Im Nachlass von Marie Luise von Motesiczky, der in der Tate Gallery aufbewahrt wird, findet sich ein Foto aus dem Jahr 1894, welches ihre Grossmutter Anna von Lieben aufgehoben hat. Das Foto aus dem Besitz von Anna von Lieben zeigt ein Denkmal auf dem Weg zum Schloss von Nagyvázsony in Ungarn, nahe des Plattensees.[i]
Das Foto erinnerte Anna von Lieben an ihren Grossonkel Hermann von Todesko (1849–1876), den viel zu früh verstorbenen Sohn des Patriarchen Eduard von Todesko. Eduard hatte die Herrschaft Nagyvázsony von einem bankrotten Aristokraten gekauft und ein Gestüt betrieben, doch interessierte er sich nicht sehr dafür. Hermann war 1872 bei einem Unfall lebensgefährlich verletzt worden und seither rekonvaleszent, die Reise hierher zum Familiengut überlebte er nicht[1].
Wenn man heute in den Ort kommt, sucht man das Denkmal für Hermann Todesko vergebens. Das Schloss steht noch, es ist zumindest aussen renoviert und man kann es für Hochzeiten mieten, unter der angegebenen Telefonnummer geht leider niemand an den Apparat. Den auf dem Foto abgebildeten Weg gibt es auch noch, doch vergebens blieb die Suche nach dem Gedenkstein. Ebenso ist die Gedenktafel der Familie von Lieben verschwunden, die hier eine Schule gestiftet hatte.[2]
Ein paar hundert Meter weiter geht es zum jüdischen Friedhof in der Új utca, am Ortsende links abbiegen und in der schmalen Gasse, die nur aus wenigen Einfamilienhäusern und Grünparzellen besteht, mit der Suche beginnen. Erste Versuche waren nicht erfolgreich, Hunde bellten, doch die Gartentore blieben geschlossen. Ein Ortsbewohner, der nahe der Strasse am Feld arbeitete, behauptete, er sei taub, als er vom jüdischen Friedhof hörte. Zur Bestätigung drehte er uns den Rücken zu. Wieder zurück zum Schloss, erneuter Anruf beim Gemeindeamt, ein Feldweg wurde schliesslich gefunden und an dessen Ende ein Englisch sprechender Mann, der uns den rechten Weg erklärte, denn es gibt kein Hinweisschild, so wie in allen Ortschaften im Bereich des Balatons, die ich besuchen konnte.
Dann standen wir vor einer neuen Mauer aus rötlichen Bruchsteinen, das schmiedeeiserne Tor war offen, der kleine Friedhof mit etwa 100 Grabsteinen präsentierte sich sehr schön gepflegt und in gutem Zustand. Die Steine stammen aus dem 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, die Reihen sind durch Familiengräber unterbrochen, es gibt ein improvisiertes, neues Grabhäuschen für einen Rabbiner und eine Abteilung für Kinder und für Frauen, die im Kindbett gestorben sind. Die meisten Grabsteine sind Stecksteine ohne Fundamentierung, viele bestehen aus rotem Marmor und sind daher noch gut lesbar, fast alle sind nach Osten, nach Jerusalem hin, ausgerichtet. In der Mitte ein grosser Gedenkstein aus Granit mit den Namen der Opfer der Shoah, die zwischen 1942 und 1945 von hier deportiert und ermordet worden sind. Männer, Frauen, Kinder, fast alle tragen deutsche Namen. Obwohl es ein trauriger Ort ist, macht es Freude, dieses positive Beispiel für den Umgang mit dem jüdischen Erbe zu entdecken.
Warum alles hier so ist, wie es ist, erfahren wir dann im Gemeindeamt, zwei sehr freundliche Beamte klären uns auf. Einer ist besonders kompetent, da er der Sohn des Lokalhistorikers ist und seinen Vater anruft, um uns Auskünfte geben zu können. Das Wunder des gepflegten Friedhofs erklärt sich hier – MAZSIHISZ, der Dachverband des Neologen Judentums,[3] liess die Mauer errichten und pflegt die Anlage, aber die Gemeinde tut auch etwas, sie mäht den kleinen Vorplatz.
Die Synagoge, erfahren wir, ist schon lange verschwunden. Die Stiftungstafel der Familide Lieben und der Gedenkstein für Hermann Todesko ebenfalls, und hier sagt mein Informant den interessanten Satz: „Wissen Sie, die Todeskos waren hier nicht so beliebt.“ Es dürfte die mangelnde Beliebtheit aber nicht nur die Todeskos, sondern die gesamte jüdische Bevölkerung betroffen haben. 48 Namen listet das Mahnmal auf dem Friedhof auf, wie in den anderen Landgemeinden Ungarns war die Vernichtung eine totale,[4] kaum jemand kehrte in seinen Heimatort zurück, man versichert uns auch im Gemeindeamt, dass es heute im Dorf keine Juden mehr gäbe.
Verschwunden ist auch eine Gedenktafel im Gemeindeamt, die erst 2007 installiert worden war. Hier wurde Teddy Kollek[5] gewürdigt, ein Kind dieses Dorfes, in Wien aufgewachsen, der spätere Bürgermeister von Jerusalem, der etliche Einwohner des Ortes vor der Deportation gerettet hatte. Leider wurde die Tafel vor kurzem bei Bauarbeiten – man hat eine Mauer gedämmt – abgenommen, und dann „vergessen“. Niemand weiss, wo sie hingekommen ist. Glücklich ist, wer vergisst.
Nagyvázsony 1894. Foto: Archiv M. Bittner, mit freundlicher Genehmigung.
Nagyvázsony 2023. Foto: I. Bittner, mit freundlicher Genehmigung.
Friedhof Nagyvázsony 2023. Foto: I. Bittner, mit freundlicher Genehmigung.
Gedenkstein Nagyvázsony 2023. Foto: I. Bittner, mit freundlicher Genehmigung.
Kindergrab Nagyvázsony 2023. Foto: I. Bittner, mit freundlicher Genehmigung.
Familiengräber Nagyvázsony 2023. Foto: I. Bittner, mit freundlicher Genehmigung.
[1] https://austria-forum.org/af/Wissenssammlungen/Essays/Historisches_von_Graupp/TODESCO abgerufen 29.08.2023
[2] https://vandorgyules.ekmk.hu/Emlekhelyek/h_130001.html abgerufen 31.08.2023
[3] https://mazsihisz.hu/ abgerufen 29.08.2023
[4] https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/voelkermord/deportation-ungarischer-juden.html abgerufen 31.08.2023
[5] https://www.israelnetz.com/der-legendaere-buergermeister-jerusalems-teddy-kollek-ist-tot/ abgerufen 29.08.2023 https://isragen.org.il/sd/vol22-3-4-2008-e.pdf S. 27 abgerufen 31.08.2023