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Nachlese zu einem Symposium über Zwi Perez Chajes

Evelyn ADUNKA

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Am 19. und 20. Dezember 2007 fand im Gemeindezentrum der Israelitischen Kultusgemeinde Wien das Symposium Das Vermächtnis von Zwi Perez Chajes anlässlich des 80. Todestages des Wiener Oberrabbiners statt. Von der Autorin initiiert und inhaltlich konzipiert, wurde es von Daniel Brandel und Agnes Buchegger von der ZPC-Schule organisatorisch vorbereitet und vom Schuldirektor, Hans Hoffer, moderiert. Unterstützt wurde die Veranstaltung von der IKG Wien, der Stadt Wien und dem Bundesministerium für Unterricht und Kunst. Im Rahmen eines Vorprogramms zeigte Hannah Landsmann im Schaudepot des Jüdischen Museums Wien hauseigene Objekte, die im Zusammenhang mit Zwi Perez Chajes stehen neben persönlichen Erinnerungsstücken und zwei Gemälden auch eine von Karl Duldig geschaffene Büste von Chajes. Sie war von dessen Tochter Eva de Jong-Duldig gestiftet worden und steht heute etwas versteckt in einer Ecke des Schaudepots.

Am Eröffnungsabend präzisierte Daniel Brandel das Ziel der Tagung, an das Wirken, das Vermächtnis und die Aktualität von Zwi Perez Chajes für die Wiener Juden zu erinnern. Danach sprach Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg, der aus seinem Büro auch ein Porträt von Zwi Perez Chajes zur Verfügung stellte. Er erinnerte sich daran, dass Chajes für seinen Vater, Oberrabbiner Akiba Eisenberg, ein großes Vorbild sowohl als Rabbiner als auch als Zionist gewesen war; beiden war gemeinsam, dass sie ihre Probleme mit dem nicht immer so zionistischen Kultusvorstand hatten. Laut Eisenberg war Chajes eine vielseitig begabte Persönlichkeit, die alles gut gemacht habe:

"Er war Wissenschaftler, Rabbiner, Politiker, er hatte eine soziale Ader, er war voll Liebe für die Jugend, und er wusste die allgemeine und die jüdische Bildung in seinem Wirken und in seinem Leben zu verbinden."

Der frühere israelische Militärrabbiner und Oberrabbiner von Zürich, Mordechai Piron, ein gebürtiger Wiener, versuchte in seiner Festansprache am Eröffnungsabend wortgewaltig dem Publikum Chajes als Persönlichkeit nahe zu bringen und fragte:

"Wer war dieser Mann, der das Judentum in Wien elektrisiert hat, Freunde und Feinde? Zu seinen Vorträgen drängten sich die Massen. Er war in seinem Benehmen äußerst bescheiden. In seiner Persönlichkeit aber war etwas Bezauberndes, Mystisches, aber er war auch offen für alle, die seiner Hilfe bedurften. Er sah sich als Repräsentant des Weltjudentums; er sprach immer im Namen des ganzen jüdischen Volkes. Er ging nach Wien und sagte, dass hier die wichtigsten Entscheidungen für das Weltjudentum fallen werden. Chajes war von einer ungeheuren Dialektik beseelt; es gab zwei Seelen in seinem Körper. Nur eine Persönlichkeit wie Chajes konnte diese Dialektik tiefster Art in eine Harmonie wunderschönster Art verbinden. Chajes war einerseits streng orthodox, andererseits ein moderner Rabbiner. Er war tolerant allen anderen gegenüber. Er war ein Visionär, er träumte von den Erfüllungen der Prophezeiungen der Propheten, andererseits war er aber ein ganz klarer Realist. Als Zionist war er davon überzeugt, dass die Befreiung des jüdischen Volkes die Befreiung der ganzen Menschheit bedeutete. Wir in Israel, sagte er, werden einen Staat aufbauen, der eine Leuchte für die ganze Welt sein wird. Das konnte natürlich nicht in Erfüllung gehen. Wir sind schon 130 Jahre in Palästina beziehungsweise Israel und es gab keinen einzigen Tag ohne einen Kampf."

Tullia Catalan, Professorin für jüdische Zeitgeschichte an der Universität Triest, sprach über die Amtszeit von Chajes als Oberrabbiner von Triest (1912-1918). Chajes war aus Florenz, wo er am Collegio Rabbinico Italiano gelehrt hatte, gekommen. Catalan zitierte Chajes' Lieblingsschüler Umberto Cassuto:

"He still was very young when he arrived among us. We were his pupils, but we were just a few years younger than him. We were amazed at his doctrinal superiority over us, in spite of such a little age difference [...] But we didn't appreciate him just as our master. We loved him immensely, especially  for his qualities as a man and for his being so good natured with us".

Während seiner Zeit in Triest und in Florenz wurde Chajes von italienischen Rabbinern, die aus der Schule des Rabbinerseminars von Livorno kamen, wegen seines Zionismus und seiner wissenschaftlichen Lehrmethoden scharf kritisiert. Die jüdische Gemeinde von Triest war zur Zeit von Chajes sehr assimiliert, viele Mischehen wurden geschlossen. Die jüdische Gemeinde hatte sich in einen italienisch-irredentistischen und in einen zionistischen, deutschen Flügel, der sich nach Österreich orientierte, gespalten. Im großen, 1912 eingeweihten Tempel, der heute noch existiert, wurde der deutsche Ritus eingeführt.

Die italienische Gruppe wurde von Rabbiner Israel Zoller angeführt; er stammte aus Brody und war seit 1911 Rabbiner in Triest. In späteren Jahren wurde er die umstrittenste Persönlichkeit des italienischen Judentums: Erst war er ein Anhänger des Faschismus, 1945 ließ er sich in Rom taufen. In seiner Autobiographie bekennt Zoller, dass er mit jeder Faser seines Herzens an Italien hänge; über seine Beziehung zu Chajes schreibt er:

 "Einer von uns beiden hätte durchaus ausgereicht, aber zu zweit waren wir einer zu viel. Und da jeder von uns ziemlich ehrgeizig war, gestalteten sich unsere Beziehungen von kühl bis gespannt, aber nie freundlich."

Bereits in Florenz hatte sich Chajes für Pro Cultura, ein Netzwerk zionistischer Jugendorganisationen engagiert. Diese Arbeit für die Erziehung der Jugend setzte er in Triest fort und gründete 1913 die Monatszeitschrift "Il Messagero Israelitico". Als das wichtigste Verdienst und Resümee seiner Amtszeit in Triest fasste Chajes selbst zusammen:

"Gewiss, ich kann nicht sagen, dass in Trieste meine Mission beendet ist, aber ich darf wohl sagen, dass die Abfallbewegung so gut wie aufgehört hat, ich darf sagen, dass ein grosser Teil der Jugend dem Judentum wieder gewonnen ist."

Klaus Davidowicz, Professor für Judaistik an der Universität Wien und seit 2001 auch an der ZPC-Schule, beschrieb in seinem Vortrag "Zwi Perez Chajes und die jüdische Erziehung" anhand von Zitaten anschaulich das Erziehungskonzept des Oberrabbiners und Schulgründers. Weiters sprach Davidowicz über die Verdienste des Oberrabbiners um die Gründung, den Aufbau und Erhalt der in der Notzeit nach dem Ersten Weltkrieg gefährdeten pädagogischen Institutionen der IKG Wien, das jüdische Realgymnasium (das spätere Chajes-Gymnasium), das hebräische Pädagogium und das Religionslehrerseminar.

Die Autorin nahm in ihrem Vortrag Bezug auf Gedenkartikel und Reden des Rechtsanwalts David Rothblum, des Rektors der Israelitisch-Theologischen Lehranstalt Adolf Schwarz, der Schriftstellerin Martha Hofmann, des Präsidenten des World Jewish Congress Nahum Goldmann und der Oberrabbiner Zwi Taubes, David Feuchtwang und Israel Taglicht aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Sie berichtete auch, dass 1937, zu Chajes' zehntem Todestag, eine von Paul Diamant und Tulo Nussenblatt zusammengestellte Ausstellung gezeigt wurde, und dass ein damals geplantes Sammelwerk über Chajes leider nicht mehr erscheinen konnte.

Auch nach der Shoah publizierten Wiener jüdische Zeitschriften Erinnerungen und Gedenkartikel für Chajes, verfasst von Bernhard Braver, dem ersten Amtsdirektor der IKG Wien, von Wolf Herzberg, dem kurzzeitigen Präsidenten der IKG Wien 1951, von Gustav Leitner, dem langjährigen Präsidenten des Zionistischen Landesverbands, von Isidor Oehler, dem Religionsschulinspektor der IKG Wien, vom Arzt und zionistisch-revisionistischen Aktivisten Wolfgang von Weisl, vom aus Wien gebürtigen Journalisten Jakob Rosenthal, vom Schweizer Rabbiner Lothar Rothschild und vom belgischen Oberrabbiner Pinhas Kahlenberg. Der letzte dieser Artikel erschien 1976. 1985 erinnerte sich der Judaist Jacob Allerhand in einer Broschüre „25 Jahre Zwi-Perez-Chajes-Loge" der B'nai B'rith an Chajes, der "einen neuen Rabbinertypus" begründet habe - "den des geistigen Oberhauptes und Sprechers der gesamten Judenheit."

Der Wiener Historiker Dieter Hecht erwähnte in seinem Vortrag "Erinnerungen an Oberrabbiner Zwi Perez Chajes in Israel" dessen Beziehung zur Hebräischen Universität. 1924 war Chajes' Berufung zu einer Professur gescheitert, weil er sich für die kritische Bibelforschung einsetzte. Trotzdem nahm er im Jahr darauf  an der feierlichen Eröffnung der Universität teil. Hecht beschrieb die von Anitta Müller-Cohen 1950 organisierte Überführung von Zwi Perez Chajes nach Israel. Da die Organisation mit der israelischen Fluglinie El Al aus technischen Gründen scheiterte, musste der Landweg gewählt werden. Finanziert wurde die Überführung durch die Kultusgemeinden Wiens und Triests sowie durch private Spenden. Chajes wurde auf dem alten Friedhof von Tel Aviv in der Trumpeldor Straße beigesetzt, wo auch zahlreiche andere bedeutende zionistische Persönlichkeiten ruhen. An der Beisetzung nahmen rund 4.000 Personen teil, unter ihnen der zionistische Veteran Isidor Schalit, der Bürgermeister von Tel Aviv, Israel Rokach, und der israelische Innenminister, Haim Moshe Schapira. Begleitet wurde die Überführung von zahlreichen Gedenkartikeln und Gedenkfeiern. 1957 spendete die IKG Wien außerdem einen Chajes gewidmeten Thoramantel für das von Anitta Müller-Cohen mitaufgebaute Kinderdorf Beer Ya'acov, das heutige Johanna Jabotinsky Youth Village. Im Zentrum von Tel Aviv wurde schließlich auch eine Straße nach Chajes benannt. Hecht ging noch kurz auf  Hugo Golds Plan eines Zwi-Perez-Chajes-Instituts in Tel Aviv ein, der von Golds Rivalität zu Josef Fraenkel in London, der ähnliche Pläne hegte, überschattet wurde.

Den Abschluss des Symposions bildeten die sehr persönlichen Erinnerungen an Zwi Perez Chajes von Nahum N. Kristianpoller, heute emeritierter Professor für Physik der Universität Tel Aviv. Sein Vater war Chajes sehr nahe gestanden. 1917 hatte Alexander Kristianpoller die Israelitisch-Theologische Lehranstalt in Wien absolviert und danach kurz als Rabbiner in Linz amtiert. Seit 1920 hatte er die Bibliothek der Lehranstalt geleitet und daneben am Theresianum Religion unterrichtet. Ab 1931 hatte er auch an der Lehranstalt Bibel und Liturgie gelehrt. 1938/39 scheiterte unter tragischen Umständen sein Versuch, in die USA auszuwandern, weil der amerikanische Konsul seinen Anstellungsvertrag nicht anerkannte. Kristianpollers väterliche Vorfahren waren Kreisrabbiner in Brody gewesen. Sowohl Zwi Perez Chajes als auch Alexander Kristianpoller hatten das deutsche Gymnasium von Brody absolviert. Beide trafen sich dann als Absolventen der Lehranstalt in Wien wieder und auch als sie in Linz beziehungsweise Triest wirkten, standen sie weiter in Verbindung. Kristianpoller erinnert sich noch gut daran, wie sein Vater 1925 dem Oberrabbiner ihn, seinen kleinen Sohn, vorstellte und Chajes ihn umarmte und in seinen Armen hochhob. Seine nächste Erinnerung betrifft bereits Chajes' plötzlichen tragischen Tod im Alter von 51 Jahren zwei Jahre später und den Nachruf von Rektor Adolf Schwarz. In Kristianpollers Elternhaus wurde noch lange Zeit danach über alles, was mit Chajes zusammenhing, gesprochen. Kristianpoller erinnert sich besonders an Gespräche über Chajes' Wirken für die Armen und die durch die Not der Nachkriegsjahre gefährdeten pädagogischen Institutionen der IKG Wien. Als Gymnasiast las Kristianpoller die inzwischen publizierten Reden und versuchte alles Erreichbare über Chajes zu lesen und zu erfahren. 1950 war er unter den zahlreichen österreichischen Juden, die Chajes bei der Beisetzung am alten Friedhof von Tel Aviv die letzte Ehre gaben.