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GASTBEITRAG Persönlicher Rundgang durch die aschkenasische Küche

Stephen Sokoloff

GASTBEITRAG

Inhalt

Dieser Witz hat einen ernsten Hintergrund: Herr Cohen will sich christlich taufen lassen. Vor dem endgültigen Bruch mit dem Judentum gönnt er sich aber noch eine üppige jüdische Mahlzeit in seinem Lieblingsrestaurant: Gefilte Fisch, Tscholent, Gefüllter Gänsebraten mit Kascha und Knishes, als Dessert Käsekuchen. Zum Abservieren nähert sich vorsichtig der ihm vertraute Kellner: „Alles in Ordnung, Herr Cohen?“

„Grossartig, himmlisch, göttlich! Ich verehre die jüdische Küche!“

„Und den wunderbaren Glauben lehnen Sie ab? Sind Sie noch bei Sinnen?“

Liebe, auch die Liebe zur Religion, geht durch den Magen. Auch wenn jemand seinen Glauben verloren hat und keine Freude an traditionellen Festen und Ritualien empfindet, verbindet ihn immer noch das Verlangen nach den lukullischen Genüssen der Kindheit mit der Religion seiner Herkunft.

 

Albtraum für Veganer

Die Hauptrollen in der Küche der Ostjuden spielen Fleisch, Geflügel, Fisch, Teigwaren sowie Milch-und Mehlspeisen. Vielerorts war es Juden verboten, eigene Gärten anzulegen. Ausserdem waren die Aschkenasen in Galizien, Polen, Litauen und der Ukraine meistens bettelarm. Ihre Frauen verstanden es dennoch, aus leicht erhältlichen, preisgünstigen Zutaten unwiderstehliche Gerichte zu zaubern. Oft übernahmen sie die Speisen der Nichtjuden in ihrer Umgebung und passten sie den Erfordernissen der koscheren Gesetze an. Einige wie Hühnersuppe oder Apfelstrudel sind auch feste Bestandteile der österreichischen Küche.

 

Tscholent

Heinrich Heine hat dieses Eintopfgericht, ein Markenzeichen tiefgläubiger Israeliten, als „Götterspeise“ oder „koscheres Ambrosia“ bezeichnet. Davon gibt es unzählige Varianten. Ein beliebtes Rezept sieht folgende Zutaten vor: fettes Rindfleisch, feingeschnittene Zwiebeln, Geflügelfett, Markenbein, Kalbsfuss, getrocknete Bohnenkerne, Gerstengraupe, Salz, Pfeffer und beliebige Gewürze. Da orthodoxe Juden kein Feuer am Sabbat entfachen dürfen, wird das Tscholent schon am Freitagnachmittag in einen vorgeheizten Ofen geschoben, wo es bis Samstagmittag langsam schmort. In Osteuropa haben früher Bäcker ihre Brotöfen für den Garprozess zur Verfügung gestellt. Fleischgerichte, die mehrere Stunden lang über kleiner Flamme dünsten, entfalten betörende Aromen — sie sind einfach unwiderstehlich!

Dennoch gab es Tscholent niemals bei uns zuhause in Detroit, und auch nicht bei meinen Verwandten und Freunden. Meine Mutter führte zwar einen koscheren Haushalt, kochte und putzte aber auch am Sabbat. Für die „Fanatiker“, die an hohen Feiertagen nicht einmal das Licht aufdrehen, hatte sie wenig übrig. Die wunderbaren Eintöpfe der Orthodoxen erschienen also nie auf unserem Radar. Davon erfuhr ich erst, als wir strenggläubige Bekannte besuchten.

 

Hühnerbrühe mit Mazzeknödeln

Gekochtes Hühnerfleisch musste bei uns jeden Freitag auf den Tisch kommen. Ich fand es geschmacklos und bestand darauf, dass Mama den Speiseplan ändern sollte — vergebens! „Was mach ich sonst mit dem Fleisch?“, fragte sie resignierend. Die vom Geflügel gewonnene Brühe, das jüdische Penicillin, wollte sie keinesfalls missen.

Mein Grossvater schächtete und verkaufte das „Flattervieh“. Eigentlich hätte man ihm die Erlaubnis dazu entziehen müssen, meinte Mama, weil seine Hände oft zitterten. Aber wie sollte der arme Mann Frau und Kinder sonst ernähren?

Nach den starren Vorschriften der Religion musste das Huhn mit einem Schnitt geschlachtet werden. Unsere Rabbiner verstehen es aber manchmal, die Gesetze geistreich zu interpretieren und so mit einer Dosis Menschlichkeit abzumildern.

Auch wenn meine Mutter keine begnadete Köchin war, gelang es ihr, wolkenartig flaumige Mazzeknödel zu fabrizieren. Für diese beliebte Suppeneinlage kommt Mehl aus gemahlenen Mazzen zum Einsatz, das über Amazon zu beziehen ist. Angebote findet man am besten mit dem englischen Suchbegriff „matzo meal“. Beim ersten Versuch meiner Frau fielen sie ineinander zusammen und wurden unförmig. Schliesslich aber entdeckten wir das Erfolgsgeheimnis: Backpulver! Aus religiösen Gründen werden allerdings Strenggläubige während der Pessachzeit auf diese Zutat verzichten.

 

 

Gefilte Fisch

Dieses Gericht ist das Markenzeichen der Aschkenasen. Die meistens gekochten Laibchen aus faschiertem Fisch können warm oder kalt serviert werden. So eignen sie sich auch als Sabbatspeise. Aber woher stammt der Name? Eine Variante sieht vor, die ausgenommene Fischhaut zwischen Kopf und Schwanz mit der „Farce“ aufzufüllen. Diese Zubereitungsart habe ich allerdings nie persönlich erlebt, sondern nur auf Fotos gesehen. Die faschierten Kugeln werden gerne mit einer Mischung aus roten Rüben und Kren serviert.

 

Knishes

Diesem wunderbaren Gebäck aus Osteuropa gelang in den USA der Durchbruch. Man verkaufte es als heissen Snack oder warmes Mittagessen für Arbeiter in New York. Eine beliebte Füllung besteht aus Kartoffeln, Zwiebeln und vielleicht Corned Beef. Die Zwiebeln müssen sehr langsam gebraten werden, bis sie karamellisieren.

 

Corned Beef und Pastrami

Juden von Amerikas Westküste, die nach Detroit oder New York kommen, verlangen oft als Erstes ein Corned Beef oder Pastrami-Sandwich. Das Fleisch hat absolut nichts mit dem „Schuhleder“ zu tun, das hierzulande als Rinderschinken verkauft wird. Es ist genauso saftig wie der feinste Rostbraten, allerdings gepökelt (Corned Beef) und manchmal auch geräuchert (Pastrami). Auf einer Scheibe Roggenbrot — aber bitte keine billige Supermarkt-Backware — türmt der Koch zarte Fleischschnitten zu einem Hügel auf. Er schmiert etwas Senf darauf und krönt die Kreation mit der zweiten Brotscheibe. Dazu gehört unbedingt eine echte Salzgurke. Es ist ein Kunststück, das riesige Gebilde zum Mund zu hieven, ohne dass es auseinanderfällt.

 

Käsekuchen

Ab ungefähr 1900 entwickelten jüdische Einwanderer aus Süd- und Osteuropa die nun vorherrschende Käsekuchen-Kultur in den USA. Statt Topfen verwendet man Rahmkäse, meistens Philadelphia. Diese Gaumenschmeichler sind üppig und unvergleichlich cremig. Man wird garantiert davon süchtig!

Traditionelle jüdische Speisen sind nichts für Gesundheitsfanatiker. Sie stammen aus einer anderen Zeit, als die Menschen per pedes unterwegs waren und schwere körperliche Arbeit leisteten. Dennoch lohnt es sich, sie dosiert zwischen Salaten und Sushi zu geniessen. Sie bilden einen wertvollen Teil des jüdischen Kulturerbes.

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Käsekuchen.

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Alle Abbildungen: S. Sokoloff, mit freundlicher Genehmigung.