheiratete Frau Kinder zu gebären war im Jahr 1863 von vornherein eine problematische Situation; dabei auch noch jüdischer Herkunft zu sein, setzte dem Ganzen wohl ein ähnliches Häubchen wie jenes von Thereses Porträt auf.
Üblicherweise wurden uneheliche Kinder jüdischer Frauen in der Wiener Gebäranstalt katholisch zwangsgetauft. Gleichzeitig wurde ihnen der übliche „Empfangsschein“, der als Gegenstück zum „Kindes-Zeichen“ dienen sollte, um die Kinder den jeweiligen Müttern zuordnen zu können, verwehrt.[12] Auch Thereses Sohn, der am 17. Juni 1863 geborene Isidor, wurde im Alter von zehn Tagen zu einer katholischen Ziehmutter nach Verbócz in Ungarn gebracht. Unter normalen Umständen würde die Geschichte wohl hier enden, jedoch zeigt sich anhand des Findelhausprotokolls, dass Therese sich ihren Sohn nach sechs Wochen „gegen Revers“ wieder zurück- und aus der Findelhaus-Betreuung herausgeholt hat. Als Proselyten liess sie ihn schliesslich in die Israelitische Kultusgemeinde aufnehmen. Es war die erste Rückkehr eines im Wiener Gebärhaus geborenen und danach ins Findelhaus gebrachten jüdischen Kindes.[13] Legitimiert wurde Isidor gemeinsam mit seinen beiden Geschwistern im Jahr 1868, seine Schwester Mathilde wurde bereits als eheliches Kind in das Geburtenbuch der Israelitischen Kultusgemeinde eingetragen. Isidor Loewe sollte später einmal als Drucker bei jenem Medium angestellt sein, welches den Nachruf seines Grossonkels Josef J. Eskenasy veröffentlichte: der von Michael Etienne und Max Friedländer gegründeten Zeitung „Neue Freie Presse“, deren langjähriger Feuilletonredakteur Theodor Herzl war.
Krieg und weitere Verluste
Konkret nachvollziehbar ist die Geschichte der Sefarden aus Wien nur zwischen den Jahren 1737 und 1888. Adolf von Zemlinksy hat genau zu dieser Epoche eine eigene Broschüre angefertigt, welche von Michael Papo ins Judenspanische übersetzt wurde. Bis kurz vor seinem Tod 1918 war dieser im Türkischen Tempel in der Zirkusgasse tätig. Ebenda wurde ein weiterer wohltätiger Verein gegründet, welcher die in Armut lebenden Witwen verstorbener Frontsoldaten bei der Erziehung ihrer Kinder unterstützen sollte. Die Genehmigung zur Etablierung dieses Vereins wurde am 30. August 1918 erteilt, also noch vor Beendigung des Ersten Weltkrieges. Als die Nationalsozialisten im November 1938 den Türkischen Tempel niederbrannten, übergaben sie damit auch die Archive und damit zuverlässige Quellen über die Mitglieder der Gemeinde den Flammen. Unsere heutige, eingeschränkte Wahrnehmung ihrer Aktivitäten lässt sich auf den ausgeprägten Eigenwillen zur Selbstbestimmung der sefardischen Gemeinde zurückführen, durch welchen sie sich 1909 unter anderem das Recht auf eine eigene Matrikenbuch-Führung erkämpft hatten. All diese Matrikenbücher mit detaillierten Auskünften bezüglich Geburten, Trauungen und Sterbedaten der Sefarden sind durch den Brand des Tempels zerstört worden, ebenso wie wertvolle Informationen betreffend die Grabzuteilungen auf Friedhöfen. Berichterstatter mussten sich daraufhin auf die Erinnerung der Zeitgenossen über die Zeit ab 1888 verlassen.[14] Einzig die Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde, welche im Stadttempel in der Seitenstettengasse lagerten, existieren noch heute, da die Nationalsozialisten diesen aufgrund der baulichen Gegebenheiten nicht zerstören konnten.
Nachweislich war das letzte grosse Ereignis in der sefardischen Gemeinde die Feier zum 800. Geburtstag von Maimonides im Jahre 1935, ehe sich Österreich dem Deutschen Reich anschloss. Formell wurde die Gemeinde 1939 aufgelöst, ihre ehemaligen Mitglieder wurden zwangsweise in sogenannten Sammelwohnungen untergebracht. Jene Sefardim, die Wien nicht mehr rechtzeitig verlassen konnten, wurden schliesslich nach Dachau deportiert. Nach der Shoah kehrten nur wenige ehemalige Gemeindemitglieder zurück. Überhaupt gibt es vonseiten der heutigen sefardischen Gemeinde keine historische Anbindung an die Exilanten, die einst von der Iberischen Halbinsel ihren Weg nach Wien gefunden hatten.[15] Ab den 1970er Jahren kamen viele jüdische Menschen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens. Diese waren grossteils Aschkenasen oder aber Mizrachi aus Georgien und Buchara, welche dem sefardischen Ritus folgen und sich selbst dadurch als Sefarden definieren. Heute zählen bereits wieder fünf Synagogen, diverse Vereine und Organisationen, sowie ein Sefardisches Zentrum, welches auf dem Grund des ehemaligen Leopoldstädter Tempels in der Tempelgasse liegt, zu den Errungenschaften der Nachkriegszeit. Letztendlich jedoch blieb von der einst florierenden sefardischen Gemeinde nichts übrig. Die Reste des Türkischen Tempels wurden abgerissen; inzwischen steht an seiner Stelle ein Wohnhaus der Stadt Wien, an dessen Hausmauer seit 1988 eine Gedenktafel an die Synagoge erinnert.
Im Schlafzimmer meiner Eltern hängt ein Bild, eine Fotografie, um genau zu sein. Darauf zu sehen ist eine Dame, die einer Frau in ihren Siebzigern aus New Jersey recht ähnlich sieht. Das gleiche Lächeln, den selben sanften Blick, konnte ich bei Tante Pegs Besuch 2013 wiederfinden. Vielleicht liegt es daran, dass Wien diese Reaktion einfach in uns allen hervorruft, vielleicht hat es aber auch damit zu tun, dass Tante Peg eigentlich Rebecca Braun heisst und Therese Hassan ihre Urgrossmutter war. Das Porträt allerdings stammt wiederum aus dem Besitz ihres Cousins David in Australien. Auch er ist bereits nach Wien gekommen, um die hier verbliebene „Mischpoche“ zu besuchen, der Ahnenforschung sei Dank. Therese Hassan wurde für mich zur Symbolfigur der türkisch jüdischen Gemeinde, einer Gemeinde, die aufgrund ihrer aufregenden Vorgeschichte schliesslich in Ruhezeiten zu Höchstleistungen fähig war. Was ihre Mitglieder zu Aussenstehenden machte, gab ihnen innere Stärke. Im Angesicht der Inquisition lebten sie ihre Religion im Geheimen aus, als man sie zur Taufe zwingen wollte, gingen sie erhobenen Hauptes ins Exil, gemeinsame Kultur, Sprache und Religion stets im Handgepäck, und sie bewahrten sich diese über Jahrhunderte, sodass nichts davon jemals an Glanz verlor. Wo auch immer es sie hin verschlug, sie machten das Beste daraus. Und selbst in aussichtslosen Situationen erinnerte man sich einfach daran, wer man war und holte, wie in Thereses Fall, sein Kind aus Ungarn einfach zurück nach Hause. Wie das jüdische Volk im Allgemeinen, haben die Sefarden im Besonderen stets aufeinander geachtet: und genau aus diesem Grund hängt Thereses Bild nun wachsam über allen anderen; um auf uns zu schauen.
Nachlese
Michael Haléy: Wie Wien zu seinen Sefarden kam. In. DAVID Heft 84, Pessach 2010. Link: https://davidkultur.at/artikel/wie-wien-zu-seinen-sefarden-kam
Michael Halévy: Sefarad an der Donau. In: DAVID, Heft 82, Rosch Haschana 2009, link: https://davidkultur.at/artikel/sefarad-an-der-donau
Michael Halévy: Mehr als eine Vorlage. In: DAVID, Heft 85, Sommer 2010, link: https://davidkultur.at/artikel/mehr-als-eine-vorlage
Michael Haléy: Ein vergeblicher Versuch. In: DAVID, Heft 91, Chanukka 2011, link: https://davidkultur.at/artikel/ein-vergeblicher-versuch
Michael Haléy: Shem Tov Semo. In: DAVID, Heft 83, Chanukka 2009, link: https://davidkultur.at/artikel/shem-tov-semo
Porträt von Therese Löwe. Quelle: David Laufer, mit freundlicher Genehmigung: E. Esterle.
Parte aus dem Trauer Album. Quelle: Nachlass Herbert Skopik, mit freundlicher Genehmigung: E. Esterle.
Blick auf die Nordseite des ehemaligen Marktplatzes im jüdischen Viertel „La Juderia“ von Rhodos. Quelle: rhodesjewishmuseum.org
[1] „Und die Weggeführten dieses Heeres von den Kindern Israel, die unter den Kenaanim bis Zarfat, und die Weggeführten Jeruschalajims, die in Sefarad wohnen, sollen die Städte des Südens einnehmen.“
[2] Frankreich
[3] Deutschland
[4] Vgl. Brenner Michael, „Kleine Jüdische Geschichte“, S.88.
[5] Vgl. Gelber N.M. „The Sefardic Community in Vienna“, S. 361.
[6] Vgl. Gelber N.M. „The Sefardic Community in Vienna“, S.362.
[7] Vgl. Gelber N. M. „The Sefardic Community in Vienna“, S. 359.
[8] Vgl. v. Zemlinksy, Adolf, „Geschichte der türkisch-israelitischen Gemeinde zu Wien“, S. 11.
[9] Gaisbauer Adolf, Davidstern und Doppeladler, Wien 1988, S. 45.
[10] Vgl. JMW (Hg.) „Die Türken in Wien“, S. 98.
[11] The Sefardic Community in Vienna, S. 378.
[12] Vgl. Magazin Wien Museum, „Das Wiener Findelhaus zwischen Anspruch und Realität“
[13]Vgl. Staudacher Anna L. „Wegen jüdischer Religion - Findelhaus“ Zwangstaufen in Wien 1816-1868, S. 157.
[14] Vgl. Allerhand Jacob, „Die sefardische Diaspora im Osmanischen Reich und die Sefardisch-türkische Gemeinde in Wien“ in „Auf den Spuren der Osmanen in der österreichischen Geschichte“, S.23.
[15] Vgl. JMW (Hg.), „Die Türken in Wien“, S.186.