Ausgabe

Ein grosser Geiger, ein grosser Mensch Yehudi Menuhin zum 25. Todestag

Michael Bittner

Das 20. Jahrhundert brachte eine 

Vielzahl grossartiger Geiger hervor – Fritz Kreisler, Jascha Heifetz, Nathan Milstein, Isaac Stern, David Oistrach, Ivry Gitlis, Gidon Kremer, Maxim ­Vengerov – und Yehudi Menuhin.1

Inhalt

Vielleicht sind sie nur wegen der Schallplatte so grosse Stars geworden, wir wissen nicht, wie gut Punto oder Paganini gespielt haben. Aber die Stars der Vinyl-Ära können wir gut vergleichen, ihre Eigenheiten, ihre Stärken, ihre Schwächen. Yehudi Menuhin gab seiner Stradivari „Khevenhüller“ einen derart beseelten Klang, dass auch Blinde, wie sein späterer Mäzen Henry Goldman (Goldman & Sachs) von seinem Spiel begeistert waren. Mensch und Instrument wurden zu einer wohlklingenden Einheit, ein Glücksfall für die Musikgeschichte. Später kaufte Menuhin noch eine zweite Stradivari, die „Solis“ von 1714, die einen lauteren Klang produzierte.

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 Menuhin-Album SME 91483, um 1967. Foto: M. Bittner, mit freundlicher Genehmigung.

Yehudi Menuhin wurde 1916 in New York geboren. Seine Eltern waren jüdische Emigranten aus Russland. Sie machten aus ihm und seinen beiden klavierspielenden Schwestern „Wunderkinder“, organisierten Auftritte und handelten Gagen für sie aus. Heute würde das zum Burnout-Syndrom führen, bei den Menuhins bereitete es den Weg zu einer Weltkarriere.2 Der Kinderstar machte grossen Eindruck:
George Bernard Shaw schrieb damals „Yehudi kann mit
seinem Spiel einen Atheisten zum Glauben bekehren.“3

 

Seine starken Familienbande hielten das ganze Leben, die Menuhins traten auch gemeinsam auf, so in der Londoner Royal Festival Hall 1966, als er mit seinen Schwestern ­Hephzibah und Yaltah sowie erstmals mit seinem Sohn ­Jeremy auf der Bühne stand. In der Mitte seines Lebens durchlief er eine Schaffenskrise, ausgelöst durch seine mangelhafte Ausbildung in der Jugend, die er mühsam nach­holte und im reiferen Alter zum anerkannten Geigenvirtuosen wurde, zum amerikanischen „Anti-Oistrach“, Mit diesem sowje­tischen Systemkünstler spielte er ab 1945 immer wieder zusammen, es entwickelte sich eine tiefe Freundschaft. Wie die beiden sich wohl unterhielten – einer auf Englisch, einer auf Russisch? Nein, sagte Menuhin, „in einer Art Deutsch“.4
Bis zu David Oistrachs Tod 1974 dauerte die Zusammen­arbeit in Ost und West an – musikalische Entspannungs­politik mitten im Kalten Krieg.5

Neben dem Geigenspiel bemühte er sich, ein guter Mensch zu sein. 613 Mitzvot waren für ihn nicht genug: er forderte und förderte die Aussöhnung mit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, Verwunderung löste seine Parteinahme für Wilhelm Furtwängler aus. Er engagierte sich für den Frieden, besonders im Nahen Osten („Liebe, nicht Hass wird die Welt heilen“6), trat ein für Völkerverständigung und Menschenrechte, gegen Hunger, gegen Ausgrenzung, gegen  Umweltverschmutzung, für den Artenschutz, gegen die Apartheid, für die Roma, für viele wohltätige Organisationen – er wollte eine „bessere Welt“ mitgestalten.7 Neben der Schweizer Staatsbürgerschaft erhielt er auch die britische, im Vereinigten Königreich wurde er zum Lord erhoben. 

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Yehudi Menuhin, 1943. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/4/4b/Yehudi_Menuhin_43.jpg

Er konzentrierte sich auf seine zweite Karriere als Dirigent, nachdem er 1990 die Violine endgültig beiseitegelegt hatte, und auf seine politischen und edukativen Aufgaben. Am 12. März 1999 starb er überraschend in Berlin, nach einem Konzert mit Daniel Hope.8

 

Was blieb von Yehudi Menuhin? Vier Kinder aus zwei Ehen, ungezählte Tonträger, die er siebzig Jahre lang (!) bei EMI veröffentlichte, Filmdokumente, Musikschulen, die Yehudi Menuhin Foundation mit Sitz in Brüssel – und die Idee, dass Musik eine bessere Welt erschaffen kann, in der Liebe und Frieden herrschen. Auf seinem Grabstein ist ein Spruch aus dem Talmud eingemeisselt (Sanhedrin 91b): „Der in diesem Leben Musik macht, wird auch im nächsten Leben Musik machen.“

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Yehudi Menuhin und Paulo Coelho, 1999. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0) https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Yehudi_Menuhin.jpg

Also zünden wir eine Yahrzeit-Kerze an und hören noch einmal Menuhin. Ich empfehle die Einspielung der Ciaccona von Bach, die er 1972 in Gstaad aufgenommen hatte.9 Man spürt seine Atmung, seine Nerven, seinen festen Charakter, die kleinen Korrekturen, das Aufsparen der Bogenlänge für den richtigen Moment, das Verschmelzen von Mensch, Instrument und Klang – ein Meisterwerk. 

 

 

Anmerkungen

1 Itzhak, nicht beleidigt sein! Itzhak Perlman kaufte 1986 die Stradivari „Solis“ von Menuhin; https://tarisio.com/cozio-archive/property/?ID=1954, abgerufen 16.01.2024; Henry Roth: Violin Virtuosos. California Classics Books 1997, S.153 ff.

2 https://www.menuhin.org/, abgerufen 17.01.2024.

3 Der Spiegel Nr. 40/1957 vom 1.10.1957. https://www.spiegel.de/politik/unter-der-glocke-a-b4af1625-0002-0001-0000-000041758665, abgerufen 17.01.2024.

4 Ingeborg Stiehler, David Oistrach. Begegnungen. Edition Peters, Leipzig 1989, S.154.

5 https://programm.ard.de/TV/arte/yehudi-menuhin---david-oistrach/eid_287246132651108, abgerufen 23.01.2024. Als Beispiel für das kongeniale Zusammenspiel der beiden: Bachs Doppelkonzert https://www.youtube.com/watch?v=DJh6i-t_I1Q, abgerufen 23.01.2024. Ingeborg Stiehler, David Oistrach. Begegnungen. Edition Peters, Leipzig 1989, S.151-166.

6 https://www.nytimes.com/1999/03/13/arts/sir-yehudi-menuhin-violinist-conductor-and-supporter-of-charities-is-dead-at-82.html, abgerufen 17.01.2024.

7 Vgl. dazu die umfassende Biografie von Humphrey Burton, Menuhin. A Life. Faber & Faber, London 2000.

8 https://de.wikipedia.org/wiki/Yehudi_Menuhin, abgerufen 17.01.2024.

9 https://www.youtube.com/watch?v=Nunk9fRaZZs, abgerufen 16.01.2024.