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Die Quelle des demokratischen sozialen Rechtsstaates

Manfred Wolff

Freuen auch Sie sich immer auf das arbeitsfreie Wochenende? Geht auch Ihr Kind seit dem sechsten Geburtstag kostenfrei zur Schule? Wohnt auch in Ihrer Nachbarschaft ein Mensch, der dort Asyl gefunden hat?

Inhalt

Sind auch Sie schon einmal in einem Rechtsstreit in die Berufung gegangen? Mussten Sie wegen einer Gesetzesübertretung schon einmal eine Geldbusse zahlen? Bekommt erst Ihr Haustier sein Futter, ehe Sie sich an den Tisch setzen? Ist für Sie die Unantastbarkeit der Menschenwürde eine Selbstverständlichkeit? Diese Kriterien eines demokratischen und sozialen Rechtsstaats sind uns heute selbstverständlich. Wir wissen, dass sie in der jüngeren Vergangenheit erfolgreich erkämpft wurden. Wir feiern sie als das Ergebnis unserer jüngeren Geschichte. Dabei sind sie uralt, über 2.500 Jahre. Sie wurden nur nicht beachtet, und wenn, dann von einer kleinen Minderheit der Menschheit. Die jüdische Thora enthält zahlreiche Vorschriften, die auch für das heutige gesellschaftliche Leben richtungweisend sind.

 

Als der griechische Historiker Herodot auf seinen Reisen nach Israel und Judäa kam, fand er es höchst merkwürdig, dass dort an einem Tag der Woche nicht gearbeitet wurde. Zwar wusste er, dass auch die Griechen und andere Völker gern einmal einen Ruhetag zu Genuss und Feierlichkeit einlegten, aber das war immer den Wohlhaben und Herren vorbehalten. Hier aber waren auch die Knechte und Mägde, sogar die Haustiere von der Arbeit befreit. Das liess ihn das Schlimmste für die jüdische Gesellschaft befürchten. In der Thora ist dieser freie Tag im 2. Buch Moses, Kapitel 20, Vers 8 als Pflicht beschrieben. Damit ist gleichzeitig auch die Siebentagewoche, wie wir sie heute zählen, festgelegt. Die ganze Welt zählt heute ihre Wochen so. Verfolgten soll man Asyl gewähren. Das schreibt das 2. Buch Moses in Kapitel 21, Vers 13 vor. Sechs Städte hatten die Aufgabe, Verfolgte vor gesetzloser Lynchjustiz zu schützen. Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Das ist nicht in allen Gesellschaften der Fall. Einmal werden Frauen benachteiligt, dann Andersgläubige, dann Arme und oder Fremde. Im 3. Buch Moses, Kapitel 19, Vers 15 heisst es: „Ihr sollt nicht unrecht handeln im Gericht, und sollt nicht vorziehen den Geringen noch den Grossen ehren; sondern du sollst deinen Nächsten recht richten“. Das war in der Antike in der Regel nicht der Fall und ist es bis heute in vielen Staaten nicht.

 

Es war der Schwiegervater von Moses, Jethro, der ihm den Rat gab, sich nicht in tausend Kleinigkeiten zu verzetteln, sondern ein differenziertes Gerichtswesen mit unterschiedlichen Instanzen einzurichten (2. Buch Moses, Kapitel 18, Vers 13 ff), in dem ehrenwerte Mitglieder der Gesellschaft Recht sprechen sollten. Dann konnte ein Kläger oder Beklagter, der sich in einer unteren Instanz ungerecht beurteilt fühlte, bei einer höheren Instanz sein Recht suchen.

Der babylonische Herrscher Hammurabi legte in seinen Gesetzen fest, dass Gleiches mit Gleichem zu vergelten sei. Wer ein Auge verletzt, verliert ein Auge, das ius talionis. Solche Rechtsvorschriften, die Körperverletzungen als Strafe vorsehen, waren im Orient häufig und sind es in muslimischen Staaten auch heute noch. Da werden als Spiegelstrafe Körperteile amputiert, zum Beispiel dem Dieb die Hand, es werden Augen geblendet, und Prügel sind verbreitete Strafen. Mit dieser Praxis bricht die Thora. Im 21. Kapitel des 2. Buch Moses wird dagegen die Geldbusse als Strafe vorgeschrieben, damit der Geschädigte für seinen Schaden Genugtuung erhält und der Schädiger nach Leistung der Geldbusse wieder seinem normalen Leben nachgehen kann.

 

Die allgemeine Schulpflicht kennen wir erst seit dem 18. Jahrhundert. Aber bereits im Jahr 64 nach unserer Zeitrechnung verfügte der Rabbi Ben Gamla eine Schulpflicht für alle Kinder ab dem siebenten Lebensjahr. Der Schulbesuch sollte gratis sein, die Kosten sollte die Gemeinde übernehmen. In einer Schulklasse sollten nie mehr als 25 Kinder gleichzeitig unterrichtet werden. Haben unsere Bildungspolitiker vielleicht bei Ben Gamla abgeschrieben?

 

Nicht nur die Menschen, auch die Tiere wurden rechtlich geschützt. Im 5. Buch Moses, Kapitel 25, Vers 4 wird untersagt, dem Ochsen bei der Arbeit das Maul zuzubinden, und im Talmud wird gelehrt, dass wir zuerst die Haustiere füttern sollen, ehe wir uns selbst zu Tisch setzen. Die grösste gesellschaftliche Revolution der Thora ist die Verkündung des Monotheismus. Die griechischen Götter waren zahlreich, untereinander oft zerstritten und wahrlich keine Vorbilder, denn sie begingen die gleichen Verstösse gegen die Regeln der Sittlichkeit wie die Menschen. Sie waren nach den Menschen gemacht, und der Olymp war kein Paradies. In anderen Gesellschaften war es nicht viel anders. Die Verkündung des einen G’ttes in der Thora, der die Menschen in seinem Plan nach seinem Bild gemacht hat, ist die Quelle des Grundsatzes der Gleichheit aller Menschen und der unantastbaren Würde aller Menschen.