404: Not Found Elly Schlein – ein jüdischer Komet am italienischen Polithimmel? David - Jüdische Kulturzeitschrift

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Elly Schlein – ein jüdischer Komet am italienischen Polithimmel?

Michael Bittner

In Italien regieren die rechten „Fratelli d'Italia“ mit ihrer Oberschwester Giorgia Meloni an der Spitze. Sie tun es so, dass sie in den Meinungsumfragen stets an der Spitze liegen. Die Linke war nach den Misserfolgen der letzten Jahre und Querelen zwischen den Frontmännern chancenlos. Der Partito Democratico, also die Sozialisten, waren am Boden – doch dann ist Elly Schlein gestartet wie eine Rakete.

Inhalt

Dabei hatte Elly Schlein eine kleine Fehlzündung, als sie im April 2023 als Parteichefin ihr erstes Interview der Vogue gab, also dem Klassenfeind. 300 Euro pro Stunde nimmt ihre Farbberaterin für das Zusammenstellen ihrer Garderobe, verriet sie dem Hochglanzblatt.[1] Zuviel für die Genossen, vor allem die männlichen, die einer Frau, die mit einer Frau zusammenlebt, ohnehin distanziert gegenüberstehen[2]. Doch vor den Europawahlen 2024 demonstrierte die Partei Einigkeit und feierte die unermüdliche Wahlkämpferin. Ihr Instagram-Account meldete mir jeden Tag, wo sie gerade war, Hände schüttelte, Küsschen verteilte, flammende Reden hielt und sich bejubeln und betatschen liess.[3] Ich wunderte mich, dass es heute noch möglich ist, sich so unter die Menschen zu mischen, ohne Distanz, ohne kugelsichere Weste, es spricht für sie, dass sie sich das traut, in Österreich würde das nicht gut ausgehen, ein paar Eier wären das Gelindeste, was man draufbekäme.

 

Wer ist der aufgehende Anti-Meloni-Stern? Elena Ethel Schlein kam am 4. Mai 1985 in Lugano zur Welt und ist italienisch-schweizerisch-amerikanische dreifach – Staatsbürgerin. Ihre Eltern sind beide Universitätsprofessoren, die Familie des Vaters ist jüdisch, der Vater der Mutter war antifaschistischer Widerstandskämpfer. Ihr Bruder ist Mathematiker, ihre Schwester Diplomatin, man kann sie ein wenig mit den Proponenten der Sozialdemokratie vor Babler vergleichen, die für die Unterschicht eintraten, aber aus der Oberschicht stammten. Elly studierte bis 2011 in Bologna, zum Schluss machte sie Jus fertig, schon 2008 unterstützte sie die Kampagne von Barack Obama. Sie war 2014 bis 2018 Mitglied des Europaparlaments, 2020 für zwei Jahre Vizepräsidentin der Region Emilia-Romagna, daraufhin Abgeordnete des Partito Democratico (PD) in der römischen Abgeordnetenkammer. Im März 2023 gewann sie überraschend die Wahl zur Vorsitzenden ihrer Partei.[4]

 

Schleins Auftreten in der Öffentlichkeit suggeriert einen neuen Stil, sie bewegt sich sehr natürlich, spricht spontan, bedient sich keiner NLP – Maschen und missachtet das „rhetorische Fenster“, dadurch unterscheidet sie sich von den sattsam bekannten Polit-Sprechpuppen der letzten Jahrzehnte. Wenn sie einen Spin Doctor hat, dann einen guten, sie wirkt weder gedrillt noch gekünstelt. Ihre Outfits sind nicht mehr so Upper-Class wie ehedem, eine Bluse, wenn es warm ist, eventuell mit Warnjacke darüber, immer eine Hose, nicht besonders chic, und ein Herrensakko komplettieren ihre modische Erscheinung. Im Winter dachte ich, sie wollte Angela Merkel kopieren, jeden Tag eine andere Farbe, aber mittlerweile zieht sie sich merkbar ungezwungener an, einmal trug sie sogar ein rosa Jackett. Das Auftreten, die Sprache, die Kleidung – alles das steht für einen neuen Anfang, für die grosse Oppositionspartei. Wie sieht es mit den politischen Inhalten aus?

 

Im Süden nichts Neues! Arbeitsplätze, Mindestlohn, Gesundheitsversorgung, Frauenrechte, ein bisschen Umweltschutz, nichts, was der PD in den Jahren seiner Regierungsverantwortung nicht hätte verwirklichen können. Die Parolen sollen die Unzufriedenen ansprechen und zu den Urnen treiben, Menschen, die normalerweise den Wahlen fernbleiben, weil sie sich von der Politik im Stich gelassen fühlen. Bei ähnlichen Voraussetzungen wie damals fehlt, im Unterschied zu Bruno Kreisky, die Zukunftsperspektive: wir finden das ungerecht und wollen das andere nicht, aber wie soll es weitergehen? Diese Frage bleibt unbeantwortet. Vielleicht ist es eine der letzten Chancen der Linken für viele Jahre, die Vormacht der rechten Koalition zu brechen. Die Zufriedenheit mit der Regierungspolitik führt auch zu einem neuen Denken, es droht die öffentliche Meinung zu kippen: Die Abschaffung der Grundversorgung (am 1. Mai!) ist ein Geschenk für die Arbeitenden, sagt Meloni, das Publikum nickt.[5]

 

Würde Elly, die kometenhaft aufgestiegene, das Momentum des Europawahlkampfs nützen können? Es blieb abzuwarten, ob sie sich von Giuseppe Conte, dem Chef der Spasspartei Cinque Stelle lösen würde, dem sie sich anzunähern versuchte. Sie unterstützte seine russlandfreundliche Linie im Ukrainekrieg, was ihre eigenen Angeordneten verärgerte, aber Conte nicht von seinen Angriffen gegen sie abbringen konnte. Auch aus den eigenen Reihen drohte Gefahr – EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni kehrt aus Brüssel zurück und will nicht in Pension gehen – ein übermächtiger Konkurrent für Schlein, war Gentiloni doch 2016 bis 2018 Ministerpräsident.[6]

Viele Menschen strömten zu ihren Wahlveranstaltungen, sie hatte sich ein enormes Pensum auferlegt: meistens Auftritte in drei Städten pro Tag, heute in Palermo, morgen in Turin, übermorgen in der Toskana. Würde es gelingen, die übermächtige Giorgia zu übertrumpfen? Romano Prodi, der alte Herr aus Europa, sprach von einer Gefahr für die Demokratie, dass die beiden Damen als Spitzenkandidatinnen für die Europawahl aufträten, aber nicht im Traum daran dächten, ins EU-Parlament einzuziehen. Täuschung der Wähler?[7] Eine Kleinigkeit, wenn man den Respekt der EU-Mächtigen vor Wahlergebnissen in der Vergangenheit kennengelernt hat[8].

 

Der neue jüdische Komet – macht er auch jüdische Politik? Elly Schlein agiert pro-Israel (für eine linke Parteichefin heute heroisch), aber das tut Meloni auch. Ansonsten merkt man kaum etwas, keine Witze, keine Pause am Schabbat, keine besonderen Hinweise auf jüdische Themen. Und der Antisemitismus? Schlein spielt ihre jüdische Herkunft herunter. Ihre Nase sei „etruskisch“, nicht jüdisch, meinte sie in einem Interview.[9] Eine interessante Interpretation, angesichts des latenten Antisemitismus aber verständlich. In den Kommentaren zu ihren Wahlreden auf Instagram mischten sich immer wieder gehässige Bemerkungen über Gaza, „Genozid“ und andere grün- kommunistische Floskeln, die wir aus dem unseligen „Diskurs“ hierzulande kennen.[10] Allerdings war das Geschrei leiser als in Österreich, vielleicht auch, weil Italien ein zivilisierteres Land ist, mit einer schwächeren Tradition des Judenhasses. Jedenfalls sollte der 23. Mai 2024 der Lostag für Schleins Erfolg bei den Europawahlen werden – in einem inszenierten Fernsehduell sollte sie auf Giorgia Meloni treffen, eine Neuauflage von High Noon auf Italienisch.[11] Daraus wurde nichts – AGCOM (Autorità per le garanzie nelle communicazioni) sagte  den Showdown auf RAI ab, warum?[12] Die beiden Damen als die wichtigsten Proponentinnen der italienischen Politik zu bestätigen, das wollte die breite Koalition der Neider und Haxlbeisser vom Schlage eines Salvini oder Renzi nicht. Es blieb, auf die Europawahlen am 9. Juni zu warten, könnte sich der PD als führende Oppositionspartei profilieren, würde auch der Aufstieg der Elly Schlein weitergehen. Ansonsten bleibt der Insalata mista der italienischen Politik, was er schon lange ist – ein Selbstbedienungsladen für die Mächtigen, ein Ärgernis für die Bevölkerung.

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Elly Schlein, https://www.today.it/politica/schlein-si-candida-elezioni-europee-2024.html, abgerufen am 11.05.2024.

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Meloni und Schlein, https://www.ilsussidiario.net/wp-content/uploads/_xml/_sitemap705000.xml,  abgerufen am 11.05.2024.

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Elly Schlein in Palermo, https://www.instagram.com/p/C7KUKk3Cubh/, abgerufen am 23.05.2024.

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Wahlplakat PD, https://www.instagram.com/p/C7J5ACztBI3/, abgerufen am 23.05.2024.

 

[3] https://www.instagram.com/ellyesse/, abgerufen am 07.05.2024.

[8] So stand Ursula von der Leyen 2019 nicht zur Wahl, aber die Freundschaft mit Merkel reichte als Qualifikation für die Kommissionspräsidentin, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-07/ursula-von-der-leyen-eu-kommissionspraesidentin-wahlsieg, abgerufen am 11.05.2024.

[10] Zum Beispiel https://www.instagram.com/reel/C7AJ1j9io1A/, abgerufen am 16.05.2024.