Tel Aviv wird 100 Jahre alt. Masel tov! In der Ansprache des Bürgermeisters Ron Huldai klingt es etwas politisch korrekt gestelzt: "Tel Aviv - Yaffo wird 100 Jahre". Da ist die Wahrheit ein wenig auf der Strecke geblieben. Zwar wurde die alte Hafenstadt Yaffo eingemeindet, aber eine gemeinsame, identische Geschichte hat das Zwitterwesen Tel Aviv - Yaffo nicht. Yaffo blickt auf 4 Jahrtausende Geschichte zurück, selbst die Ägypter haben Ruinen hinterlassen, und in einem griechischen Mythos wird die verzweifelte Andromeda an jenen Felsen gekettet, der bis heute gleich bei der Hafeneinfahrt des malerischen Städtchens liegt.
Rabin-Platz, 4. April 2009. Foto: Ariel Stern, mit freundlicher Genehmigung F. N. Wonnenberg
Tel Aviv hingegen ist wirklich 100 Jahre alt. Als die Sanddünen im Norden von Yaffo 1909 an 60 Familien per Lotterieverfahren verlost wurden, erblickte diese „weiße Stadt" am Meer, die erste jüdische Metropole, das Licht der Welt. Eigentlich sind die Tel Aviver nie um einen Vorwand verlegen, um das Leben zu geniessen, aber in diesem Jahr hat man sich der Lieblingsbeschäftigung der Tel Aviver - dem Feiern - ganz offiziell verschrieben. Den grandiosen Auftakt zu den Hundertjahrfeiern bildete das Festkonzert auf dem Rabin-Platz am 4. April, dem Geburtstag der Stadt. Eine 360-Grad-Licht- und Soundshow, auf alle den Platz begrenzenden Häuser sowie das Gebäude der Stadtverwaltung projiziert, bildete den Höhepunkt des Abends, der vom Israelischen Philharmonie-Orchester unter der Leitung von Zubin Mehta musikalisch gestaltet wurde. Berühmte israelische Sänger und Schauspieler traten in einer Bühnenshow auf, ein Feuerwerk tauchte den Mittelpunkt der Stadt in ein Farbenmeer.
Shai Schneider, Scherenschnitt, Wandeinritzung, 2009. Foto: F. N. Wonnenberg
Doch die Feierlichkeiten bleiben nicht auf den Jubiläumstag beschränkt. Bis zum Ende des Jahres bietet die Stadt kulturelle, sportliche und gesellschaftliche Divertimenti. Selbst beim alltäglichen Spaziergang über die grünen Boulevards von Tel Aviv macht sich das Festjahr bemerkbar. Der beliebte Rothschild-Boulevard, auf dem die Tel Aviver Modehunde, die Möpse, Parade geführt werden, ist geschmückt mit unzähligen Flaggen und kleinen Lichterketten. In den lauen Abendstunden kann man dort nun in einem Sternchenmeer an Kaffebuden flirten und gesehen werden. Wer nicht nur gesehen werden, sondern auch selbst etwas entdecken möchte, kann sich eine der vielen Jubiläums-Kunstausstellungen anschauen. Seit April werden hunderte historische Fotografien aus privaten Fotobeständen der Tel Aviver Bevölkerung präsentiert. Vergrössert in Leuchtkästen auf Boulevards und in den Geschäften entdeckt man die erste Apothekerin der Stadt Tante Meira, Mädchen beim Strandbad, den Milchmann, kurz: die Akteure des Alltags von damals.
Dem Tel Aviv-Museum wurde von der Europäischen Union als Geburtstagsgeschenk an die Israelis die Ausstellung „Sounds und Vision", künstlerische Filme und Videos aus Europa zur Verfügung gestellt. Das Museum selbst zeigt die Ausstellung „Tel Aviv Time", künstlerische Fotografie, kuratiert von Nili Goren. Ein gutes Dutzend israelischer und internationaler Künstler zeigt seine Sicht auf die Metropole. Dabei kommen neben den „grossen Stadtansichten" auch bemerkenswerte Details ins Blickfeld. Die Photographie von Shai Ignatz aus 2002 mit den herabgefallenen, und erschöpft, fast möchte man sagen, verwundet wirkenden fleischroten Blüten trägt den Titel „Rabin Platz". Diese Blüten drücken ganz zart und doch sehr intensiv aus, was den Pressephotos entging, als sie die Erschiessung jenes grossen Staatsmannes zeigten, dem dieserPlatz seinen Namen verdankt.
Shai Ignatz, Rabin-Platz. Fotografie, 2002: mit Genehmigung Tel Aviv Museum
Die Kunst verlässt auch die offiziellen Kulturtempel und wagt sich selbst in jene Ecken der Stadt, die die Bürgermeister nicht so gerne vorzeigen. In der Ausstellung „Kunst auf die Straße" brachten die Kuratorinnen Hila Sali und Noam Wenkert Skulptur, Video, Malerei und Installationen in den Arbeiterstadtteil Shapira im Süden von Tel Aviv, gleich neben der zentralen Busstation. An die tausend Besucher zogen mit kleinen Plänen ausgerüstet durch die Straßen eines Viertels, das diese Bildungsbürger sonst wohl nie betreten hätten, um die Kunstwerke zu entdecken. Eine besonders sensible Annäherung an das Viertel ist dem Künstler Shai Schneider gelungen. Er suchte das Gespräch mit den Anrainern und Geschäftsinhabern und lernte so einen „Namensvetter", den Schneider der Mesilat Yesharim Strasse kennen. Der Künstler war berührt von der sanften Art dieses Mannes, der offene Rechnungen „vergisst", wenn die Kunden nicht zahlen können, und portraitierte diesen Helden des harten Alltags auf der Fassade seines Geschäftes. Technisch perfekt, mit einem ganz feinen Übergang von der freigelegten zur gestrichenen Fläche der Wand ritzte er die Umrisse wie einen Scherenschnitt ein - ein Scherenschnitt, der einen Scheren-Schnitt zeigt. Schüchtern steht der Abgebildete in seinem Ladeneingang und lächelt den Kulturhungrigen zu, die heute durch seine Strasse strömen. Auch der Künstler Eyal Katz zeigt ein neues Gesicht der Strasse, er ließ es auf einen Strassenbaum schneiden, gestaltete eine Skulptur aus Styropor, die wie schmelzender Schnee aus den Zweigen tropft. Fasziniert bleiben die israelischen Kinder stehen, blicken in die ungewohnte weiße Landschaft hinaus und wirbelten die Styroporschneeflocken mit den Füßen auf. Kunst kann Spass machen. Happy Birthday Tel Aviv.