Brüder, aber welche Gegensätze!
Inzwischen hatte Onkel Paul über Umwege in Erfahrung gebracht, wo genau sein Bruder in den USA lebte. Er versuchte sich mit ihm auf postalischem Wege in Verbindung zu setzen. Tatsächlich erhielt er bald darauf Antwort, und ein reger Briefwechsel der Brüder begann. Otto schrieb, dass er sich von seiner ersten Frau Anni scheiden hatte lassen und eine andere Frau, mit Vornamen Elisabeth, aber Lilly gerufen, geheiratet hatte. Lilly war ebenfalls von ihrem ersten Mann, dem Geiger, Dirigenten und Komponisten Albert Silbiger geschieden. Dieser Ex-Ehemann war unter seinem Künstlernamen Bert Silving bekannt und berühmt und zu seiner Zeit eine beliebte Musikerpersönlichkeit. Nicht nur, dass er häufig Gastdirigent an der ungarischen Staatsoper war, hatte er in der Pionierzeit des Österreichischen Rundfunks bei Radio Wien jahrelang einen fixen nachmittäglichen Sendetermin, zu dem er mit seinem Silving-Quartett aufspielte. Zudem komponierte er viele Wienerlieder und Melodien, landete sogar einen, heute würde man dazu „Hit" sagen, der mit den Worten: „Eines schönen Tages wird‘s vorbei sein...", begann und unter anderem auch von Kammersänger Erich Kunz interpretiert worden ist. Dass Bert Silving zu seiner Zeit eine sehr populäre Persönlichkeit war beweist die Tatsache, dass in Wien, im dreizehnten Bezirk, eine Gasse nach ihm benannt ist. Lilly und Bert hatten einen gemeinsamen Sohn, der Viktor hiess, jedoch nach der Flucht der Familie in die USA Vic gerufen wurde. Nachdem Lilly von Bert Silving geschieden worden war und Dr. Otto Braun, der noch beim berühmten Wiener Arzt Dr. Anton Eiselsberg assistiert hatte, kennen gelernt und bald darauf geheiratet hatte, zogen sie nach New York. Otto war durch den Arztberuf und seine florierende Praxis reich geworden und genoss das Leben mit seiner neuen Familie in vollen Zügen.
In einem seiner ersten Briefe an Onkel Paul kündigte Otto an, dass er jetzt, wo der Krieg in Europa vorbei war, einen Europa-Urlaub zu machen beabsichtige. Dabei wolle er bei einem Abstecher nach Wien Paul besuchen. Onkel Paul freute sich sehr über diese Nachricht. Auch Dorothea war auf das Kennenlernen neugierig und freute sich ebenfalls auf den angesagten Besuch. Insgeheim setzte Onkel Paul gewisse, fast grosse Hoffnungen in das Wiedersehen. Einerseits hatte er seinen älteren Bruder sehr, sehr lange nicht mehr gesehen und ebenso lange mit ihm keinerlei Kontakt gehabt, andererseits, dachte Onkel Paul, würde Otto sehen, in welcher Situation er mit seiner Familie im Heim leben musste, und ihnen bestimmt helfen. Nichts davon sollte wahr werden und sich zum Besseren wenden. Im Gegenteil, aus der gehegten Hoffnung Onkel Pauls resultierte eine weitere Enttäuschung, die ihn das kurze ihm noch verbleibende Leben lang begleiten sollte.
Der Termin des Wiedersehens rückte näher und näher, und an einem wunderschönen, heissen Sommertag bog ein eleganter, langsam fahrender, riesiger amerikanischer „Schlitten" von der Praterstrasse in die schmale Tempelgasse ein. Exakt vor dem „Judenhaus" hielt er an. Einige Anwohner der Tempelgasse, die sich wie Hans (der aber mit dem Wissen des kommenden Besuches gewappnet war) zum Fenster hinauslehnten und in die Gasse hinab sahen, staunten nicht wenig über den dunkelfarbenen Pontiac mit dem amerikanischen Nummernschild. Am liebsten hätte Hans ihnen laut zugerufen, dass dieser Besuch ihnen gelte, so stolz war er. Der rundherum chrombeschlagenen Limousine entstiegen Otto und Lilly Braun. Gemächlich das Heim und dessen Umgebung betrachtend, schritten sie über den Hof zum Tor und in den ersten Stock hoch. Das Wiedersehen der Brüder, sie fielen einander bereits im dunklen Gang in die Arme, liess beiden Tränen in die Augen schiessen. Sobald sie sich gefasst hatten, stellten sie einander ihre Frauen vor, und ein langes Erzählen, von allen Seiten mit vielen Fragen gespickt, ging los. Hans, der sich nur kurz zur Begrüssung im Zimmer aufhielt, lief danach sofort hinunter und schlich lange Zeit um das chromblitzende Fahrzeug herum, um dadurch allen neugierig auf das Auto gerichteten Blicken zu erkennen zu geben, dass er etwas mit dem Besuch zu tun habe. Otto und Lilly verhielten sich Onkel Paul, Dorothea, aber auch den Kindern gegenüber sehr steif und distanziert. Weder Otto noch Lilly liessen die geringste Regung erkennen, obschon sie bemerkten, dass hier in nur einem einzigen Raum und ohne den geringsten Komfort gehaust wurde. Sie übergingen das Gesehene, sahen es vielmehr als „Es ist halt so" an. Man hatte den Eindruck, sie seien der Ansicht, dass die einen eben Glück, die anderen Pech gehabt hätten. Mit dieser Gefühlskälte seitens seines Bruders hatte Paul nicht gerechnet. Er hatte vielmehr auf eine Überbrückungshilfe gehofft. Onkel Paul schämte sich vor Dorothea dafür, sich im Verhalten seines Bruders so sehr getäuscht zu haben und von diesem dermassen im Stich gelassen zu werden.
Während der paar Wochen, in denen sich die „Amerikaner" in Wien bzw. Europa aufhielten, wurden Dorothea, Paul und die Kinder von Otto zweimal zum Mittagessen, einmal zu einem Spaziergang in den Wienerwald und einmal in den Prater eingeladen. Alleine besuchten Otto und Lilly Konzerte, Theater- und Opernaufführungen. Ehe das Ehepaar seine Reise von Wien aus fortsetzte, besuchten Otto und Paul das Grab ihrer Eltern auf dem Wiener Zentralfriedhof am 4. Tor und beschlossen, den arg verwitterten Grabstein wieder herrichten und die Inschrift darauf erneuern zu lassen. Dann kam die Verabschiedung, denn die Reise der Verwandten ging weiter nach Italien und Spanien zu einem Kultur- und Badeurlaub. Von dort wurden von ihnen zwischendurch schöne, farbenprächtige Urlaubs-grüsse ins Heim nach Wien gesandt. Mit dem letzten Gruss, der aus Spanien kam, kündigte Otto an, dass sie nun per Schiff wieder nach Amerika zurück reisen würden, zuvor aber noch den schweren Pontiac verladen lassen müssten.
Zwei Jahre danach kamen die beiden abermals nach Europa, auch wieder nach Wien. Inzwischen hatte Otto den Pontiac gegen einen nicht weniger prachtvollen Oldsmobile eingetauscht. Dieses Mal kamen sie mit den Gedanken, Amerika den Rücken zu kehren und sich für immer in Wien niederzulassen. An Ottos Haltung gegenüber seinem Bruder hatte sich nichts geändert, und Onkel Paul hütete sich davor, noch einmal das leidige Thema von einst anzuschneiden, was auch im Sinne Dorotheas lag. Otto schaffte es tatsächlich, nach Wien zu übersiedeln. Geld spielte eine nebensächliche Rolle, es war genug vorhanden, eine geeignete Wohnung im vierten Bezirk in der Seisgasse zu kaufen, diese nach seinen und Lillys Bedürfnissen umzubauen und zusätzlich noch eine Arztpraxis einrichten zu lassen. Neben seiner Privatpraxis nahm Otto eine Anstellung als Amtsarzt der Gemeinde Wien an, was ihm einen weiteren, nicht unbedeutenden Verdienst eintrug. Nach kurzer Zeit wurde ihm gar der Titel Medizinalrat verliehen.
In Onkel Pauls Psyche gab es zwei Punkte, die ihn arg belasteten, von denen aber weder Hans noch Erika Kenntnis nahmen. Wenn überhaupt, so stach ihnen höchstens während der Anfangsphase ihres Zusammenlebens manchmal dieser oder jener ins Auge: Einmal, dass Onkel Paul wenige Zentimeter kleiner als Dorothea war, und zweitens, Onkel Paul gravierender belastend, dass er einen Geburtsfehler, nämlich eine plattgedrückte Nase hatte. Seine Nase sah so aus, als wäre sie von einem Boxhieb platt geschlagen worden. An diesem seinem, wie er dummerweise annahm, verunstalteten Aussehen litt er andauernd, auch wenn er stets bemüht war, sich diesbezüglich nichts anmerken zu lassen. Hans, bestimmt auch seine Mutter, mit welcher er darüber aber nie ein Wort wechselte, begriff nie und nimmer, dass Onkel Pauls Bruder, Dr. Otto Braun, niemals auch nur die geringsten Anstalten machte, Onkel Paul eine plastische Operation zu ermöglichen und damit diese psychische Last ein für alle Mal von ihm zu nehmen.
Gymnasium und erste Liebesgefühle
Hans besuchte die letzte Volksschulklasse. Mutter und Onkel Paul waren sich einig, den Knaben danach ein Gymnasium besuchen zu lassen. Er wurde im Wasagymnasium angemeldet und aufgenommen. Weil aber das Wasagymnasium kriegsbeschädigt war, wurde es provisorisch im Schottengymnasium untergebracht. Der Schuldirektor, ein alter, grossgewachsener und Respekt einflössender Herr, hiess Dr. Vogelsang. In der Volksschule hatte Hans nur eine Lehrerin gehabt. Jetzt, am Gymnasium, waren es auf einmal mehrere Lehrerinnen und Lehrer, die zudem „Professor" genannt wurden, und jeder unterrichtete ein eigenes Fach. Hans' Klassenvorstand lehrte Mathematik, hiess Dr. Maximilian Sames und war ein lustiger Pädagoge, wurde aber zum Leidwesen der Schüler ins Krottenbach-Gymnasium versetzt, das er als Direktor leiten durfte. Die frei gewordene Stelle des Klassenvorstandes übernahm Frau Dr. Baumann. Für den zum Gymnasium wesentlich länger gewordenen Schulweg musste Hans die Strassenbahn benützen. Schüler hatten ein Anrecht auf ermässigte Fahrtarife, wozu sie eine Streckenkarte benötigten. Auf dieser war die ganze Strecke vom Wohnort bis zur Schule eingetragen. Zusätzlich waren alle Linien vermerkt, die man benutzen durfte. Die Streckenkarte hatte nur an Werktagen Gültigkeit und war mit einer Marke versehen, die jeden Monat erneuert werden musste.
Nun verhielt es sich so, dass Hans nach Schulschluss häufig noch die Ausspeisung in der Leopoldsgasse aufsuchen musste, um dort sein Mittagessen einzunehmen. Um vom Gymnasium zur Ausspeisung zu gelangen, konnte er bis zum Schwedenplatz fahren, musste dort die Strassenbahn verlassen und von da die Taborstrasse bis zur Leopoldsgasse zu Fuss hinaufgehen. Es machte ihm nichts aus, denn er ging gerne zu Fuss. Einmal trat der Fall ein, dass er die Strassenbahn am Schwedenplatz zu verlassen vergass oder versäumte. Er bemerkte es erst, als sich die Garnitur in Bewegung setzte und nicht zur Aspernbrücke vorfuhr, sondern in die Taborstrasse einbog. Jetzt erst, als es bereits zu spät war, bemerkte Hans sein Versäumnis und hatte Angst davor, was der Schaffner mit ihm tun werde. Er hatte Angst, als Schwarzfahrer zur Rechenschaft gezogen zu werden. Schon sah er den Schaffner sich von der vorderen Plattform durch das Menschenknäuel im Wageninneren durchzwängen und auf die hintere Plattform, auf der Hans stand, zusteuern. Dann war er da, rief sein „Fahrscheine bitte", liess den Blick über alle Fahrgäste gleiten, drehte sich um und ging wieder in die andere Richtung zurück. Hans fiel ein Stein vom Herzen. Ihm war nichts geschehen, weshalb er auch noch die nächsten zwei Stationen schwarz weiter fuhr. Weil er dem Schaffner nicht aufgefallen war, nahm Hans sich vor, wenn er das nächste Mal zur Ausspeisung fahren musste, die zwei Stationen abermals schwarz zu fahren. Es klappte beim nächsten Mal ausgezeichnet und auch beim übernächsten Mal, und das freute ihn. Hans fragte sich, wie sich ein Schaffner all die Streckenausweiskarten, die ihm oft nur von Weitem gezeigt wurden, merken konnte? Es war ihm ein unerklärliches Rätsel.
Einmal jedoch geriet Hans an einen Schaffner, der ihn eines Besseren belehren sollte. Hans war beim Gymnasium in die Strassenbahn eingestiegen und hielt dem Schaffner, sowie der vorbei kam, seinen Fahrausweis hin. Dieser streifte den Ausweis mit einem flüchtigen Blick und ging wieder in die andere Richtung. Die Strassenbahn hatte den Schwedenplatz erreicht und bog in die Taborstrasse ein. Abermals bewegte sich der Schaffner von der vorderen Plattform auf jene zu, auf welcher Hans stand. Jetzt stellte der Schaffner sich so hin, dass er zwischen Hans und dem damals noch offen stehenden Ein- und Ausstieg stand und forderte ihn auf, nochmals den Ausweis zu zeigen. Hans zeigte ihm den Ausweis. Zugleich rutschte sein Herz in die Hose. Nachdem ihn der Schaffner gefragt hatte, warum er verbotenerweise auf dieser Strecke fahre und Hans ihm wahrheitsgemäss von der Ausspeisung erzählte, milderte sich dessen strenger Blick. Hans durfte den Ausweis wieder einstecken, wobei ihm der Schaffner, nur für Hans vernehmbar, zuflüsterte, dass dieser jedes Mal, wenn er ihn in Zukunft in einer Strassenbahn entdecken sollte, mit ihm mitfahren dürfe und keine Konsequenzen befürchten müsse. Hans bedankte sich, war sehr erleichtert, stieg aus und fuhr wirklich nur noch dann schwarz, wenn er diesen Schaffner in einer Garnitur erblickte, was ab und zu der Fall war.
Im Gymnasium lief vieles anders ab als zuvor in der Volksschule. Zudem bestanden Hans' neue Mitschüler zu einem Drittel aus Mädchen, und die Lehrer wurden mit den Titeln „Professor" oder „Doktor" angesprochen. Zu lernen gab es mehr und mehr, was für Hans ein grosses Problem war. Auf sich alleine gestellt war er, aus Verspieltheit und Gleichgültigkeit, zum selbständigen Lernen unfähig, konnte und wollte sich dazu nicht und nicht durchringen. Zudem hatte er niemanden zur Seite, der ihn dazu anhielt, ihn beaufsichtigte oder gar ihm helfen konnte, so er Probleme hatte. Abends, wenn Mutter und Onkel Paul heimkamen, hatten sie andere Sorgen, als Hans nach gemachten meist nicht gemachten Aufgaben oder Schulproblemen zu fragen, und er hütete sich wohl, das Thema anzuschneiden. So blieb es nicht aus, dass er schon im ersten Schuljahr zu einer Nachprüfung in Englisch verdonnert wurde. Dann waren sowohl Mutter wie auch Onkel Paul von ihm enttäuscht. Hans wurde mächtig ausgeschimpft. Dennoch wurde ihm ein auf den Zusatzverdienst angewiesener Student als Nachhilfelehrer zur Seite gestellt, der mit ihm über die Sommerferien den versäumten Stoff aufarbeiten musste. Es war eine Menge Geld, die Mutter und Onkel Paul für die Nachhilfestunden ausgaben, dabei hätten sie es viel nötiger für andere Sachen gebraucht. Hans bestand die Nachprüfung bei Professor Doppler, hatte aber daraus, dass er seine Ferien vergeudet hatte, nichts gelernt, denn er geriet auch im neuen Schuljahr ins gleiche Fahrwasser wie zuvor. Er lernte nur das Allernotwendigste, wäre aber, hätte er sich nur etwas bemüht, ein ausgezeichneter Schüler gewesen. Aufgaben machte er selten, oftmals erst kurz vor Unterrichtbeginn. Häufig liess ihn sein Schulfreund Roland Bardy aus seinem Erarbeitetem abschreiben.
In den leider so rasch verlaufenen zwei Jahren, während denen Hans das Wasagymnasium besuchte, war Roland sein bester Schulfreund geworden. Nicht deshalb, weil er einer der besten Schüler war und ihn oft abschreiben liess, sondern, weil sie einander oft abwechselnd ein Stück auf dem Nachhauseweg begleiteten. Unter den Mitschülerinnen gab es einige, die hübsch, sogar sehr hübsch waren. Auf ein solches Mädchen hatten mehrere Klassenkameraden ein Auge, Roland und Hans längst schon beide geworfen. Das Mädchen hiess Vera Korn, war sehr schlank und hatte hellblondes Haar, das immer zu einem neckischen Pferdeschwanz frisiert war. Wenn Vera einen ansah, meist tat sie es verstohlen, strahlte einem ein grünes Augenpaar entgegen. Es gab noch weitere hübsche Mädchen in der Klasse, wie die rassige und stolze Elisabeth Schubert, die ihr aussergewöhnlich dickes, langes Haar zu Zöpfen geflochten trug. Helga Holobek und Ingeborg Lesiow, beide brünett-blond, waren ebenfalls hübsche Mitschülerinnen. Helga war Veras Busenfreundin. Fast täglich wurde Vera von Helga nach Hause in die Rossauerlände begleitet. Natürlich bemerkten Hans und Roland dies, und so trotteten beide den Mädchen ab und zu im Abstand von etwa dreissig Metern hinterher. Dabei wurde zwischen den Knaben und den Mädchen viel geschäkert. Langten die Mädchen an Veras Wohnhaus an, verschwanden sie im Haus, um kurz danach auf dem strassenseitig gelegenen Balkon zu erscheinen und von diesem sodann eine Weile mit den auf der gegenüber liegenden Strassenseite harrenden Knaben weiter zu schäkern. Nach einer gewissen Zeit kam allen in den Sinn, dass noch anderes zu tun sei. Die Mädchen verschwanden in der Wohnung und die Knaben schritten, Roland den kürzeren, Hans den wesentlich längeren Weg vor sich habend, ihren Heimen zu. Im Klassenzimmer sass Vera in der ersten Reihe, Hans hingegen ziemlich weit hinten. Dennoch trafen sich zwischendurch, wenn auch verstohlen, ihre Blicke. Dann strahlte Hans mit seinen zwölf Jahren, denn er war in Vera, wenn auch nur platonisch, ungeheuer verliebt. Auch Roland hatte die hübsche
Vera ins Auge gefasst gehabt, doch mehr Chancen bei ihr - welche überhaupt? - räumte Hans sich selbst ein.
Hans freute sich sehr, wenn ihn der Zeichenprofessor vor den Mitschülern seiner tollen Arbeiten wegen lobte. Er wurde im Wasagymnasium nur von diesem Professor, er hiess Katzer, und vom Biologie Unterrichtenden jemals gelobt. Mit dem Letztgenannten, der ihm äusserst wohlgesonnen war, verscherzte Hans es sich einmal gründlich. Er hatte eine schriftliche Hausarbeit nicht gemacht gehabt, als der Professor ausgerechnet ihn aufrief, die Aufgabe aus dem Heft vorzulesen. Hans stand auf, hielt sein Heft, in welchem nichts geschrieben stand vor sich hin und begann, stotternd daraus zu zitieren. Professor Gebhardt, so hiess der Biologieprofessor, merkte bereits nach den ersten dahergestammelten Sätzen, dass Hans keine Aufgabe gemacht haben konnte. Er forderte ihn auf, nach vorne zu kommen, um ihm das Heft zu zeigen. Damit war der Schwindel aufgeflogen und Hans mit einer schlechten Note beurteilt.
Endlich eine eigene Wohnung
Es war um das Jahresende 1952, als Dorothea freudestrahlend mit der Mitteilung nach Hause kam, dass ihnen endlich eine Gemeindebauwohnung im zwölften Bezirk zugeteilt worden war, die sie im Frühjahr 1953 beziehen könnten. Sie und Onkel Paul waren schon seit einiger Zeit aus der KPÖ ausgetreten und zwecks in Aussicht gestellter Wohnungszuteilung zur SPÖ übergewechselt. Alle freuten sich unsagbar über diese so lange ersehnte Nachricht. Aus übergrosser Neugier fuhren Onkel Paul und die Kinder ein paar Tage später zu dem sich noch im Rohbau befindlichen Wohnblock in den zwölften Bezirk, um diesen und ihr zukünftiges Zuhause zu besichtigen. Als Hans die ihm so riesig vorkommende Wohnfläche von 52 Quadratmetern betrat, kam er aus dem Staunen nicht heraus. Er konnte sich nicht und nicht vorstellen, was man mit so viel Platz anfangen sollte. Sogar fliessendes Kalt- und Warmwasser, ein eigener Gasherd mit vier Flammen, ein Duschraum und ein eigenes Klosett waren vorhanden. Strassenseitig gelegen war ein Balkon angebracht. Noch war Hans nicht bewusst, dass er sich schon bald - erstmals in seinem bisherigen Leben, und dies mit über dreizehn Jahren - richtig würde waschen können. Nachdem sie sich satt gesehen hatten, fuhren sie schwärmend und dabei vielerlei Pläne schmiedend, rege plaudernd ins Heim zurück.
Hans stand wie sein Freund Heini nun im dreizehnten Lebensjahr. Das hiess bei Juden, dass ihnen die Bar-Mitzwah, das zum Mann-Erhoben-Werden, bevorstand. Hans, der sich auch im jüdischen Religionsunterricht keineswegs hervorgetan hatte, musste nun eine Anzahl Gebete, noch dazu in hebräischer Sprache, erlernen. Zum Glück hatte er in Frau Pollermann, einer Heimbewohnerin, beim Lernen eine grosse Stütze. Sie konnte gut Hebräisch lesen und lernte mit Hans alle Gebete, die sie ihm zuvor phonetisch aufgeschrieben hatte, auswendig. Zusätzlich mussten Hans und Heini gemeinsam einen sehr alten Herrn, er hiess Harmelin, welcher im Gebäude der Synagoge in der Seitenstättengasse wohnte aufsuchen, mit diesem weitere Gebete durchackern und gewisse Gepflogenheiten des Zeremonienablaufes während der Bar-Mitzwah-Feier üben. Besagter alter Lehrer hatte es mit den beiden Jungen nicht leicht. Die konnten nämlich zwischendurch ihr Lachen-Müssen nicht unterdrücken, was den Lernablauf häufig unterbrach. Da Hans keinerlei Verwandte hatte, die die Patenschaft zu seiner Bar-Mitzwah hätten übernehmen können, wurde ihm von der Kultusgemeinde ein freiwilliger fremder Herr zur Seite gestellt. Dieser fuhr mit ihm in die Mariahilferstrasse zum
Modegeschäft Haber, wo er für Hans einen grauen Anzug anfertigen liess. Es war der erste und für lange Zeit einzige Anzug, den Hans besass. Dermassen gut gekleidet ging Hans in Begleitung von Mutter, Erika und Onkel Paul zur Bar-Mitzwah in den Tempel in der Seitenstettengasse, dessen Oberrabbiner Herr Akiba Eisenberg war.
Der baldige Wohnungswechsel stand bevor, und vom Stadtschulrat kam ein Schreiben, in welchem Hans zu einem Schulwechsel aufgefordert wurde. Jetzt befand sich Hans in einer unbehaglichen Lage. Das Schreiben wies ihn an, dass, sowie der Wohnungswechsel stattgefunden habe, er in das Realgymnasium im 15. Bezirk in der Dieffenbachgasse überwechseln müsse. Diese Nachricht traf Hans hart, denn nicht nur, dass er sich von seinem liebgewordenen „Spezi" Roland verabschieden musste, hiess es auch, dass er seinen Schwarm Vera aus den Augen verlieren würde.
Durch die Turbulenzen des im Frühjahr 1953 in Angriff genommenen Umzuges von der Tempelgasse, in welcher er mit seiner Mutter Dorothea, seiner Schwester Erika und mit Onkel Paul an die sieben langen Jahre gehaust hatte, in den zwölften Bezirk, in die Pirkebnergasse, kam Hans nicht einmal mehr dazu, sich von seinen liebsten Mitschülern zu verabschieden.
Was aus ihnen geworden ist (Stand 2007)
Dorothea, geboren 1918, gestorben 1983, war Fremdenführerin.
Erika, geboren 1942, ist seit 2002 Hauptschul-Oberlehrerin in Pension.
Hans, geboren 1940, war Mâitre d‘hôtel sowie Vertreter und ist seit 2005 Pensionist.
Onkel Paul, geboren 1907, gestorben 1961, war Musiker.
Lilly und Otto Braun, gestorben in den 1970er Jahren, waren Hausfrau und Arzt.
Vic, Nori und deren Kinder leben in den USA, Nori starb 2003, Vic am 29. April 2007.
Vera Korn, geboren 1942, ist selbständige Juristin und heisst Kremslehner.
Roland, geboren 1942, ist nach einer Karriere in der deutschen Industrie Berater und Dozent für Wirtschaftswissenschaften.
Hans Gamliel wurde am 25. Dezember 1940 in Subotica, nahe der serbisch-ungarischen Grenze in der Vojvodina geboren. Seine Mutter Dorothea (1918 - 1983) stammte väterlicherseits aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie.1938 war sie vor den Nationalsozialisten mit Eltern, Geschwister und weiteren Verwandten aus Wien nach Serbien geflüchtet. Dort lebten sie auseinander gerissen bei verschiedenen serbischen Familien versteckt im Untergrund. Ein Grossteil der Familienangehörigen wurde jedoch aufgestöbert, deportiert und in Vernichtungslagern des Dritten Reiches ermordet. 1945 kehrte Dorothea Gamliel mit Sohn Hans und der um zwei Jahre jüngeren Tochter Erika, dabei vielerlei Hindernisse überwindend, über Umwege nach Wien zurück. Im Obdachlosenheim der Israelitischen Kultusgemeinde im 2. Bezirk fanden sie für die nächsten Jahre ein Zimmer. Ab Anfang der 1960er Jahre, arbeitete Hans aufgrund besserer Berufschancen im Gastgewerbe häufig in der Schweiz, wohin er 1984 nach Grub im Kanton Appenzell Ausserrhoden zu seiner Frau übersiedelt ist und noch heute dort lebt. Im Gedenken an seine leidgeprüfte Mutter und seinen ermordeten Vorfahren schrieb Hans Gamliel in den letzten zehn Jahren seine Familiengeschichte und Kindheitserinnerungen auf. Dabei erzählt er die Geschichte in der dritten Person. Ein Jahr seiner Kindheit 1948/49 verbrachte er auf Vermittlung der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde bei einer jüdischen Familie in der Stadt Basel.