Eine eindrückliche Ausstellung des Museum of London, situiert in dessen Aussenstelle, einem historischen Lagerhaus in den Docklands, zeigte unter dem Titel „Fashion City“ den prägenden Einfluss jüdischer Schneider, Couturiers und Mode-Unternehmer auf die international bedeutende Mode-Metropole London.
Im 20. Jahrhundert war London ein globales Zentrum der Textilherstellung; von hier aus wurden die wichtigsten Modetrends lanciert. Unter den rund 100.000 jüdischen Einwanderern der Jahre 1881 bis 1914 der Stadt fanden rund sechzig Prozent in der Mode- oder Accessoire-Branche Beschäftigung. London war die Hauptstadt luxuriöser Modelle und kostbarer Textilien (Stichwort: Jermyn Street), wurde aber auch für seine frechen, unkonventionellen Trends legendär (Stichwort: Carnaby Street).
Marks&Spencer, Moss Bros, Cecil Gee, Bellville Sassoon
Jüdische Couturiers entwickelten sich rasch zu Pionieren innovativer Designs und neuer Techniken in der Textilbranche; ohne die jüdischen Schneider und Designer wäre deren Entwicklung kaum denkbar gewesen. Von kleinen Ateliers für „bespoke“ Mass-Anfertigung bis hin zur Massenproduktion für die grossen Warenhäuser und Modeketten – der Name der bedeutenden, erfolgreichen Mode-Kette Marks & Spencer ist ebenso ein Begriff wie das an vielen Standorten präsente, top-elegante Herrenmodengeschäft Moss Bros, der flamboyante Mr. Fish, wie Cecil Gee oder Bellville Sassoon.
Noch im 17. und 18. Jahrhundert waren Juden, wie anderswo auch, von bestimmten Berufssparten wie Medizin und Recht ausgeschlossen gewesen. Deshalb fanden viele von ihnen eine Nische im Gebrauchtwaren-Textilhandel. Sie öffneten winzige Nähstuben und Geschäfte: Das war der Anfang der auch heute noch beliebten, aber sehr bescheidenen Strassenmärkte Houndsditch und Petticoat Lane im ärmlichen East End – der ersten Anlaufstelle für mittellose jüdische Einwanderer aus Osteuropa, von wo sie vor Antisemitismus und Pogromen geflohen waren. Im 19. Jahrhundert wurden die antijüdischen Restriktionen allmählich aufgehoben, und viele jüdische Textilunternehmen und Geschäfte belieferten bereits eine wohlhabende Klientel in ganz London mit Modeartikeln, Kleidern und Anzügen.
Die Ausstellung im East India Dock (heute Museum of London) im East End.
Jüdische Schulen im East End unterrichteten zusätzlich zu dem in christlichen Schulen üblichen Curriculum, neben Hebräisch und der Thora, auch praktische Kenntnisse, vor allem im Textilbereich, und vermittelten anschliessend Lehrstellen. Zusätzlich brachten viele Immigranten und Flüchtlinge aus dem sprichwörtlichen „Schtetl“ handwerkliche Kompetenzen als Schneider mit. Mit ihren leistbaren Produkten revolutionierten die jüdischen Schneider in der Folge gleichsam den Mode-Markt, und zwar dank neuer, rationeller Produktionsmethoden. Das Schneiderhandwerk war die wichtigste Aktivität der jüdischen Bewohner des East End: 1901 arbeiteten noch vierzig Prozent der jüdischen Männer und fünfzig Prozent der Frauen im Textil- und Schneidereigewerbe. Die Eröffnung der U-Bahnstation Oxford Circus schuf gleichsam über Nacht die Verbindung zwischen dem bescheidenen East End und dem West End mit den grossen, mondänen Einkaufsstrassen Oxford Street und Regent Street. Das jüdische Textilgewerbe begann in eine neue Dimension zu expandieren. Parallel dazu fand ein sozialer Aufstieg der jüdischen Londoner Bevölkerung statt. Im East End hingegen begannen sich nunmehr wieder neue Einwanderer, namentlich aus Bangladesch, anzusiedeln.
Das ärmliche Londoner East End in der Zwischenkriegszeit.
Von Second Hand und Strassenmärkten zur Modekette
Ein Mann namens Moses Moses alias Moses Moss eröffnete 1860 nahe dem Bahnhof King’s Cross ein Second Hand-Textilgeschäft mit Waren von den bescheidenen Märkten im East End. Schon 1881 konnte der tüchtige Geschäftsmann einen Textilladen im schicken Covent Garden-Viertel eröffnen. Dreizehn Jahre später ging das Geschäft über an seine Söhne Alfred und George Moss. Diese nannten es „Moss Bros.“ – einer der berühmtesten und elegantesten Herrenausstatter Englands war geboren.
Beengte Verhältnisse in einer jüdischen Schneiderwerkstatt im Londoner East End, Zwischenkriegszeit.
Der 1859 in Slonim, Belarus, geborene jüdische Einwanderer Michael Marks baute 1884 seinen kleinen Stand am Kirgate Markt der nördlichen Stadt Leeds mit dem Slogan auf: „Don’t ask the price, it’s a penny“ („Frag nicht nach dem Preis, er beträgt einen Penny") – und legte damit den Grundstein für einen britische Legende der Modebranche. Nach seinem Tod im Jahr 1907 wurde die Firma Marks&Spencer gegründet. M&S wurde zum Inbegriff für Mode auf der britischen „High Street“. Schon 1926 wurde überaus erfolgreich der Sektor Damenwäsche lanciert – und stolz proklamiert M&S heute, dass eine von drei britischen Frauen Büstenhalter von Marks& Spencer trägt.
Carnaby Street und Dianas Umstandskleid
An der legendären Carnaby Street der „tollen Sechzigerjahre“ gehörten mehr als die Hälfte der Modegeschäfte jüdischen Designern. Als sich der Szene-Schwerpunkt nach Westen verlagerte, stand während sechs Jahren der exzentrische jüdische Modedesigner Michael Fish an der Clifford Street, im exklusiven Mayfair, im Rampenlicht. Legendär waren seine
knallbunten, breiten (und praktisch unerschwinglichen) „Fisch-Krawatten“, die Bezeichnung „Kipper Ties“ (von kipper, dt. Bückling, Räucherhering) spielte dabei auf den Namen ihres Schöpfers an. Ein gewisser Sasha Goldstein, Einwanderer aus Litauen des Jahres 1913, wurde zum berühmten Cecil Gee. Und der aus einer irakisch-sefardischen Familie stammende, bereits in Nord-London geborene David Sassoon wurde zum grossen Namen der gehobenen Londoner Modebranche unter dem Firmennamen Bellville Sassoon. Prinzessin Dianas bordeauxrotes Umstandskleid, gewoben aus feinster Schurwolle, das sie am 5. November 1981 bei einem Empfang in der Londoner Guildhall (dt. Zunfthaus) trug und bald darauf auch das Kleid für die Taufe des jetzigen Thronfolgers Prinz William stammten aus dem Atelier Bellville Sassoon.
Star-Couturière aus Whitechapel
Sophie Rabin verbrachte ihre Kindheit im ärmlichen Ostlondoner Immigrantenviertel Whitechapel – und wohnte in einer Synagoge, in der ihr Vater als Schammes (Synagogendiener) tätig war. Als Einwanderin aus Russland – nach der Flucht vor den dort häufigen Pogromen – sprach sie anfänglich nur Jiddisch. Sie lernte Englisch bei ihrem lediglich zwei Jahre dauernden Schulbesuch. An der Schule erhielt sie einen Preis für ihre Zeichnungen, was sie ermutigte, ihr Glück in der Ostlondoner Modebrache zu versuchen. Mit vierzehn Jahren begann sie zu arbeiten und avancierte bald zu einer der gefragtesten, berühmtesten Modeschöpferinnen Londons.
Sophie Rabin, eine der gefragtesten Modeschöpferinnen Londons, stammte aus dem Immigrantenviertel Whitechapel.
Elegante Damenmode der Couturière Sophie Rabin aus den frühen 1950er Jahren.
Der Weihnachtskatalog des Jahres 1956 von Moss Bros.
Die berühmte Kipper Tie („Heringskrawatte“) eines exzentrischen Modeschöpfers aus der Ära der Carnaby Street – heute ein kaum mehr bezahlbares Kultobjekt.
Alle Abbildungen: cer, mit freundlicher Genehmigung.