Ausgabe

„Europäische Kultur“ am BeIspiel des KZ Ebensee

Michael Bittner

2024 ist Bad Ischl Europäische Kulturhauptstadt, eine Auszeichnung, die Freude macht. Nur: was ist denn „europäische“ Kultur? 

 

Inhalt

Die „Werte“ der Europäischen Union, die vor kurzem erfunden wurden, wie die „Freiheit des Warenverkehrs“? Oder historische „Werte“, etwa die Inquisition? Die Weltkriege? Au­schwitz? All das, was Europa in den letzten Jahrhunderten hervorgebracht hat? Die Intendantin freut sich auf ein „schönes Fest“ inklusive Conchita Wurst, also geht es in diese Richtung.1 Ich bin schon gespannt, was uns hier gezeigt werden wird. 

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Das KZ Ebensee 1945. Foto: J. Malan Heslop. Quelle: MSS P-661 # 1341MSS P-661], J. Malan Heslop Collection, L. Tom Perry Special Collections, Harold B. Lee Library, Brigham Young University, [http://contentdm.lib.byu.edu/digital/collection/JMHes/id/2547/rec/3 auf Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ebensee_Camp.jpg

Im Salzkammergut gab es als Beispiel für „traditionelle europäische Kultur“ das Konzentrationslager Ebensee, einen Ort, an dem der pervertierte Rationalismus brutal exekutiert wurde – wie wenige Kalorien reichen aus, um einen Schwerarbeiter gerade noch überleben zu lassen? Von Au­schwitz nach Mauthausen und von hier aus nach Ebensee – die Odyssee des jungen Zwangsarbeiters George D. Havas dokumentiert die Ausbeutung und die Leiden der Opfer der Shoah.2 Die Bevölkerung des Salzkammerguts wusste klarerweise von den Gräueln, sah sie doch den Zug der ausgemergelten Zwangsarbeiter vom KZ zur Tunnelbaustelle, ein Umstand, welcher der SS äusserst peinlich war. Also mussten die Unglücklichen einen unterirdischen „Löwengang“ zwischen Schlafstatt und Baustelle graben, damit ihr Tod auf Raten nicht so augenfällig erschien.3

 

Die Errichtung des Konzentrationslagers ab November 1943 hing mit der Raketenrüstung zusammen, die vor dem Bombardement der Alliierten geschützt unter die Erde verlegt werden sollte, ein Stollen „A“ für die Forschungsanlage aus Peenemünde, ein Stollen „B“ sollte Prüfstände für Raketen aufnehmen. Tatsächlich wurde in „A“ eine Raffinerie eingebaut, die teilweise noch vor Kriegsende in Betrieb ging.4 Als Nebenlager von Mauthausen wurde Ebensee von dort mit Zwangsarbeitern „versorgt“ und die Kranken und Sterbenden wurden dorthin zurückgeschickt, das Lager war marktwirtschaftlich orientiert (auch eine europäische Errungenschaft, wenn man Schottland noch zu Europa zählt). Seine Hauptaufgabe war nicht, wie in Auschwitz, die Tötung von Menschen, sondern die Raketenproduktion, an der auch Privatfirmen mitwirkten. Daher lag die Sterblichkeit im Lager bei etwa dreissig Prozent, war aber bei Facharbeitern geringer, die für die Produktion unersetzlich waren.5

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Vormaliger Appellplatz des KZ Ebensee mit Überlebenden, 8. Mai 1945. Foto: J. Malan Heslop. Quelle: https://collections.ushmm.org/search/catalog/pa9108 auf Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Former_appelplatz_at_Ebensee_with_survivors.jpg

Profit – ein typisch europäischer Wert – sollte gemacht werden, das musste auch der Lagerkommandant Otto Riemer zur Kenntnis nehmen, der am 23. Mai 1944 in betrunkenem Zustand mehrere Häftlinge erschossen hatte, ein Fehlverhalten, das auf Betreiben der Privatfirmen zu seiner Absetzung führte.6 Spezialisierung ist eine andere europäische Tugend, so auch bei den Konzentrationslagern. In Ebensee wurde mehr gearbeitet und weniger gemordet als in Mauthausen und dort wieder weniger als in Auschwitz. Dennoch drückt sich die antisemitische Geisteshaltung des Nationalsozialismus auch in den Opferzahlen aus: jüdische Häftlinge hatten die kürzeste Lebenserwartung in diesem Lager. Überraschenderweise konnten sowjetische Kriegsgefangene hier wesentlich länger überleben.7

 

Auch unter den „Funktionshäftlingen“ waren Juden unterrepräsentiert, unter den Kapos gab es keine, nur vier Blockälteste kamen aus dieser Häftlingsgruppe.8 Interessanterweise unterschieden die Schreiber bei den Listen die Herkunft bei Juden, so „U Jude“ für ungarische, von ihnen kamen allein 7.500 aus Auschwitz nach Ebensee.9 Die späte Befreiung des Konzentrationslagers am 7. Mai 1945 liegt aber nicht an der Zähigkeit der Bewohner des Salzkammerguts oder ihrer Treue zum Regime, sondern daran, dass bei Kriegsende viele SS-Männer und andere Nationalsozialisten auf der Flucht vor den Russen sich dort versteckten, irgendwo dort sollte ja auch die „Alpenfestung“ sein. So wurde Ebensee zum Lager für Nationalsozialisten, die von den Amerikanern gefangen worden waren, hierher kam das War Crimes Investigating Team, das sogleich die „Entnazifizierung“ einleitete.10

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Häftlinge des KZ Ebensee, 7. Mai 1945. Foto: Lt. Arnold E. Samuelson. Quelle: National Archives and Records Administration, National Archives Identifier (NAID) 531271, auf Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ebensee_concentration_camp_prisoners_1945.jpg

Führende NS-Grössen versteckten sich in der Umgebung, wie Robert Ley, Leiter der Deutschen Arbeitsfront, und der berüchtigte Gauleiter August Eigruber im Gasthaus „Steinkogel“, das unauffälligerweise der ehemaligen Landesbäuerin gehörte. Sie hatten weniger Glück als Anton Ganz, der Kommandant von Ebensee, der sich bis 1949 auf einem Bauernhof verstecken konnte. Ein beliebter Unterschlupf war auch die Schuhfabrik Panzl in Bad Ischl, ebenso die Wildenseealm bei Altaussee, wo Ernst Kaltenbrunner, der Chef des Sicherheitsdienstes, gefangen genommen wurde. Dazu fanden sich hier etliche Ortsgruppenleiter aus dem Osten, der ungarische GESTAPO-Chef Peter Hain sowie Oskar Senge aus Theresienstadt, alles „Zuagroaste“.11

 

Für die Einheimischen begann die Umerziehung bereits am 13. Mai 1945 im Hotel Post in Ebensee. Die Nationalsozialisten unter ihnen begingen nur sehr selten Selbstmord, dafür gab es viele Gnadengesuche. Die Anzahl der NSDAP-Parteimitglieder war nicht höher als anderswo (8.056 im Bezirk Gmunden), auffällig ist nur die extrem hohe Zahl der „Illegalen“ (3.564).12 Man war also im Salzkammergut gleich am Anfang dabei, aber dann nicht mehr ganz so begeistert.

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Aus der Totenliste. Foto: M. Bittner, mit freundlicher Genehmigung.

Ab Februar 1946 war die österreichische Bundesregierung für die Entnazifizierung verantwortlich, 1947 gab es ein neues NS-Gesetz mit strengen Richtlinien. Doch bald wurden Rufe nach einer Amnestie für „Minderbelastete“ laut und die ÖVP forderte die „endgültige Liquidierung des NS-Problems“.13 Bei der Rückstellung arisierten Eigentums war man langsam und vorsichtig, die diesbezüglichen Akten des Bezirks Gmunden füllen nur eine Schachtel.14 Die meisten ehemals jüdischen Villen hatten dauerhaft ihre Besitzer gewechselt, zumeist waren dies ehemalige Nationalsozialisten. 172 von ihnen versuchten übrigens, von der Gemeinde Ebensee „Entschädigungen“ für Arbeitsdienste einzuklagen, die sie strafweise hatten leisten müssen – ein in Österreich einmaliger Fall von Unverfrorenheit.15

 

Dann war lange Zeit Ruhe – bis zur Waldheim-Debatte, die Österreichs Sicht auf die eigene Vergangenheit deutlich veränderte. Viel wurde geschrieben, geredet und gedruckt, die Medien quollen über vor gut gemeinten Parolen gegen den Rechtsextremismus. Und dann störten am 10. Mai 2009 Jugendliche in Ebensee eine Gedenkfeier und griffen KZ-Überlebende an.16 Drei der fünf Neonazis wurden ausgeforscht und verurteilt, die Causa ging bis zum Obersten Gerichtshof.17 Da merkte man, dass die jahrelange Medien- und Bildungsarbeit nicht so erfolgreich war wie gedacht. 

 

Das ist auch in anderen europäischen Ländern so, besonders in Frankreich, auch in Deutschland und den Niederlanden. Antisemitismus ist keine österreichische Spezialität, ganz deutlich hat uns das die unsägliche Diskussion nach dem 7. Oktober 2023 gezeigt. Gehört er etwa zur – europäischen Kultur? Wir werden ja sehen, was uns die Kulturhauptstadt 2024 so alles bringt.

 

Anmerkungen

1 Raiffeisenzeitung Nr. 48/2023, 30.11.2023, S. 23.

2 Quatember, Wolfgang, George D. Havas. Die Kameradschaft der Zerschlagenen. Betrifft Widerstand (hrsg. Widerstands Museum), Ebensee o.J., S. 4-13.

3 Quatember, S. 10.

4 Freund, Florian, „Der Betrieb… kann mit Häftlingen durchgeführt werden“: die Raketenrüstung und das KZ Ebensee. Wien, BM für Unterricht, 1998, S. 11, 14f.

5 Freund, Florian, Die Toten von Ebensee: Analyse und Dokumentation der im KZ Ebensee umgekommenen Häftlinge 1943-1945, Wien, Braintrust 2010, S. 27-31, 340, 344. Sandgruber, Roman: Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart (1995) S. 434f.

6 Freund, Betrieb, S. 21.

7 Freund, Die Toten, S. 351f, 358.

8 Freund, Die Toten, S. 411.

9 Freund, Die Toten, S. 57, 381.

10 Quatember, Wolfgang: „Entnazifizierung“ im Salzkammergut. Zeitschrift des Zeitgeschichtlichen Museums und der Gedenkstätte Ebensee, Betrifft Widerstand Nr. 125, Juli 2017, S. 18.

11 Quatember, „Entnazifizierung“, S. 19f.

12 Quatember, „Entnazifizierung“ S. 20ff.

13 Quatember, „Entnazifizierung“, S. 23, 25.

14 Quatember, „Entnazifizierung“, S. 26, Anm. 41 Schachtel 306.

15 Bauer, Albrecht: Politische Geschichte(n) des Salzkammergutes. Von der Entstehung politischer Parteien bis zur Nachkriegszeit. Denisia Nr. 40 (2018) S. 47.

16 https://www.parlament.gv.at/dokument/XXIV/J/2100/fnameorig_158827.html abgerufen 29.11.2023.

17 https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Justiz/JJT_20110503_OGH0002_0120OS00030_11W0000_000/JJT_20110503_OGH0002_0120OS00030_11W0000_000.pdf abgerufen 29.11.2023.