Die Kulturhauptstadt-Region Salzkammergut 2024 hat sich einiges zurjüdischen Geschichte der Region überlegt. Die meisten der ausgewählten Themen werden dort zum ersten Mal gegenüber einer breiten Öffentlichkeit angesprochen und, vielleicht noch bemerkenswerter, auch an den Orten des Geschehens gezeigt.
Suchbild mit dem Projekt Stecknadeln der Erinnerung vor dem Rathaus, Bad Ischl 2024.
Gerade rechtzeitig vor dem Kulturhauptstadt-Jahr ist in der Stadt Gmunden, dem Tor zum Salzkammergut, 2023 doch noch ein (sehr gelungenes) NS-Opfer-Mahnmal zustande gekommen. Im Beitrag rund um eine jahrzehntelang umstrittene Seeliegenschaft in Bestlage, die ehrwürdige Villa Toscana, wird sogar die 1938 vertriebene und enteignete, in der Nachkriegszeit scheel angeschaute Eigentümerfamilie Wittgenstein-Stonborough wohlwollend thematisiert. Das Kulturhauptstadtjahr 2024 hat offensichtlich einen Zeitensprung in die Region gebracht.
Die in Bad Ischl anlässlich des Kulturhauptstadt-Jahres installierten Stecknadeln sind nicht besonders gross und fallen daher im Strassenbild auch nicht auf, doch ihr Inhalt ist hervorragend gemacht. Auch die Orte, an denen sie aufgestellt sind, wurden mit Bedacht gewählt; es sind tatsächlich
die neuralgischen Punkte der Ischler jüdischen Vergangenheit, an denen jahrzehntelang gut vergessene Geschichten mittels der Stecknadeln buchstäblich festgemacht werden. So etwa das Hotel Goldenes Kreuz, wo auch nach Kriegsende, 1947, bei Demonstrationen jüdische Flüchtlinge (als sogenannte displaced persons bezeichnete Holocaust-Überlebende) im dortigen DP-Camp durch lokale Parteipolitiker und deren Gefolgsleute attackiert wurden. Oder die Villa Haenel-Pancera, Sitz eines selbsternannten Enteignungsprofiteurs der NS-Zeit, der auf eigene Faust mit Raubimmobilien (und deren Inhalt) Handel betrieb – unter anderem mit jener Villa Felicitas genannten ehemaligen Unterkunft von Katharina Schratt, die in der Zwischenkriegszeit Fritz Beda Löhner für seine Frau und die beiden Töchter gekauft hatte und die dann, als er selbst bereits ins KZ Dachau verschleppt war, Helene Löhner abgepresst wurde. Sie und die Kinder wurden ebenfalls deportiert und in Maly Trostinec ermordet, der Ehemann und Vater im KZ Buchenwald erschlagen. 68 Villen jüdischer Eigentümer wurden in Ischl während der NS-Zeit enteignet. Die Alltags-Skulpturen mit den aufklappbaren Köpfen folgen einem wirklich intelligenten Konzept, das überzeugt. Auch unangenehme Tatsachen werden hier auf eine ruhige, sehr unprätentiöse Weise knapp und völlig unverblümt vorgestellt. Ein QR-Code leitet den aufmerksamen Betrachter weiter auf eine informative, projektbegleitende Website mit vielen vertiefenden Informationen.
Stecknadel beim Hotel Goldenes Kreuz, aufgeklappt, mit Erläuterungen zum Standort, und QR-Code.
Der Frage, ob es überhaupt so etwas wie ein jüdisches Alltagsleben in Bad Ischl oder gar die Infrastruktur einer Kultusgemeinde gegeben habe, geht ein Forschungsvorhaben auf den Grund, das im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres dankenswerterweise ermöglicht wurde. Es rückt völlig vergessene Personengruppen in den Mittelpunkt. Die Auswertung diesbezüglicher Aktenbestände des Oberösterreichischen Landesarchivs brachte viele bislang unbekannte Details über ein tatsächlich vorhanden gewesenes jüdisches Alltagsleben abseits des Sommerfrische- und Kurbetriebs am kaiserlichen Sommersitz zutage. Das dazu gehörige Buch der evangelischen Theologin Verena Wagner ist ausgezeichnet gemacht. Übersichtlich werden die einzelnen Familien besprochen, die ständig in Bad Ischl wohnten und die jüdische Infrastruktur zur Verfügung stellten. Die richtigen Fragen werden gestellt und die gefundenen Antworten anschaulich und materialreich geschildert; mit viel historischem Bildmaterial, vielfach aus Privatbesitz, ist der Band auch optisch ansprechend ausgestaltet.
Die wohl nachhaltigste Veränderung, die Bad Ischl dem Kulturhauptstadt-Jahr 2024 verdankt, ist die Umbenennung mehrerer zentral gelegener Orte in der Stadt. Vor der Kirche wurde die Betty-Kohn-Gasse eingeweiht, beim ehemaligen Ischler Kurtheater (heute Léhartheater Kino) gibt es nun einen Helene Löhner-Platz, benannt nach der Ehefrau des bekannten Librettisten (Land des Lächelns, Giuditta, Blume von Hawaii, und viele andere) und Liedautors (In der Bar zum Krokodil, am Nil, am Nil, am Nil) Fritz Beda Löhner. Es ist besonders erfreulich, dass hier auch einmal eine Ehefrau für ihre Leistungen gewürdigt, und dass ihrem Andenken öffentlicher, noch dazu prominenter innerstädtischer Raum gewidmet wird.
Zur Operettenkultur gibt es viel Bekanntes, doch wenig Kontext zum Künstleralltag in Bad Ischl, etwa des Startenors Richard Tauber oder des Librettisten-Erfolgsduos Julius Brammer und Alfred Grünwald. Fast nichts davon ist zu finden in der Programmplanung der Kulturhauptstadt 2024, ausser einem Plakat im Kurpark (Lehár, Kálmán, Strauss, Straus, auch Bruckner, Brahms). Die Operettenproduktion (Regie: Barrie Kosky) von Oscar Straus‘ Eine Frau, die weiss, was sie will! (Operette in zwei Akten, 1932) war leider nur an zwei Abenden zu sehen, und das bereits am 20./21. Januar 2024. Zum Trost ist aber ein schön aufgemachter Band von Therese Hrdlicka mit einigen sehr übersichtlichen biografischen Darstellungen im Wiener Hollitzer Verlag erschienen, der sich hervorragend eignet, um in den Parks bei Kurhaus und Kaiservilla darin zu schmökern.
Gar keine Beachtung findet 2024 bedauerlicherweise der Autor der wunderbaren Erzählsammlung Nachts unter der steinernen Brücke, Leo Perutz, der immerhin auf dem dortigen Friedhof begraben liegt; übrigens in Gesellschaft des Wiener Theater-Impresarios Carl Carl (der auch nicht vorkommt). Eine Erwähnung des Wiener jüdischen Ringstrassenarchitekten Wilhelm Stiassny, der oft in Ischl auf Sommerfrische war und dort verstarb, sucht man vergeblich; die Büste für den jüdischen Kurarzt Oskar Pollak, der Ischls Ruhm als Heilstätte mitbegründete, findet man schon lange nicht mehr.
Johannes Sachslehner hat sein hervorragendes Bad Ischl-Buch aus der Reihe Sehnsuchtsorte des Berndorfer Kral Verlags für den Anlass gründlich überarbeitet und entsprechend der Ausdehnung der Kulturhauptstadt-Region 2024 um differenzierte zeithistorische Darstellungen erweitert. Entstanden ist dabei ein profund recherchierter und detailreicher, zum Nachdenken anregender aber auch überaus unterhaltsam zu lesender, opulenter Bildband, der nicht nur allen Salzkammergut-Schwärmern wärmstens empfohlen werden kann.
Wege des Widerstands können während der Wandersaison mit Wolfgang Quatember und Nina Höllinger vom Zeitgeschichte Museum Ebensee (und Bergführern) begangen werden. Auch zu diesem Thema (bereits 2018 Inhalt der Salzburger Landesausstellung in Strobl am Wolfgangsee, damals erschienenes Wanderbuch von Christian Topf im LIT Verlag) gibt es 2024 mehrere Neuerscheinungen. Peter Kammerstätters eindrucksvolle, im Verlag der Provinz nun veröffentlichte Zeitzeugen-Materialsammlung verdient einen ausführlichen Artikel, in dem auch Kammerstätters eigene Rolle, unter anderem als Initiator des Ebenseer Museums, gewürdigt wird. Ein sorgfältig gestaltetes und sehr lesenswertes Taschenbuch zu Orten mit NS-Bezug im Salzkammergut von Thomas Neuhold ergänzt dessen bereits erschienenen Wanderführer Widerstand.Verfolgung.Befreiung in idealer Weise. Dem Verlag Anton Pustet in Salzburg ist zu dieser gelungenen Reihe im handlichen Format, das wirklich selbst in den kleinsten Rucksack passt, nur zu gratulieren.
Strassen-Neubenennung 2024: Betty-Kohn-Gasse.
Nachlese
Johannes Sachslehner: Sehnsuchtsort Bad Ischl und das Salzkammergut. Kral Verlag, Berndorf 2024.
Verena Wagner: Eine jüdische Gemeinde in Bad Ischl. OÖLA, Linz 2023.
Therese Hrdlicka: Komponisten auf Sommerfrische in Bad Ischl. Johannes Brahms, Anton Bruckner, Johann Strauss (Sohn), Franz Lehár, Leo Fall, Oscar Straus, Emmerich Kálmán. Hollitzer Verlag, Wien 2024.
Thomas Neuhold: Salzkammergut. Orte der Erinnerung. Verlag Anton Pustet, Salzburg 2024.
Alle Fotos: T. Walzer, mit freundlicher Genehmigung.
Aktuelle Veranstaltungshinweise in der Online-Ausgabe von Heft 141.