404: Not Found
Der Tod eines Kindes bedeutet für die Eltern eines der schlimmsten und schmerzhaftesten Ereignisse des Lebens. Waren mit dem Kind viele Hoffnungen verbunden, so sind diese mit einem Male unwiderruflich zerstört. Zugleich werden die verwaisten Eltern dazu gezwungen, sich mit der Katastrophe auseinanderzusetzen, die in ihrer Vorstellung nicht existieren durfte. Aufgrund seiner Endgültigkeit erscheint es zunächst unmöglich, den Verlust des Kindes zu akzeptieren. Die Folge kann eine Lebenskrise sein, in der die Frage nach dem Sinn des Lebens und der eigenen Identität neu beantwortet werden muss.1
In der älteren Forschung wurde zumeist angenommen, dass bis ins 19. Jahrhundert hinein Eltern keine intensive emotionale Beziehung zu ihren Kindern aufbauten, da sie aufgrund der hohen Mortalitätsrate mit der Wahrscheinlichkeit des Kindstodes rechnen mussten. Diese Annahme ist bereits ansatzweise korrigiert worden.2 Unsere Vorstellungen von den unterschiedlichen Formen der Trauerverarbeitung bei Frauen und Männern sind stark von den traditionellen Weiblichkeits- und Männlichkeitsidealen der Vergangenheit geprägt und spiegeln sich als sozialisiertes Verhalten in den heutigen Untersuchungen wider.3 In bezug auf Männer wurden und werden gemeinhin Selbstbeherrschung, Stärke und Rationalität als selbstverständlich betrachtet. Es könnte also angenommen werden, dass historische Quellen die emotionale Trauer um ein verstorbenes Kind seitens des Vaters verschweigen oder zumindest unterdrücken.
Im Folgenden sollen zwei Erzählungen aus der jüdischen Literatur wiedergegeben und kurz analysiert werden. Beide Erzählungen entstammen in ihren wesentlichen Teilen dem Mittelalter, zeigen jedoch starke emotionale Bindungen zwischen einem Elternteil und dem verstorbenen Kind. In beiden Erzählungen sind es Väter, welche nach dem Verlust ihrer einzigen beziehungsweise letzten Söhne eine existentielle Krise erleben und ihren maßlosen Schmerz artikulieren. Während der erste Text aschkenasischer Provenienz ist, entstand der zweite Text im Wesentlichen im jüdisch-arabischen Kulturkreis. Diese uns aus hebräischen Werken bekannten Erzählungen wurden in der Frühen Neuzeit rezipiert und weiterentwickelt.
Die Trauer des verwaisten Vaters (Sefer Hassidim)
Die erste Erzählung findet sich im Sefer Hassidim (Buch der Frommen), das im Kreis der aschkenasischen Hassidim (12.-13. Jh.) entstand. Das von Gershom Scholem als „eines der bedeutendsten und denkwürdigsten Produkte der jüdischen Literatur"4 bezeichnete Werk ist ein Sammelbecken der vielfachen kulturellen Impulse jüdischer und nichtjüdischer Gesellschaften und spiegelt zugleich die Pogromerlebnisse der jüdischen Gemeinden in der Zeit der Kreuzzüge wider.5 Zumeist in unmittelbarem Bezug auf den Alltag ausgerichtet, gibt es Anleitungen, wie sich der Fromme schon präventiv Situationen entziehen kann, die ihn mit Versuchung und Sünde in Berührung bringen. Beschrieben wird unter anderem, wie man zu beten hat, die geeigneten Talmudlehrer und Lerngenossen findet und bestimmte Mizwot erfüllt. In gleicher Weise spielen jene Aspekte eine große Rolle, die das alltägliche Leben betreffen: Anhand anschaulicher Erzählungen werden Instruktionen gegeben, wie man die Notwendigkeit des Broterwerbs mit den Anforderungen des religiösen Lebens in Einklang bringt, wie man zu arbeiten und sich zu kleiden hat und sich zur christlichen Umwelt verhalten soll. Die vorliegende Erzählung setzt unmittelbar ein und schildert, wie ein Gelehrter, in Trauer über seinen verstorbenen Sohn, das Kind fortwährend ruft, bis ein Dämon in dessen Gestalt erscheint. Beendet wird der Text durch eine „Moral" (Promythion). Im Anschluss folgen konkrete Anweisungen, wie der Mensch mit Dämonenerscheinungen umzugehen habe, welche jedoch für den Untersuchungsgegenstand nicht weiter relevant sind.6
„[1.] Eine Begebenheit geschah einem Gelehrten (Talmid hakham), der einen Sohn hatte, welcher ein großer Talmudschüler (Bahur) war und den der Vater in der Tora unterrichtete. Und der Sohn verstarb ohne selbst Söhne zu haben. [2.] Und der Vater rief mit betrübter Seele: ´Josef, mein Sohn, komm Lernen.` Und wenn er Essen hatte, rief er: „Josef, mein Sohn, komm Essen." [3.] Ein Mal stand der Vater früh morgens auf, um zu lernen und rief: „Josef, mein Sohn, komm lernen", wie er ihn zu rufen pflegte als dieser noch am Leben war. So kam ein Dämon in der Gestalt seines Sohnes und stand ihm [plötzlich] gegenüber. [4.] Sofort begriff er, dass dies nicht sein Sohn, sondern ein Dämon war und spie ihn an und rief: ´Hinweg, hinweg mit dir, Unreinheit, entweiche von hier!` [5.] Und der Dämon entwich von ihm. [Epimythion] Der Mensch soll nicht zu sehr trauern."7
Wie diese Erzählung zeigt, wird auch im aschkenasischen Judentum des Mittelalters die emotionale Trauer von Vätern als verständlich und legitim empfunden.8 Jedoch möchte sie darauf aufmerksam machen, dass hier in Bezug auf das Maß der Trauer eine Grenze überschritten wurde. Entsprechend vermittelt die Erzählung folgende Lehren: A. Der Mensch soll sich in der Trauerverarbeitung mäßigen, da B. das Rufen Verstorbener Schaden verursachen kann. Der Vater vermag den Einbruch des Ungewöhnlichen und die Endgültigkeit des Verlustes nicht zu akzeptieren (Schockzustand): Er möchte - wie gewohnt - weiterhin mit seinem Sohn lernen [2.] und bleibt in seiner Trauerverarbeitung allein. Das Resultat ist das Erscheinen eines Dämons [3.], oder „modern" formuliert, Trugbildes, das dem Menschen dauerhaften (psychischen) Schaden zuzufügen droht. Erst als der Vater versteht, dass er sich der traurigen Realität stellen muss, kommt es zur Auflösung. Wie der Verwaiste mit seiner Trauer danach umgeht, wird nicht mitgeteilt.
Elhanan Henle Kirchhahn, der Verfasser des jiddischen Moralwerkes „Simhat ha-Nefesh" (Freude der Seele), rezipiert diese Erzählung mit wenigen Veränderungen.9 Im Anschluss erklärt er: „Daher darf man einen Toten nicht küssen und nicht zu ihm sagen: ´Nimm mich mit.` Denn dies ist eine große Sünde. Der Zaddik muss mehr leiden, damit er auf jeden Fall die zukünftige Welt (Jenseits) verdient."10 Das Motiv des Leidens als Prüfung des Gerechten ist schon sehr alt und begegnet uns zum Beispiel in der Gestalt des Hiob. Sofern der Mensch in seinem Leid untröstlich ist, kann dies von traditionell-religiösen Gesellschaften auch als ein Aufbegehren gegen den Ratschluss Gottes verstanden werden. Entsprechend bemüht sich die jüdische Moralliteratur, dem Tod von Kindern gelegentlich eine sühnende Funktion für die verwaisten Eltern zuzuschreiben. So erklärt Beer Perlhefter,11 der Hauptautor der jiddischen Populärenzyklopädie „Beer Sheva" (Sieben Brunnen):
„Das fünfte, durch das der Mensch vom Gehinom (Purgatorium) errettet wird, besteht darin, dass seine Kinder während seines Lebens sterben. So wird dieses Leid mit dem Gehinom verglichen. Hier ist aber zu fragen, warum Gott einen mit dem Kindersterben straft, so er fromm gewesen ist, und ihn davor nicht wegen seiner Gerechtigkeit oder Frömmigkeit schützt. So muss man das wissen, was wir schon viele Male erwähnt haben, dass nämlich der Kinderreichtum, die Erziehung und der Tod [der Kinder] nicht mit der Frömmigkeit oder Bosheit der Männer und Frauen zusammenhängen. Es kann mancher ein großer Zaddik (Gerechter) sein und darf doch keine Kinder zeugen oder aufziehen. Und mancher Gottlose hat mit seinen Kindern ein großes Glück und hat auch Freude an ihnen. Dagegen finden und sehen wir bei Johanan ben Sakkai [sic! Johanan ben Nappaha], dass er ein großer Hassid war und ihm trotzdem alle seine Kinder während seines Lebens gestorben sind. Also sieht man, dass die Kinder von dem Glücksstern [der Eltern] abhängig sind. [...] Jedoch wird das Leid, das Vater und Mutter wegen des Kindersterbens erleiden, zur Sündenvergebung angerechnet, als sollten sie im Gehinom ihre Sünde verbüßt haben [...]."12
Beer Perlhefter und seine Frau Bila hatten selbst sieben Kinder verloren. Ihr in drei Redaktionsphasen zwischen 1681-1702 entstandenes Werk „Beer Sheva" verstehen sie als Trauer- und Erinnerungsbuch und widmen jedem Kind einen Hauptteil.13 In ihren Ausführungen heben sie hervor, dass dem Leid über den Verlust des Kindes zwar eine sündentilgende beziehungsweise läuternde Funktion zukommt, aber umgekehrt dem Tod eines Kindes kein Vergehen des Elternteils zugrundeliegt: „Lebensdauer, Kinder und Nahrungserwerb hängen nicht vom Verdienst [der Frömmigkeit] ab", sondern sind auf den Ratschluss der himmlischen Welt zurückzuführen.14 Bei diesem biographischen Hintergrund ist es verständlich, dass - wie wir im Folgenden sehen werden - das Ehepaar immer wieder diese Themen aufgreift und unter anderem auch die obige Erzählung rezipiert.15
Die Trauer des verwaisten R. Johanan ben Nappaha (R. Nissim)
Der Ursprung der Erzählung „Der Tod von R. Johanans zehntem Sohn" ist im Traktat bT Brakhot 5b und bT Baba Batra 116a zu suchen. Innerhalb der rabbinischen Diskussionen wird der Ausspruch von R. Johanan ben Nappaha, einem palästinensischen Amoräer der zweiten Generation (ca. 180-279 n.d.Z.), für die Argumentation herangezogen: „Ist dies nicht der Knochen meines zehnten Sohnes!?" Dieser rätselhafte Hinweis und der Wunsch, das „Geheimnis" um seinen Hintergrund erzählerisch auszudeuten, führten offenbar dazu, dass bereits R. Nissim ben Jakob ibn Shahin (ca. 990-1062) aus Kairouan (Tunesien) auf eine schon recht weit entwickelte Version der Erzählung zurückgreifen konnte. In seinem Kommentar zum Traktat Brakhot schreibt er zur Stelle:
„´Ist dies nicht der Knochen meines zehnten Sohnes!?` R. Shrira und R. Haji Hamudo, gesegnet sei ihr Andenken, erklärten [dazu]: ´[1.] R. Johanan begrub zehn Söhne. [2.] Und als der zehnte von ihnen in einen großen Kessel fiel, der mit ungemein starker Hitze siedete und sein Fleisch zerschmolz und zerfloss, [3.] nahm R. Johanan einen Knochen von dessen kleinen Finger und band ihn in sein Seidentuch ein und tröstete mit ihm andere.`"16
Diese knappe Handlung berichtet nicht explizit von der Trauer des Vaters, jedoch wird diese stillschweigend vorausgesetzt. Der Erzähler geht davon aus, dass der Leser die Symbolik verstehen wird: Denn wenn R. Johanan schon neun Söhne verloren hat [1.] und er mit einem Knochen des zehnten Kindes andere zu trösten vermag [3.], muss er offensichtlich an diesem Erinnerungsmal bereits selbst Trost gefunden haben. Der Leser wird hier nicht mit dem Prozess der Trauerbewältigung, sondern bereits mit dem Ergebnis desselben konfrontiert: R. Johanan hat das traurige Ereignis verarbeitet und vermag anderen in der Trauerarbeit Hilfestellung zu geben. Damit wird er zum Vorbild. Sowohl Samuel Shulam, Herausgeber der Historiographie Sefer Yuhasin von Abraham ben Samuel Zacuto (1452- ca. 1515),17 als auch David Gans (1541-1631), Autor des „Zemah David",18 rezipieren diese Erzählung ohne große Veränderungen. Weiterentwickelte Versionen dieser Geschichte befinden sich in den Erinnerungen der Glikl von Hameln19 und in der bereits oben angeführten Populärenzyklopädie „Beer Sheva". Eingebettet ist die Erzählung in eine der ersten jiddischen Übersetzungen eines kabbalistischen Textes aus dem Buch Sohar, in welcher die sieben himmlischen Hallen der göttlichen Welt beschrieben werden.20
„[Promythion] Und Gott nimmt nicht einen jeden [...] als Freund an, sondern er prüft ihn auf der Welt mit Züchtigungen oder mit Elend oder mit dem Leid des Kindersterbens - [1.] wie [dies] bei R. Jochanan [der Fall war]. Er war ein großer 21> Hassid (Frommer), dem alle neun Söhne starben und auf sein Alter nur ein kleines Knäblein von drei Jahren behielt. [2.] Und es trug sich zu, dass seine Leute ihr [Wäsche-]Zeug wuschen und das Kesselwasser über das Feuer stellten, um zu waschen - und es siedete und sprudelte über und über. Und es war eine Bank bei dem Kessel, auf die man die Wäsche legen wollte. [3.] Und sie setzten das Kind auf die Bank und machten sich über ihn keine Gedanken mehr. [4.] Und das Knäblein stand auf und wollte in den Kessel sehen, wie dies bei Kindern Gewohnheit ist. Und die Bank stand nicht gerade - und so kippt sie mit dem Knäblein und es fiel in das sprudelnde Kesselwasser und machte ein jämmerliches Geschrei. Und alle Leute erschraken und liefen alle zugleich zum Kessel. [5.] Und als der Vater es geschwind herausziehen wollte, so blieb nur ein Finger von dem Knäblein an seiner Hand hängen, denn es war schon alles zerkocht. [6.] Und er schlug sich den Kopf gegen die Wand. [7.] Und er lief in das Lehrhaus und schrie seinen Gelehrtenschüler entgegen: ´Betrauert meinen Leidensstern. Das ist nun das Knöchelchen meines zehnten Sohnes, den ich als Opfer vor Gott dargebracht habe!` [8.] Und hinfort hing er sich das Knöchelchen als ein Gedächtnis um seinen Hals. Und wenn ein fremder Gelehrter zu ihm kam, so zeigte ihm das Knöchelchen mit der Freude, als wollte er ihm sein Knäblein zeigen.
[9. Anhang] Und er war dazu ein großer Hassid (Frommer) und ein Gelehrter in Gemara und Mishna und verstand auch das Thronwagenwerk und das Schöpfungswerk [Aspekte der Kabbala], konnte auch die Engel und Dämonen beschwören und war ein großer Kabbalist, verstand, was die Sterne im Himmel [für Ereignisse] andeuten, wie auch, was die Verwandlung der Blätter der Bäume bedeutet, und doch wurde ihm ein solches Leid zuteil! Und er nahm es von Gott an und blieb ein Hassid bis an sein Lebensende. [Epimythion] So prüft Gott einen jeden Zaddik und Gelehrten zu bestimmten Zeiten, um zu sehen, ob er ein [wahrer] Freund ist..."22
Auch in dieser Erzählung lernt der Leser einen Protagonisten kennen, der durch den Verlust seines Sohnes eine existentielle Krise erlebt und diese emotional artikuliert. Dadurch, dass die Erzähler darauf hinweisen, dass R. Johanan bereits neun Söhne verloren hat und es sich bei dem zehnten Sohn um ein Kleinkind handelt, verstärken sie die tragischen Aspekte des Ereignisses. Im Gegensatz zur Erzählung aus dem „Sefer Hassidim" wird dem Publikum ein Gelehrter vorgestellt, der in seiner Trauerbewältigung die zulässige Grenze nicht überschreitet. Zwar schlägt er in seinem großen Leid den Kopf gegen die Wand und droht schier wahnsinnig zu werden [6., Schockzustand und Klimax], jedoch zeigt bereits sein Lauf in das Lehrhaus den Unterschied zum Protagonisten zur ersten Erzählung an: Dieser Vater akzeptiert die Katastrophe. Er zieht sich nicht in seine Einsamkeit zurück, sondern begibt sich in das Kollektiv seiner Lerngenossen und Schüler, welche er nicht nur zur Anteilnahme auffordert [7.,], sondern sich ihnen zugleich als Vorbild empfiehlt. Denn statt mit dem göttlichen Ratschluss zu hadern, präsentiert er unaufgefordert die Zeichen seiner Gottesliebe und Opferbereitschaft [7.-8.] Im Lobpreis des Gelehrten [9.] weisen die Autoren erneut darauf hin, dass der Verlust von Kindern nicht in einen Tun-Ergehen-Zusammenhang eingeordnet und demnach nicht auf die Sünden der Eltern zurückgeführt werden kann. 23 Denn von diesem Schicksalsschlag kann auch der frömmste und bestens gebildete Mensch getroffen werden. Sowohl im Lobpreis als auch im Promythion und im Epimythion taucht wiederum das Motiv auf, dass dem Gerechten Leiden auferlegt werden, um ihn hinsichtlich seiner Gottesliebe und Treue zu prüfen.
Beide Erzählungen, die sich vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit entwickelt haben, weisen eine emotionale Beziehung zwischen einem Elternteil und ihren verstorbenen Söhnen auf. In beiden Fällen handelt es sich um verzweifelte Väter, welche angesichts des unverständlichen Verlustes an ihre Grenzen geraten. Der erste Vater vermag die Endgültigkeit des Todes nicht zu akzeptieren, verschließt sich in seiner hoffnungslosen Einsamkeit und droht dadurch einen immensen Schaden zu erleiden. Hingegen tritt der zweite Vater, welcher diese Erfahrung zum zehnten Mal machen muss, die Flucht nach vorne an und begibt sich in seine Gesellschaft, von der er aufrichtige Anteilnahme und Verständnis erwarten kann. Sein Weg macht ihn zum Vorbild für andere - in der einen Version, weil er andere zu trösten vermag, in der anderen, weil er sein Leid als Opfer begreift. Dem heutigen Menschen mag es schwerfallen, das unbegreifliche Leid über den Verlust eines geliebten Kindes als Prüfung und Zeichen der Gottesliebe zu verstehen. Dennoch kann die Tradition des Judentums angesichts solcher Schicksalsschläge eine Hilfestellung sein. Die Trauer, vor allem jene um nahe Verwandte, darunter Söhne, ist halachisch geboten,24 jedoch zugleich zeitlich beschränkt. So erklärt Josef Karo: „Man darf sich über einen Toten nicht übermäßig betrüben." Im Anschluss zählt er Zeitangaben für verschiedene Phasen der Trauer auf. In der modernen Kurzfassung des „Shulhan Arukh" gibt Salomo Ganzfried mit Hilfe der rabbinischen Literatur eine schöne Erklärung:
„Drei Tage sind für das Weinen, sieben für die Trauer und dreißig für das Verbot gebügelter Gewänder und des [Haare]scherens. [...] Von da und weiter sagt der Heilige, gel.[obt] sei Er, dürft ihr auch nicht mehr als Ich über ihn trauern! [...] Doch weine man nicht mehr als dreißig Tage über ihn, denn er ist nicht mehr als unser Lehrer Mosche, von dem es heißt (Deut. 34,8): ´Sie beweinten Mosche dreißig Tage.`"25
Ziel dieser Trauerbegrenzung ist es, dem Menschen zunächst eine gewisse Zeit für die unabdingbare Trauerbewältigung zu geben, ihn aber gleichzeitig wieder sukzessive in das alltägliche Leben zurückzuführen. Dass heißt jedoch nicht, dass der Verstorbene vergessen wird. Im Gegenteil, die jeweiligen Gedenktage gebieten, sich seiner zu erinnern. Während in unseren modernen Gesellschaften der Trauernde oft alleine gelassen wird und der Sprachlosigkeit begegnet, sieht die Tradition die Begleitung des Betreffenden (z.B. Shiva, Shloshim) durch das Kollektiv vor. Hierdurch wird die Trauer quasi institutionalisiert, um den Angehörigen Schritt für Schritt eine Teilnahme am öffentlichen Leben zu ermöglichen. n
1 Vgl. Fleck-Bohaumilitzky, Christine: Begleitung trauernder Mütter, Väter und Geschwister. In: Das Online-Familienhandbuch des Staatsinstituts für Frühpädagogik (IFP) Herausgegeben von Wassilios E. Fthenakis und Martin R. Textor: http://www.familienhandbuch.de/cmain/f_Aktuelles/a Haeufige_Probleme/s_346.html (20.5.2008).
2 Vgl. u.a. die Literatur bei Shahar, Shulamith: Kindheit im Mittelalter. Düsseldorf 2003, 178-185, 351-353 und Berger, Ruth: Sexualität, Ehe und Familienleben in der jüdischen Moralliteratur (900-1900). Wiesbaden 2003, 269-276.
3 Vgl. dazu u.a. Kersting, Anette: Geschlechtliche Unterschiede im Trauerverlauf. In: Psychodynamische Psychotherapie (2007) 6, 39-46; Kersting, Anette: Trauern Frauen anders als Männer? Geschlechtsspezifische Unterschiede im Trauerverhalten nach dem Verlust eines Kindes. In: Psychotherapeut (2005) 2, 129-132.
4 Scholem, Gershom: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt a. M. 1967, 90.
5 Zur inzwischen umfassenden Forschungsliteratur vgl. Grözinger, Karl-Erich: Jüdisches Denken. Theologie - Philosophie - Mystik. Bd. 2. Von der mittelalterlichen Kabbala zum Hasidismus.Wiesbaden 2005, 82-88; siehe auch 64-82. Vgl. u.a. auch die danach erschienen Beiträge im Forum des Jewish Quarterly Review, Vol. 96 (2006) Nr. 1.
6 Die arabischen Ziffern sollen die Unterteilung der Erzählungen in Motive ermöglichen, um die zentralen Handlungsstränge des Textes nachvollziehen zu können.
7 Sefer Hassidim [Bologna], she hiber Jehuda he-Hassid ... [Ed.] Re`uven Margaliot. Jerusalem 2004, §236. Vgl. auch Sefer Hassidim al-pi Nussah Kitve Jad asher be-Parma ... [Ed.] Jehuda ha-Kohen Wistinezki. Berlin 1891 [Reprint Jerusalem 1998], §327.
[1.] Vorstellung des Protagonisten und Exposition: Einem Gelehrten stirbt der vielversprechende (einzige) Sohn, ohne selbst Söhne hervorgebracht zu haben. [2.] Wie gewohnt, ruft der Gelehrte weiterhin seinen Sohn namentlich zum täglichen Torastudium. [3.] Als der Gelehrte eines Morgens erneut seinen Sohn ruft, erscheint ein Dämon in dessen Gestalt. [4.] Der Gelehrte erkennt den Dämon und beschwört ihn. [5.] Der Dämon verschwindet. [Epimythion] Der Mensch soll nicht zu sehr trauern.
8 Die Trauer des Vaters bezieht sich auf seinen offenbar einzigen geschlechtsreifen, jedoch unverheirateten Talmudschüler, welcher - und dies wird betont - noch nicht das Fortpflanzungsgebot erfüllt hat. (Vgl. u.a. Gen. 1,28; mJevamot 6,6; bT Jevamot 65b; RaMBaM: Mishne Tora, Hilkhot Ishut §15; Josef Karo: Shulhan arukh, Even ha-eser §1,1.) Ferner war der Verstorbene ein vielversprechender Schüler (Bahur gadol), so dass mit dem Tod auch die Traditionskette unterbrochen und die Weitergabe eines geistigen Erbes, nämlich die Tora des Gelehrten, nicht mehr gewährleistet ist (Vgl. u.a. bT Baba Batra 116a). Bei der Trauer des Vaters scheint hier vor allem letzter Aspekt im Vordergrund zu stehen: Der Gelehrte ruft seinen Sohn überwiegend zum gemeinsamen täglichen Torastudium.
9 Vgl. zum Werk Riemer, Nathanael: Simchat ha-Nefesch. „Thora" der Ungebildeten und „Medizin" für Körper und Seele. In: PaRDeS. Informationsblatt der Vereinigung für Jüdische Studien e.V. (April 2004) Nr. 8, 14-33 (online: http://opus.kobv.de/ubp/volltexte/2008/2295/) und Baumgarten, Jean: Introduction to Old Yiddish Literature. New York, 209-213, 271-273.
10 Elhanan Henle Kirchhahn: Simhat ha-Nefesh (Frankfurt 1707), Bl. 6b-7a, hier Bl. 7a.
11 Vgl. zum Autor: Riemer, Nathanael: Zwischen christlichen Hebraisten und Sabbatianern - der Lebensweg von R. Beer und Bila Perlhefter. In: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden. 14 (2004) 1, 163-201.
12 Bila und Beer Perlhefter: Beer Sheva. Bodleian Library Oxford 148, Bl. 67a (22a)-67b (22b). Das Manuskript wird im Folgenden als BS/O zitiert. Vgl. auch Israel ben Josef al-Nakawa: Menorat ha-Ma`or. Bd. 4. New York 1929-1934, 133-134.
13 Bila und Beer Perlhefter: Beer Sheva. Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt Ms. Hebr. Oct. 183, 125a. Im Folgenden mit BS/F zitiert. Die Edition der Frankfurter Version von „Beer Sheva" ist in Vorbereitung (Riemer, Nathanael; Senkbeil, Sigrid: Beer Sheva - eine jüdische Populärenzyklopädie des 17. Jahrhunderts (voraussichtlich 2010). Dazu wurde soeben eine Dissertation abgeschlossen. Riemer, Nathanael: Wissensvermittlung im Judentum der Frühen Neuzeit anhand des Werkes Beer Sheva (voraussichtlich 2010).
14 Vgl. u.a. bT Moed katan 28a; Sohar II, 266a.
15 BS/F, 125a.
16 Im Anschluss an die Erzählung überliefert R. Nissim eine andere Information: „Und es gibt einige, die sagen, dass ihm ein Sohn übrig blieb; und sein Name sei R. Matna, und man habe ihn aus dem Land Israel nach Babel geschickt, um Tora unter Shmuel zu lernen." R. Nissim ben Jakob: Clavis Talmudica. Sefer ha-Mafteah shel Manule ha-Talmud. Wien 1847, 13.
[1.] Vorstellung des Protagonisten: R. Johanan verlor zehn Söhne. [2.] Waschtag und Schilderung des Unfalls. [3.] Er überwindet die Trauer und tröstet andere.
17 Abraham ben Samuel Zacuto: Sefer Yuhasin ha-shalem. Jerusalem 2004, 213; Abraham ben Samuel Zacuto: Liber Juchassin. Ed. Zvi Hirsh Filipowski. London 1857, 150-151.
18 David Gans: Zemah David. Vol. 1. Warschau 1878, S. 41. Leider steht mir momentan nicht die von M. Breuer edierte Ausgabe zur Verfügung. Gans, David: Zemah David. A Chronicle of Jewish and World History (Prag 1592). Ed. by Mordechai Breuer. Jerusalem 1983.
19 Glikl. Memoires. Ed. Turniansky, 238 note 529. Ein Vergleich der beiden jiddischen Texte findet sich unter Riemer, Nathanael: Some parallels of stories in Glikls of Hameln "Zikhroynes". In: PaRDeS. Zeitschrift der Vereinigung für Jüdische Studien e.V. (2008) Nr. 14 , 125-148 (online: http://opus.kobv.de/ubp/volltexte/2008/1917/)
20 BS/F, 11a-27b, Vgl. Sohar I, 41a-45b; II, 244b-268b; Moshe Cordovero: Pardes Rimmonim. Jerusalem 1999, Tor 24, 395-404.
21 Das Wort „Zaddik" ist gestrichen. Offenbar ist sich der Kopist der Handschrift über die Terminologie von Zaddik und Hassid im Unklaren.
22 BS/F, 13b. [Promythion] Gott prüft den Frommen mit Leiden, um seine Gottesliebe zu testen. [1.] Vorstellung des Protagonisten und Exposition: R. Johanan, ein außergewöhnlicher Gerechter, hat bis auf seinen zehnten Sohn alle seine Söhne verloren. [2.] Waschtag und Schilderung der Szene. [3.] Auftritt des unbeaufsichtigten Kleinkindes. [4.] Der Unfall: Der Junge fällt in das Wasser und die Leute stürzen herbei, um ihn zu retten. [5.] Der Vater unternimmt einen Rettungsversuch. [6.] Nach dem erfolglosen Rettungsversuch wird der Vater von der Trauer überwältigt. [7.] Er überwindet die Trauer, bewährt sich in der Frömmigkeit und Gottesliebe. [8.] Er zeigt den Knochen anderen Gelehrten als Zeichen des Opfers und der Erinnerung. [9.] Erneute Bestätigung der Gelehrsamkeit und Frömmigkeit des Vaters. [Epimythion] Gott prüft den Frommen mit Leiden, um seine Gottesliebe zu testen
23 Der Lobpreis des Gelehrten ist eine frühneuzeitliche Hinzufügung und bezieht sich eigentlich auf R. Elieser und R. Johanan ben Sakkai. (Vgl. u.a. bT Sukka 28a, bT Baba Batra 134a und öfter) Diese Stelle korrespondiert mit der oben zitierten Erklärung von Beer Perlhefter: „Dagegen finden und sehen wir bei Johanan ben Sakkai [sic! Johanan ben Nappaha], dass er ein großer Hassid war und ihm trotzdem alle seine Kinder während seines Lebens gestorben sind." BS/O, 67b (22b).
24 Vgl. u.a. Josef Karo: Shulhan arukh, Jore Dea, Hilkhot Krija §340, Hilkhot Avelut §341-403, hier besonders §374.
25 Ganzfried, Schelomo: Kizzur Schulchan Aruch (Hebr. und Dt.).Frankfurt am Main [o.J.], §215, 1114.