Die Biennale von Venedig zieht traditionellerweise sogenannte Side-Events nach sich – Kunstveranstaltungen, die nicht direkt, aber doch ein bisschen mit dem Thema der Biennale etwas zu tun haben.
2024 gibt es im Arsenale Institute for Political Representation eine Ausstellung, neben der vieles auf der offiziellen Schau alt aussieht: William Kentridge zeigt sein Self Portrait as Coffee Pot am Riva delle Sette Martiri, und er diskutiert mit der Kuratorin täglich zu Mitternacht bei einem Glas Whiskey1 – leider zu spät für mich, ich wohne 100 Kilometer von Venedig entfernt. Das Lokal ist unscheinbar und sehr unprätentiös. Im kahlen, niedrigen Raum befinden sich eine Projektionsfläche, ein paar Sessel, Requisiten, Kohlezeichnungen und natürlich jene Bialetti-Mokkakanne, die der „Star“ der Filmreihe ist.
Kentridge, geboren 1955 in Johannesburg, ist einer der wichtigsten Künstler weltweit, und er ist jüdischer Abstammung. Der Sohn eines Rechtsanwalts, der sich in der Apartheid-Epoche für die Rechte der Schwarzen einsetzte, begann als Schauspieler und Regisseur am Theater, bevor er in den achtziger Jahren zum Filmkünstler wurde. Maler und Bildhauer setzten sich seit Hans Richters Versuchen in der DADA-Bewegung (1921)2 immer wieder mit dem Medium Film, besonders dem Animationsfilm, auseinander, etwa Salvador Dali (Ein andalusischer Hund, 1929),3 Alexander Calder (Circus, 1926-1931)4 oder Maria Lassnig, die eine Professur für Malerei und Trickfilm innehatte.5 Auch Kentridge bezieht sich immer wieder auf Vorbilder wie Georges Méliès (Die Reise zum Mond, 1902),6 und ich meine Dziga Vertov (Mann mit der Kamera, 1929)7 in seinen Filmen wiederzufinden.
Seinen unverwechselbaren Stil entwickelte Kentridge, indem er Zeichentalent mit Filmtechnik kombinierte: aus grossformatigen Kohlezeichnungen, die ergänzt und radiert werden, entsteht durch Einzelbildaufnahmen ein Animationsfilm. Diese neuartige Arbeitsweise erweiterte Kentridge im Lauf der Jahrzehnte durch andere künstlerische Verfahren wie Collage, Projektion und Legetrick.8 Seinen künstlerischen Durchbruch bedeutete der Acht-Minuten-Trickfilm Felix in Exile (1994),9 der auf Kindheitserinnerungen basiert. Die Titelfigur, Felix Teitelbaum, ein Alter Ego des Künstlers, wird von Erinnerungen der Massaker an Schwarzen verfolgt, von denen der Künstler im Büro seines Vaters Fotografien gesehen hat.10 Immer wieder waren es autobiografische Sujets, die zu Vorlagen für Kentridges „Drehbücher“ wurden; für lange Zeit arbeitete er grundsätzlich allein und spontan. Durch seinen weltweiten Erfolg wurden auch die Projekte grösser und die Themen breiter gestreut, die russische Revolutionskunst oder die „Nase“ von Gogol sind Themen von Trickfilmen in Mehrfachprojektion. Statt der klassischen 16 Millimeter-Filmtechnik arbeitet heute ein Team mit Digitalvideo und Computertechnik, Kentridge fertigt aber noch selbst Zeichnungen und Objekte an und tritt neuerdings auch in seinen Filmen auf – oft im klassischen Ambiente „Künstler im Atelier“, wie es Picasso immer wieder dargestellt hat.
William Kentridge. Foto: Peter Campbell. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: http://www.greenlivingpedia.org/Image:William_Kentridge_DSC_2685.JPG, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=18694448
William Kentridge ist ein Künstler, wie ihn sich der „Mann auf der Strasse“ nicht vorstellt. Er ist konventionell gekleidet, trägt keine seltsamen Accessoires wie Kopftuch oder Brille, lebt skandalfrei und fällt nicht durch Gebrüll, dumme Ansagen oder das Verspritzen von Blut auf (wie dies hierzulande andere Künstler tun). Er hat grosses Talent, seine Werke inhaltlich zu erklären, oft mit feiner Ironie garniert. Er zeigt auch bereitwillig einige seiner Tricks; bei anderen aber lässt er den Betrachter ratlos zurück – „Wie hat Kentridge das gemacht?“ fragt sich oft auch der Filmexperte.
Zur Biennale und zur documenta wurde er je zweimal eingeladen, den Goslarer Kaiserring, den Kyoto-Preis und das Praemium Imperiale (in der Sparte Malerei!) bekam er ebenso wie zahlreiche Museumsausstellungen überall auf der Welt.11 Auch in der Albertina in Wien, wo 2010 Five Themes12 zu sehen war, eine beeindruckende Ausstellung der technischen und inhaltlichen Vielfalt seiner Werke. Eine beispielhafte Künstlerkarriere, ungewöhnlich für einen Künstler aus einem Land wie Südafrika, mit Werken, die für das breite Publikum gewöhnungsbedürftig sind.
Filme von Kentridge sind nicht im Kino zu sehen, sondern in Museen und Kunstgalerien sowie im Internet. Wird er jemals einen Oscar bekommen? Ich vermute nein, obwohl es bei den Academy Awards in der Sparte „Kurzfilm“ immer wieder Überraschungen gibt. Womit verdient Kentridge dann sein Geld? Er wirft die Zeichnungen und Objekte aus der Filmproduktion nicht weg,13 sondern verkauft sie über Galerien und Auktionshäuser wie Christie‘s, seine Werke gehören zu den teuersten seines Heimatlandes. Dazu bringen die Lizenzgebühren für DVD‘s (eine aussterbende Gattung) etwas, mehr aber die Streaming-Rechte, die bei Internet-Diensten wie Mubi begehrt sind. Ein grosser Schritt in Richtung Popularisierung seiner Kunst, die so den Elfenbeinturm verlässt.14 Vielleicht werden dann einst die Kids über den alten weissen Mann aus Südafrika statt über Taylor Swift reden.
Ausstellung William Kentridge, Biennale, Venedig, 2024.
Ausstellungsansicht William Kentridge, Biennale, Venedig, 2024.
Ausstellungsansicht William Kentridge, Biennale, Venedig, 2024.
Ausstellung William Kentridge, Biennale, Venedig, 2024.
Anmerkungen
1 https://www.arsenale.com/, abgerufen 09.04.2024.
2 https://www.moma.org/collection/works/398276, abgerufen 02.05.2024.
3 https://de.wikipedia.org/wiki/Ein_andalusischer_Hund, abgerufen 02.05.2024.
4 https://calder.org/works/unusual-project/cirque-calder-1926-1931/, abgerufen 02.05.2024.
5 https://www.sixpackfilm.com/de/catalogue/filmmaker/119/, abgerufen 02.05.2024.
6 https://www.moviepilot.de/movies/die-reise-zum-mond--3, abgerufen 02.05.2024.
7 https://www.filmmuseum.at/sammlungen/filmsammlung_und_restaurierung/filmrestaurierung/2010-2011/elovek_s_kinoapparatom, abgerufen 02.05.2024.
8 Vgl. seine Instagram-Seite https://www.instagram.com/williamkentridgestudio/, abgerufen 09.04.2024.
9 http://www.medienkunstnetz.de/werke/felix-in-exile/, abgerufen 02.05.2024.
10 https://www.guggenheim.org/artwork/9422, abgerufen 09.04.2024.
11 https://de.wikipedia.org/wiki/William_Kentridge, abgerufen 02.05.2024.
12 Rosenthal, Mark (Hg.), William Kentridge. Fünf Themen. Mit DVD). Albertina, Wien; Hatje Cantz, Ostfildern 2010.
13 Wie dies beispielsweise der deutsche Künstler Thomas Demand tut; https://www.deutschlandfunkkultur.de/kuenstler-thomas-demand-warum-fotografieren-sie-102.html, abgerufen 02.05.2024.
14 https://www.artnet.de/k%C3%BCnstler/william-kentridge/; https://www.christies.com/en/artists/william-kentridge?lotavailability=All&sortby=relevance; https://www.aol.com/entertainment/mubi-takes-global-streaming-rights-140442263html?guccounter=1&gucereferrer=aHR0cHM6Ly93d3cuZ29vZ2xlLmNvbS8&guce_referrer_sig=AQAAAIJiM95UhnyxVuv7AUihXoid0Fv4jtIiH79IbJ7qjHmQp8KuUCSSveQSPV4mxOaLAbWZB7CevT5By0STZAaaj4cLjPERGz1P5YprdvhO8pJD73EuYizutcXcqIV1dTyKVfztiRHyKp8l8f8KpHtK1fPfUU5iRaVtvxFquVZPKRs, abgerufen 09.04.2024.
Abbildungen: Ingrid Bittner, mit freundlicher Genehmigung.