Ausgabe

Emigrantenkinder

Christoph Tepperberg

Inhalt

Helene Maimann: Der leuchtende Stern. Wir Kinder der Überlebenden.

Wien: Paul Zsolnay Verlag 2023.

Gebunden, 368 Seiten, Euro 28,00.-, eBook Euro 20,99.-

ISBN 978-3-552-07279-4; ISBN 978-3-552-07377-7 (eBook)

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Helene Maimann, Historikerin, Autorin und Filmemacherin, beschäftigt sich seit ihrer Dissertation an der Universität Wien wissenschaftlich und publizistisch mit dem Thema Emigration. Sie kuratierte mehrere Ausstellungen zur österreichischen Zeitgeschichte, wurde mit Preisen für Publizistik, Fernsehen und Frauenforschung ausgezeichnet. Am 17. Oktober 2023 gab sie in der ORF-Radiosendung »Punkt eins« ein bemerkenswertes Interview. Maimann schildert in ihrem Buch zwei Generationen österreichisch-jüdischer Familien: die Eltern, denen es auf unterschiedlichste Weise gelang, die Gräuel des NS-Terrors zu überleben, und deren Kinder, von denen heute viele zur kulturellen und politischen Avantgarde zählen. Letztere könnte man kurz als »Links – Jüdisch – 1968er« charakterisieren.

 

Ihre Eltern hatten ein extremes Leben hinter sich: sie waren »Displaced Persons«, überlebten im Exil in Moskau oder als so genannte »Schindler-Juden« unter dem Schutz des Industriellen und Judenretters Oskar Schindler (1908– 1974), wieder andere kämpften bei den Internationalen Brigaden in Spanien, in der französischen Résistance, in den alliierten Armeen gegen Hitler-Deutschland, oder sie hatten Bergen-Belsen, Maly Trostinec und Mauthausen oder die Lager Sibiriens überlebt. Sie waren jüdisch oder kommunistisch oder beides.

 

»Wir [Kinder] wuchsen auf mit einem leuchtenden Stern über uns, dem roten kommunistischen oder dem blauen jüdischen oder beiden. Sind vom Rand der Gesellschaft in ihre Mitte gegangen und haben an ihren Schrauben gedreht. Das Land, in dem wir aufgewachsen sind, hat uns weder Beachtung geschenkt noch Fesseln angelegt. Wir kamen überall hin, wo es uns hingezogen hat – in die Wissenschaften, in die Medizin, die Kultur, die Wirtschaft, in die Schulen und Medien.« (S. 8)

 

Wer waren nun diese Kinder? Die vielen Namen wirken auf den ersten Blick verwirrend, doch mit etwas Konzentration öffnet sich einem die faszinierende Welt von Emigration und einer spezieller Art von Desintegration im eigenen Land. Da ist der penible Arzt und Suchtgiftberater Alexander David, genannt Guki (S. 5f., 8, 230, 300-304); der ORF-Journalist Heinz Epler (S. 6, 180-183); der bekannte Wiener Lederwarendesigner Robert Horn, dessen Vater in Schindlers Fabrik gearbeitet hatte; seiner Familie widmete die Autorin ein eigenes Kapitel (König Oskars Tafelrunde, S. 206-219); der Kulturmanager und Networker Edek Bartz (S. 221-233, 269); Stefan Weber (1946–2018), Gründer der Pop/Punk-Band »Drahdiwaberl« (S. 263-270); dann der Schriftsteller Robert Schindel1 (S. 104-105, 259, 277, 278, 281 etc.) und der Philosoph André Glucksmann (1937–2015).2 (S. 128-130, 164-165, 173-175)

 

Die Mehrzahl der »Kinder« war nach dem Krieg in Wien geboren worden, nur Robert Schindel 1944 im oberösterreichischen Bad Hall; sein Vater war im KZ und in Oskar Schindlers Emailfabrik gewesen, seine Mutter in Auschwitz, Bergen-Belsen und Mauthausen, die Eltern von Alexander David (Guki) waren in Moskau, die von Heinz Epler (Jg. 1950) in New York; die von Helene Maimann in London. Manche der Kinder waren noch vor dem Krieg zur Welt gekommen: Jean Margulies (1939–2015), genannt Schani, in Brüssel, versteckt in einem französischen Schweinestall (S. 130-136) oder André Glucksmann (1937–2015) in einem katholischen Waisenhaus in Frankreich. Andere wurden in der Illegalität geboren: François (Franzi) Naëtar in Paris (S. 151-152, 160) oder Edek Bartz 1946 in Kasachstan. Manche der Eltern hatten Auschwitz überlebt oder waren in Ungarn untergetaucht, wie die von Berta Pixner (S. 55, 180) und Anita Pollak (S. 245-247). »Schwemmsand mit ungewisser Zukunft«, schrieb die Autorin. – »Das reicht für ein komplexes Verhältnis zu dem, was man Heimat und Zugehörigkeit nennt.« (S. 8)

 

Dazu kommen für die Autorin wichtige Begegnungen, vor allem mit der kultigen TV-Journalistin und ORF-Moderatorin Elizabeth Toni Spira (1942–2019),3 auch ihr hat Maimann ein eigenes Kapitel gewidmet (»Die Menschenfischerin«, S. 284-294), dann mit dem Multitalent Arik Brauer (1929–2021),4 genannt der Singerl (S. 330-341) und dem Lyriker Erich Fried (1921–1988)5 (S. 318-329). Das Buchcover zeigt Helene Maimann mit Bundeskanzler Bruno Kreisky (1911–1990) an seinem 70. Geburtstag im Jahr 1981. Berührend ist ihre Analyse zu seinem komplizierten Verhältnis zum Judentum. (S. 197-205)

 

Die Autorin selbst gehört auch zu den Kindern des »Leuchtenden Sterns«. Sie wurde 1947 in Wien geboren, ihre Eltern waren dorthin zurückgekehrt, nachdem sie vor Krieg und nationalsozialistischer Verfolgung nach London geflohen waren. Daher erzählt sie auch über sich selbst, ihre Prägung, ihre Konfrontationen und Konflikte mit der Welt ihrer Eltern – überzeugte, linientreue Kommunisten. So wurde die jungen Helene Maimann in der FÖJ, der Freien Österreichischen Jugend sozialisiert. (S. 10-58) Das Sprechen über jüdische Identität war in der Familie ein Tabu. Nur zufällig lüftete ein Freund am Strand von Rimini das Geheimnis gegenüber der damals Neunjährigen, dass sie Juden seien. Diese lässig hingeworfene Bemerkung war für sie »wie ein Flash aus dem Sommerhimmel«.

 

Die in diesem Biotop entstandenen Geschichten beruhen auf eigenen Erinnerungen, Gesprächen mit Freunden und Weggefährten und der Ergiebigkeit ihres eigenen Privatarchivs. »Der leuchtende Stern« ist ein Erinnerungsbuch geworden, ein »Buch der Freundschaft mit biografischen und autobiografischen Texten«. (S. 344)

 

Das Buch ist in 25 Kapitel gegliedert, die grossteils blumige Überschriften tragen (S. 5-344). Es folgen ein Glossar mit lokal wienerischen Begriffen und jiddischen Ausdrücken (S. 345-349) sowie eine Liste mit ausgewählter Literatur (S. 350-351). Eine Liste der Protagonistinnen und Protagonisten fasst die behandelten Personen noch einmal übersichtlich zusammen (S. 352-353), auch die Liste der Bedankten ist keineswegs banal (S. 354). Personenregister (S. 355-363), Abbildungsverzeichnis (S. 364) und Inhaltsverzeichnis (S. 364-365) ergänzen diese inhaltlich und sprachlich höchst bemerkenswerte Publikation.

 

Anmerkungen

1 Zu Robert Schindel siehe auch DAVID, Heft 127 – 12/2020.

2 Zu André Glucksmann siehe auch DAVID, Heft 108 – 04/2016.

3 Zu Elizabeth T. Spira siehe auch DAVID, Heft 119 – 12/2018 und 120 – 04/2019.

4 Zu Arik Brauer siehe auch DAVID, Heft 128 – 03/2021.

5 Zu Erich Fried siehe auch DAVID, Heft 131 – 12/2021.