Ausgabe

Mario Levi s.a. ein letzter Don Quixote des Ladino

Robert Schild

Im März verstarb in Istanbul der 64-jährige jüdische Schriftsteller Mario Levi s.A., der auch deutschen Lesern mit seinem opulenten, teilweise autobiographischen Roman Istanbul war ein Märchen bekannt ist. 

Inhalt

Mario Levi war einer der wenigen und vielleicht der letzte türkische Autor, der auch des Judenspanischen (Ladino) soweit mächtig war, dass er in seiner letzten Schaffensphase in dieser Sprache zu schreiben wagte. Wie alle in der heutigen Türkei noch verbliebenen knapp über 10.000 Sefarden stammten seine Vorfahren aus dem mittelalterlichen Spanien, wo sie 1492 unter Zwangstaufe oder Verbannung wählen mussten. Schätzungsweise 150.000 von ihnen fanden im Osmanischen Reich Asyl, wo sie sich vornehmlich in den Hafenstädten von Thessaloniki bis Alexandrien niederliessen. 

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 Mit freundlicher Genehmigung des Everest-Verlags Istanbul (gul@alfakitap.com)

Seine Kindheit verbrachte Levi zwischen zwei Kulturkreisen: Die Eltern seiner Mutter, westlich-europäisch orientierte Spaniolen, sprachen neben ihrem Judenspanisch auch Französisch; man hörte zuhause Chansons und Opernarien. Andererseits lebte mit ihnen auch die Mutter seines Vaters, eine eher assimilierte Osmanin, die jedoch noch viel Wert auf das Ladino legte. Von ihr lernte der Junge unter anderem die Liebe zur orientalisch-türkischen „makam“-Musik und zur eher aussterbenden judenspanischen Sprache.

 

In einem längeren Interview mit dem türkischen Journalisten Fatih Türkyılmaz aus dem Jahre 2020 bezeichnet sich Mario Levi als „einen Aussenseiter, ein einsames und sehr schüchternes Kind.“ Er behielt seine Gefühle immer für sich und konnte nicht so leicht mit den Menschen kommunizieren, mit denen er das wollte. Vielleicht führte dies dazu, dass sein 1986 erschienenes erstes Buch, eine Biografie des Chansonniers Jacques Brel, den Titel Ein einsamer Mann trug – es war eine erweiterte Ausgabe seiner Diplomarbeit an der Fakultät für Französische Sprache und Literatur der Istanbuler Universität. Seine ersten Erzählungen schrieb er auf Anregung eines Studienfreundes ab 1976, und so begann „eine lange Vorbereitungszeit, von der ich nichts gemerkt habe [...] Plötzlich fängt man an, Geschichten zu schreiben. Ich war 19 Jahre alt. Ein junger Mann schreibt über den Schmerz der Liebe. Aber sie gehen nur so weit – denn am Anfang des Weges fragt sich jeder Schriftsteller, was er am besten erzählen kann und was ihn wirklich begeistern wird.“ 

 

Es sollten aber noch einige Jahre vergehen, bis Levi sein eigenes, spezifisches Umfeld als Autor entdeckte – seine Heimatstadt Istanbul mit ihrem reichen Kulturerbe. Während und kurz nach seiner Studienzeit versuchte sich der junge Mann als Kaufmann, Journalist und Werbetexter – und 1990 kam der literarische Durchbruch: Mit seinem ersten Erzählungsband Nicht in eine Stadt gehen zu können erhielt er prompt den renommierten lokalen Haldun Taner Kurzgeschichtenpreis. Eine weitere Sammlung von Erzählungen über das multikulturelle Leben in der Millionenstadt Istanbul folgte unter dem (griechischen) Namen Madame Floridis kann nicht mehr zurückkommen als Titelgeschichte. Ab 1993 begann Levi an seinem opus magnum, Istanbul war ein Märchen, zu schreiben, ein Werk, das er erst 1999 abschloss und veröffentlichte. Ein Jahr später brachte es ihm den begehrten Yunus Nadi Romanpreis.

 

Im Prolog zu seinem umfangreichsten Werk beschreibt Mario Levi seine Sehnsucht nach einem Identitätsgefühl als jüdischer Schriftsteller: „Schliesslich war ich ein wandernder Jude, dessen Ziel es war, ein eigenes Land zu gründen, es zu entdecken und darin zu leben. Wie jeder andere Jude war ich ein staatenloser Mensch.“ Auf insgesamt 804 Seiten werden die Geschichten von drei Generationen einer jüdischen Familie miteinander verwoben. Der Roman umfasst den Zeitraum vom Ende des Ersten Weltkriegs bis hinein in die 1980er Jahre. Dabei begegnet der Leser rund fünfzig Personen fast aller Ethnien und Konfessionen, die in Istanbul leb(t)en: „Istanbul war für mich immer eine Quelle der Inspiration (…), in der Tat eine Stadt, in der es nicht einfach ist zu leben, sogar recht schwierig – egal wie man sie betrachtet,“ sagte Levi dem Journalisten Türkyılmaz schon vor vier Jahren. Istanbul sei gross, übervölkert, mit riesigen Verkehrsproblemen: 

„[…] und man kann nicht immer mit den Menschen zusammen sein, die man liebt. Wenn sich all diese Dinge häufen, ergeben sich natürlich Schwierigkeiten. Aber es sind diese Schwierigkeiten, aus denen Literatur entsteht. Wenn ich zum Beispiel in einer Stadt leben würde, in der das Leben nicht so schwierig wäre, würde ich vielleicht nicht so viele Geschichten schreiben können.“ 

 

Andererseits betonte Levi ausdrücklich, es wäre „ein Privileg, ein Istanbuler zu sein. Denn wenn man sich die Stadt anschaut, hat sie eine Eigenschaft, die nur sehr wenige Städte haben: In Istanbul leben Ost und West zusammen.“ Zu seiner Religionszugehörigkeit bekannte Levi, er sei ein säkularer Jude, hätte aber „grossen Respekt“ vor der Bibel: „Nicht so sehr vor den darin enthaltenen Ritualen, sondern vor der Seele des Buches.“  Er könne sein Leben und seine eigene Existenz an der Bibel ausrichten:  „Wenn man sich zum Beispiel die Zehn Gebote ansieht, sagt G‘tt: Du sollst nie vergessen, dass ich dich aus Ägypten befreit habe. Meine persönliche Interpretation davon ist, dass man immer nach Freiheit suchen soll. Das ist für mich die Seele des Judentums!“

 

Mario Levi wuchs in einer nicht-orthodoxen jüdischen Familie auf, die er als „leicht konservativ“ bezeichnet. Er leugnet nicht den Missbrauch und die Schikanen, denen er als Jude ausgesetzt war, als er in einem überwiegend muslimischen Land aufwuchs: „Es war schon allein wegen meines Namens schwierig. Als ich in der Grundschule war, wurde ich sowohl von meinem Lehrer als auch von meinen Klassenkameraden stark antisemitisch behandelt. Das habe ich nie vergessen. Auch heute noch gibt es in der Türkei Diskriminierungen gegen Juden. Sie sind zwar nicht offiziell, aber immer noch da. Von Zeit zu Zeit muss ich zugeben, dass ich als Jude in der Türkei einigen peinlichen Situationen ausgesetzt bin.“ 

Was seine nationale Identität angeht, so fühlt sich Levi sehr türkisch. Er hat eine unbeschreiblich innige Liebe zur Sprache seines Handwerks:

Denn die Sprache, in der du als Kind auf der Strasse Ball gespielt hast, die Sprache, in der du deine erste Liebe hattest, die Sprache, in der du fluchst, wenn du sehr wütend bist, das ist deine Sprache, und diese Sprache war für mich Türkisch. Deshalb sage ich mir immer, dass meine tiefste Heimat das Türkische ist.“

 

Trotzdem wollte er über seinen eigenen Schatten springen und einen Romanzyklus über die Geschichte seiner Vorfahren angehen, die 1492 aus Spanien nach Istanbul gekommen waren. Er wollte über diese Migration erzählen – und zwar auf Judenspanisch. Als vierbändiger Roman sollte dieser Zyklus in Spanien beginnen, mit der Reise einer Familie aus Toledo nach Istanbul, und dann vom 16. Jahrhundert bis heute reichen: 

„Wenn G'tt mir das Leben schenkt, dann hoffe ich, dass es bis 2027-2028 dauert. Ich werde glücklich sein, wenn ich es erreichen kann.“

 

Es sollte nicht sein. Kurz vor seinem Tod überreichte Mario Levi den ersten Band dieser Geschichte der Linguistin Karen Scharhon von Sefardischen Kulturzentrum in Istanbul, die ihn sprachlich „fast makellos“ fand. Aber leider sollte Levis Geschichte seiner Vorfahren eine „Unvollendete“ bleiben.

 

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Nachlese

Interview von Fatih Türkyılmaz mit Mario Levi: “Benim en derin vatanım Türkçedir” für die Anadolu Ajansı; 4.4.2020 - https://www.aa.com.tr/tr/kultur-sanat/yazar-mario-levi-benim-en-derin-vatanim-turkcedir/1790807

Gespräch von J.P. O’Malley mit Mario Levi: “A wondering Turkish Jew” für die Times of Israel; 20.07.2013

https://www.timesofisrael.com/mario-levi-is-a-wondering-turkish-jew/

https://www.suhrkamp.de/buch/mario-levi-istanbul-war-ein-maerchen-t-9783518461372