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Amfortas klagt in Breitensee Die Deportation eines jüdischen Wagner-Liebhabers aus dem Gemeindebau

Robert Streibel

„Wehe! Wehe mir der Qual!“ singt Amfortas im Parsifal. Im Jahr 1939 sitzt Amfortas in einem Waggon und wartet auf die Fahrt ins Ungewisse. Zusammengepfercht mit mehreren Dutzend Menschen. Den Plan für diesen Transport hat Tristan ausgearbeitet.

Inhalt

Dies ist nicht Regietheater, sondern mörderische Realität der beginnenden Shoah. Der Amfortas des Jahres 1928 heisst Dr. Artur Fisch und der für die Deportation Verantwortliche ist Reinhard Tristan Heydrich, der zu diesem Zeitpunkt Leiter des Reichssicherheitshauptamts (RSHA) ist, einer „Superbehörde des Terrors“ (© Mario R. Dederichs). Das Ziel der ersten Deportation von Wien lautet Nisko am San. Am 20. Oktober 1939 verlässt der Zug mit mehr als 900 Juden Wien.

 

Opfer wie auch Täter hörten und liebten Richard Wagners Musik und wurden mit ihr gross. Heydrich ist mit Wagners Musik aufgewachsen, sein Vater hat in Bayreuth gesungen und daher seinem Sohn diesen Namen gegeben. Ob der Arzt Dr. Artur Fisch auf seiner Fahrt nach Nisko an Amfortas gedacht hat? Wer kann es sagen. Er hat nicht überlebt. Dem zweiten Juden, der den Amfortas in Wien gesungen hatte, gelang die Flucht ins Exil: Fred Destal musste bereits 1933 Deutschland verlassen und es hiess, dies sei aus politischen Gründen notwendig gewesen. Er hatte 1936 und 1937 den Amfortas an der Wiener Staatsoper gesungen, 1938 erhielt er aus „rassischen Gründen“ die Kündigung. Der einzige Hinweis auf die musikalische Begeisterung von Dr. Artur Fisch ist seine Mitwirkung an einer Privataufführung des Parsifal 1928. Das ist wohl eine Ironie des Schicksals: ein Jude singt den Amfortas und dies ist der einzige Beleg für seine Musikbegeisterung.

 

Die Kinder von Artur und Eleonore Fisch entkamen der Verfolgung. Sie überlebten, da ihre Eltern es geschafft hatten, zuerst für Georg (später George) und später für seine Schwester Vera Plätze für einen Kindertransport nach England zu bekommen, wo sie von der Familie Bennett aufgenommen wurden. „Dass was sie für Euch tun ist rührend. Erweist euch dieser Güte würdig und seid dem lieben G’tt dankbar, dass er euch in dieses Haus führte.“ Den letzten datierten Brief erhielten die Kinder wenige Tage bevor der Vater deportiert wurde. Der letzte Brief zum 12. Geburtstag für Georg dürfte im April 1940 geschrieben worden sein. Ab dann gab es keine Nachricht mehr. Die Kinder mussten bei ihren Gastfamilien mit der Aussicht leben, ihre Eltern wahrscheinlich nie mehr wieder zu sehen.


George hat das Buch mit dem Kapitel seiner Vergangenheit in Österreich geschlossen und niemals mehr geöffnet, er hat Österreich nie wieder betreten. Seine jüngere Schwester Vera war traumatisiert und vor Heimweh krank, sie begann bei sich eine eigene Erklärung für die Familientragödie zu finden und erklärte immer, ihr Vater sei ein grossgewachsener, blonder Pole gewesen sei, der das Pech gehabt habe, eine Jüdin geheiratet zu haben. Mit 16 Jahren wurde Vera getauft und die Religion gab ihre Hilfe und Halt. Ihre Kinder wollte Vera vor der Vergangenheit beschützen, sie wusste, sie stammte aus einer assimilierten jüdischen Familie in Wien und hatte vielleicht irgendwie Angst, mehr über ihre jüdische Verwandtschaft herauszufinden, weil das ihren Lebensentwurf zu bedrohen schien.

 

Erst der Enkel von Dr. Artur Fisch, Christopher Jack, hat es geschafft, sich der Geschichte zu stellen. Er wollte aus verschiedenen Mosaiksteinchen ein Bild der Zeit und des Lebens der Grosseltern in Wien gewinnen. Einiges hat er mit Hilfe der professionellen Familienforscherin Katja-Maria Chladek herausgefunden: Die Vorgeschichte der Familie in Lemberg konnte rekonstruiert und Verwandte konnten ausfindig gemacht werden. Vieles wird jedoch immer im Unklaren bleiben. Am Ende der Osterspielzeit des Parsifal in Wien, am 5. April 2024, wurde am Gemeindebau in der Breitenseer Strasse 110-112 eine Gedenktafel für sieben jüdische Familien, die hier gewohnt hatten, enthüllt. Das war ein Grund für Christopher Jack und seinen Bruder, aus England wieder nach Wien zu kommen. Zur musikalischen Umrahmung war Amfortas zu hören – sicherlich eine ungewöhnliche Musik für Opfer der Shoah.

Die Existenz dieser Gedenktafel ist das Ergebnis eines Citizen-Science-Projektes und den Volkshochschulen Hietzing und Penzing zu verdanken. Interessierte sollten mithelfen, die Geschichten der Jüdinnen und Juden von Penzing zu erforschen. Anne Maloney übernahm es, die Geschichten der Bewohner des Gemeindebaus zu recherchieren und nahm auch Kontakt zu den Nachkommen von Dr. Fisch in England auf. Nach einer Führung von Anne Maloney im Sommer 2023 stimmten sowohl der Bezirk als auch Wiener Wohnen dem Plan einer Gedenktafel zu. Durch die Förderung des Österreichischen Nationalfonds und des Österreichischen Zukunftsfonds gibt es jetzt dieses Erinnerungszeichen in Penzing.  

 

Mieczysław Artur Fisch wurde 23. Juni 1892 in der Nähe von Lemberg geboren. Sein Vater war Offizier in der Landwehr. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs studierte Artur bereits im siebten Semester Medizin und musste sein Studium unterbrechen. Vier Jahre lange diente er in der österreich-ungarischen Armee, zuerst im Osten und später an der italienischen Front. Er hat an allen elf Schlachten der Isonzo-Front teilgenommen. Im Jahr 1919 konnte er sein Medizinstudium in Wien abschliessen, kurz davor hatte er Eleonore in der Synagoge in der Unteren Viaduktgasse 13 geheiratet.

 

Als Arzt arbeitet Artur im Sanatorium Löw und soll unter anderem Prinzessin Marina von Griechenland und Dänemark, die später Prinz George, Duke of Kent, heiratete, behandelt haben. So lautet die Familiensaga. In einem Brief, der verloren gegangen ist, soll sich die Prinzessin in einem Brief an „Dr. Fisch“ für die gute ärztliche Behandlung bedankt haben. Eine weitere berufliche Station war eine Anstellung in der Kuranstalt Baden. Dr. Artur Fisch hatte hochfliegende Pläne, er erwarb ein Grundstück auf dem Semmering und wollte dort zusammen mit der Reformbaugesellschaft ein Höhenluftwellenbad errichten. Ein natürlicher Badestrand sollte angelegt werden, warme Brausebäder, komfortable Körperpflegesalons und Lehrstätten für Körperkultur sollten das Areal zu einem modernen Familienschwimmbad machen. In einem Artikel über dieses Projekt werden sogar die abgeschlossenen Verhandlungen mit der Bundesbahn vorgestellt. Ein 48-Stunden-Ticket hätte nicht nur die Fahrt von Wien, sondern auch den Eintritt ins Bad um 14 Schilling inkludieren sollen. Woran dieses so gross angekündigte Projekt scheiterte, hat sich bislang nicht eruieren lassen. Ein anderes Projekt zur Produktion von Vitaminpräparaten scheiterte ebenso und brachte Dr. Fisch eine Anzeige wegen Betrugs und fahrlässiger Krida ein.

 

Vielleicht lebte Dr. Artur Fisch in einer anderen Welt, in jener der Musik, wo vieles einfacher schien. Ob Artur Fisch mehrere Male als Sänger aufgetreten ist, darüber gibt es keine Belege. Seine Tochter Vera erzählte, er habe eigentlich immer gesungen. In der Familie in England wurde der Satz kolportiert, dass er als „doctor in residence at the Volksoper“ gearbeitet habe, möglicherweise hat er dort seine Dienste als Arzt im Gegenzug für Opernkarten angeboten.

Wie es zu Arturs Auftritt im Hauskonzert des Parsifal am Karfreitag 1928 in der Wohnung der Bankiersfamilie von Emil Bardach am Schottenring 23 kam, darüber können nur Vermutungen angestellt werden. Emil Bardach und Artur Fisch verband die Musik, beide lebten nicht von der Musik, sondern für die Musik. Bardach führte mit seinem Bruder Otto Bardach das von ihrem Vater 1885 gegründete Bankhaus, das sich auf den Handel mit Effekten-, Kommissions- und das Lombardgeschäft spezialisiert hatte. Der Erfolg der Söhne lässt sich auch angesichts der Notwendigkeit der Personalaufstockung, von vier auf 25 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Mitte der 1920er Jahre ableiten. Emil Bardach galt in Wien als der „dirigierende Banker“ und die Presseberichte bescheinigten ihm ein besonderes Geschick und Können. Die Zeitung Die Stunde schrieb, er habe es verstanden, „eine Schar musikverständiger Sänger- und Instrumentalamateure zu einer ernst zu nehmenden Musiziergemeinschaft zu erziehen.“ Bereits im Jahr 1925 hatte am Schottenring 23 eine Aufführung des Parsifal stattgefunden. Einige Akteure waren in beiden Aufführungen zu hören, zum Beispiel der wirkliche Amtsrat Franz Ludwig Kalek, ein Mitglied des Männergesangsvereins seit dem Ersten Weltkrieg, der zahlreiche Solopartien, wie zum Beispiel bei einem Konzert im Wiener Konzerthaus 1926, sang. Auch die Kundry war in beiden von Bardach dirigierten Aufführungen die Sängerin Nelly Lorbeer, die in mehreren Hauskonzerten des Bankiers auftrat. „Nichterwerbskünstler, aber „bühnenreife Vollblutmusiker“ hatte die Illustrierte neue Kronen Zeitung über das Ensemble schon 1925 geschrieben.


Artur Fisch war der unbekannte Neuling 1928 und hatte das Glück, im zweiten Akt neben einem professionellen Gurnemanz zu singen: Laurenz Piro war nach dem Konzert bei Bardach in dieser Rolle auch in der Wiener Volksoper zu hören. Piro war an verschiedenen Bühnen in Deutschland und der Schweiz und auch in New York und Chicago aufgetreten.

Ein Jude singt den Amfortas und leidet an einer Wunde, die sich nicht schliessen will – vielleicht hat er seinen besonderen, persönlichen Zugang zu dieser Rolle gefunden, eine Wunde, so blutig wie der Antisemitismus.

 

So gross die Gemeinsamkeiten in Sachen Musikbegeisterung zwischen Bardach und Fisch sind, gesellschaftlich und ökonomisch konnten die Unterschiede vor 1938 nicht grösser sein. Die Bardachs bewohnen ein Palais, Fisch lebt in einer Gemeindewohnung. In einer Beurteilung des Ansuchens um Unterstützung des Bankiers Bardach für seine Ausreise durch die Israelitische Kultusgemeinde heisst es, „wohnt in einer fabelhaft grossen und märchenhaft eleganten Wohnung seines Bruder“. Zusammengefasst in einem Satz: „Obere 10.000, Ansuchen ist ein Hohn.“ Als die Zeit der grossen Hauskonzerte am Schottenring fast vorbei war, begleitete Emil Bardach zumindest noch bei Konzerten in der Jüdischen Volkshochschule Sängerinnen am Klavier. Im Jahr 1938 betrug Emil Bardachs Barvermögen gerade noch 300 RM, doch er hatte Freunde, die ihn unterstützten, und sein Bruder war bereits in Amerika und unterstützte seine Ausreise. Erst im Dezember 1940 konnten Emil Bardach und seine Frau Deutschland verlassen. Zu jenem Zeitpunkt warteten die beiden Kinder der Fischs bereits vergeblich auf eine Nachricht von den Eltern. Artur konnte sich über die deutsch-sowjetische Grenze von Nisko nach Lemberg durchschlagen, wo er im Sommer 1944 starb. Eleonore Fisch wurde im Februar 1941 nach Opole deportiert, ihr Todesdatum ist nicht bekannt.

Die Musik hat es Emil Bardach ermöglich, im Exil zu überleben – Bankdirektoren aus Wien waren in Rio de Janeiro nicht sehr gefragt. In seinem Ausreisebogen hat Bardach als mögliche Beschäftigung Korrepetitor und Klavierlehrer angegeben. Als Reinhard Tristan Heydrich nach einem Attentat starb, organisierte Emil Bardach einen jüdischen Chor in Rio de Janeiro. Ob Bardach in Brasilien nochmals Wagner gespielt oder dirigiert hat, kann nicht gesagt werden. Spuren von Bardachs musikalischer Vergangenheit tauchten in den letzten Jahren auf. Im November 1939 war Bardach gezwungen, eine Viola und eine Mandoline sowie seine Notensammlung billigst abzugeben. Die von der Bachgesellschaft Leipzig 1875 herausgegeben Werke von Johann Sebastian Bach befinden sich heute im Archiv und der Musikinstrumentensammlung der Universitätsbibliothek Graz.

 

Von Dr. Artur Fisch werden wohl keine Hinweise auf seine musikalischen Aktivitäten auftauchen, und dennoch setzt sich die Tradition in der Familie fort. Musik war Artur so wichtig, dass er in einem der wenigen Briefe nach England seine Tochter an die Musik erinnerte und ihr vorschlug, ihre Gastfamilie zu fragen, ob sie ihren Klavierunterricht fortsetzen könne. Und wie steht es um die Musik Richard Wagners bei den Nachkommen von Artur und Eleonore Fisch? „Das liegt in den Genen“, scherzt Mr. Jack. Ungefähr zu der Zeit, als er mit der Recherche seiner Familiengeschichte begann, entdeckte er Richard Wagner für sich, und seitdem ist der Ring zu einem fixen jährlichen Bestandteil des Lebens geworden. Einmal im Jahr versucht er mit seiner Frau, einen Ring-Zyklus zu sehen. Dieser Wunsch hat sie schon nach New York, Mailand, Budapest, Bayreuth und San Francisco gebracht. Die Urlaube werden immer rund um den Ring geplant. Christopher Jack kommt ins Schwärmen: „Die majestätische Musik, die Leitmotive, die Kraft und Ausdauer, die die Hauptfiguren brauchen, die Wagner-Tuben, die gewaltige Orchestrierung. Für den Zuschauer ist es, wie ein Marathonlauf. Jedes Mal kann ich es nicht glauben bei vier Vorstellungen mehr als 14 Stunden im Opernhaus verbringen zu können, aber die Zeit vergeht immer wie im Flug und am Ende will ich alles noch einmal sehen.“ Dr. Artur Fisch hätte sicherlich seine Freude mit seinem Enkel.

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