Christoph Tepperberg
Ingrid Adams: Ernst Biberstein: Vom evangelischen Pfarrer zum SS-Verbrecher. Eine Biographie als Strukturanalyse der NS-Täterschaft. (= Geschichte 174)
Münster: Lit Verlag 2020.
2 Bde., 948 Seiten, 87 Abb., Euro 109,90.-
ISBN 978-3-643-14531-4
Wie ist das Phänomen zu begreifen, dass ein Pfarrer nach zehnjähriger seelsorgerlicher Tätigkeit zum Massenmörder mutiert? Diesem Problemen und vielen anderen Fragen ist Ingrid Adams im Zuge ihrer umfangreichen Recherchen in präziser Weise nachgegangen.
Dr. Ingrid Adams (geb. 1940) studierte Pädagogik und Psychologie in Dortmund und Münster, dann Geschichte, Theologie, Judaistik und Musikwissenschaft in Köln, sie war lange Jahre im Lehrberuf tätig. Die hier vorliegende Studie wurde 2019 in Köln als Dissertation angenommen. Der ursprüngliche, deskriptive Titel der Arbeit lautet: Der Fall des NS-Verbrechers Ernst B. Evangelischer Pfarrer. Leiter eines Erschiessungskommandos im Russlandfeldzug 1941-1945. Zum Tode verurteilter NS-Gewalttäter. Haftentlassener auf »Parole«.
Ernst Biberstein (1899–1986), eigentlich Szymanowski, war der Sohn eines Bahnbeamten und wirkte nach Kriegsdienst und Theologiestudium ab 1924 als evangelischer Pfarrer in Schleswig-Holstein. Der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Theologe schien von Anfang an mehr an Politik und Karriere als an Seelsorge interessiert. Der »SA-Pastor« feierte Feldgottesdienste und Fahnenweihen, während er unter dem Talar seine SA-Uniform trug. Den antisemitischen Deutschen Christen gehörte er seit deren Gründung an und trat 1926 als einer der ersten evangelischen Pastoren der NSDAP bei. Im Kampf gegen die Bekennende Kirche polarisierte er durch Ablehnung des Alten Testaments und neuheidnische Zeremonien (S. 77). 1935 startete Szymanowski seine NS-Parteikarriere in der Reichshauptstadt Berlin, arbeitete im Reichskirchenministerium und dort, nach seiner Eingliederung in die SS, auch als »Verbindungsmann« (Spitzel) des Sicherheitsdienstes (SD) (S. 179).
1939 erfolgte seine Versetzung zum Reichssicherheitshauptamt (RSHA), der Schaltzentrale des NS-Vernichtungsapparates (S. 217). 1941 änderte Szymanowski seinen polnischen Familiennamen in Biberstein (S. 246) und wurde Chef der Staatspolizeistelle Oppeln/Oberschlesischen (Opole/Polen). Zu den neuen »Aufgaben« des einstigen Pfarrers zählten u. a. Beantragung der »Schutzhaft« für Geistliche, Deportation von Juden und »Selektion« von russischen Kriegsgefangenen (S. 240-293). 1942-1943 leitete der SS-Obersturmbannführer Ernst Biberstein das »Einsatzkommando 6 der Einsatzgruppe C« in der Ukraine und in Russland. Bis 1943 fanden in seinem Bereich 2.000-3.000 Hinrichtungen statt (S. 531). Dafür wurde er 1948 im Nürnberger Einsatzgruppen-Prozess von einem U.S.-Militärtribunal zum Tode verurteilt, 1951 nach den aussenpolitischen Veränderungen des »Kalten Krieges« zu lebenslanger Haft begnadigt und 1958 aus dem Kriegsverbrechergefängnis Landsberg in die Freiheit entlassen (S. 778). Erheblichen Anteil daran hatte eine Kriegsverbrecher-Lobby, der auch hohe Repräsentanten beider Kirchen angehörten. Biberstein, der 1953 wieder in seine Kirche aufgenommen worden war, arbeitete vorübergehend in der Kirchenverwaltung von Schleswig-Holstein. Danach hatte er wechselnde, schlecht bezahlte Jobs. Heute weiss man, dass es multiple Faktoren waren, die Menschen zu NS-Verbrechern machten. Die Autorin versucht dazu eine Typisierung, ein »Sozialprofil der Angeklagten« (S. 489-496).
Ingrid Adams hat ihre Forschungsarbeit übersichtlich in sechs Kapitel gegliedert, denen jeweils mehrere Unterkapitel zugeordnet sind. Der 1. Band beginnt mit der Einleitung (Quellenlage, Forschungsstand, Forschungsziel, Forschungsmethoden und Gliederung der Arbeit). Daran schliesst Kapitel I: Bibersteins Werdegang bis zur Niederlegung seines Kirchenamtes 1935. Kapitel II: Karriere im NS-Staat 1935-1945. Kapitel III enthält die entscheidenden Inhalte der Studie: Tätigkeit im Reichssicherheitshauptamt 1941-1945: Politischer Auftrag und Aufgabenbereich der Einsatzgruppen, Massenmorde, Biberstein als Führer der Einsatzgruppe 6 1942-1943 und seine Verbrechen an der Zivilbevölkerung.
Der 2. Band geht der Strafverfolgung nach 1945 und ihren Rechtsfragen nach. Kapitel IV: Angeklagter vor dem U.S. Military Tribunal II in Nürnberg 1947-1948. Kapitel V: Aufhebung des Todesurteils 1951: »Kriegsverbrecherfrage« und kirchliche Lobbyarbeit. Kapitel VI: Haftaussetzung nach dem »Parole-Verfahren« und Reintegration 1958. Das U.S.-amerikanische »Parole-Verfahren« war übrigens kein Gnadenakt, sondern vertraglich, rechtsverbindlich festgeschrieben (S. 778). Wie auch immer, Biberstein steht als Beispiel für die milde Nachkriegsjustiz in Deutschland. Quellen- und Literaturverzeichnisse sowie Personen- und Ortsregister ergänzen und erschliessen diese grossartige, in alle Details gehende Studie.