Berlin: Verlag für Berlin-Brandenburg 2009.
400 Seiten, Euro 20,50.-
ISBN: 978-3-86650-211-6
Meine erste Begegnung mit Salomea Genins Literatur war im Hof des Jüdischen Theaters in den Hackeschen Höfen Berlins. In dieser hochtouristischen Gegend der alten-neuen deutschen Hauptstadt saß eine ältere Frau und las aus ihrem ersten Buch „Shayndel und Salomea - von Lemberg nach Berlin" vor. Dieses Buch ist die Biographie ihrer Mutter, die wie so viele sogenannte Ostjuden von Polen und Russland in den 1920er Jahren nach Berlin gekommen waren. Das Theater kündigte auch ihr Ein-Personen-Theaterstück „Zwischen allen Stühlen - eine australische Jüdin in der DDR" an. Neugierig geworden, blieb ich stehen und hörte eine Weile zu.
Meine zweite Begegnung mit Genins Literatur war eine grosse Überaschung. Auf einer Reise durch Asien suchte ich an einem Monsuntag nach einem Zeitvertreib und entdeckte in einem Cafe für Rucksackreisende auf einer der kleinsten und entlegensten Inseln Indonesiens ein verstaubtes Bücherregal. Neben einem guten Dutzend zerlesener englischer Groschenromane nach beliebten Kinofilmen fand ich eine Ausgabe von „Shayndel und Salomea". Verblüfft nahm ich den unerwarteten Literaturschatz zur Hand und schlug die erste Seite auf. Stempel der verschiedenen asiatischen Antiquariate bestätigten: Dieses Büchlein war schon weiter herumgekommen als ich. Ich entrichtete meinen Obulus von ca. 1 Dollar und setzte mich unter dem grossen vorhängenden Dach auf die Veranda. Draussen ergoss sich ein Spektakel der Naturgewalten, der mächtige Regen des Urwalds von Sumatra, und doch versank ich für einen ganzen Tag lang in der Lebensgeschichte der jüdischen Familie aus Lemberg, die sich durch einen schweren Alltag in Berlin plagt.
Ich war gefangen von der poetischen Schreibweise der Autorin und der psychologischen einfühlsamen Charakterisierung der Figuren. Dennoch, ich fragte mich, wie wohl der Lebensweg Salomeas, der Autorin selbst, 1932 in Berlin geboren, die nur ganz am Ende des Buches als Kleinkind in der Geschichte vorkommt, wohl weitergegangen ist.
Vor einem Monat erschien die Antwort - wieder in Buchform. Salomea Genin: „Ich folgte den falschen Göttern - eine australische Jüdin in der DDR". Diese Autobiographie setzt ein, wo die Geschichte in „Shayndel und Salomea" abgebrochen hatte.
Als Kind polnisch-russischer Juden in Berlin-Wedding geboren, floh Salomea Genin im Mai 1939 mit ihrer Familie vor den Nationalsozialisten nach Australien. Dort wurde Salomea, die damals noch ihren nicht-jüdischen zweiten Vornamen Loni trug, eine glühend-überzeugte Kommunistin. 1951 kam sie als Mitglied der australischen Delegation zu den Weltfestspielen der Jugend und Studenten nach Ost-Berlin und war von der DDR begeistert. Sie verließ Australien, um in der DDR ein besseres, antifaschistisches Deutschland aufzubauen. So viel Begeisterung für eine bessere Welt war der Stasi, dem „grossem Bruder" in der DDR, so suspekt, dass man sie 12 Jahre lang kritisch beobachtete, bevor man der in Deutschland geborenen und vor den Nationalsozialisten geflohenen Jüdin eine Aufenthaltserlaubnis für die DDR, ihr „besseres deutsches Heimatland", gnädig gewährte.
So blieb Salomea Genin zunächst in West-Berlin und zeitweise in England, bevor sie 1963 offiziell nach Ost-Berlin übersiedeln durfte. In West-Berlin hatte sie begonnen, als Informantin für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR zu arbeiten. Diese Tätigkeit setzte sie dann in der DDR fort. 1982 erkannte sie: Statt zu helfen, die Welt zu verbessern, arbeitete sie für einen Polizeistaat. Sie brach mit der Stasi und wollte sich das Leben nehmen. Erst im Mai 1989 fand sie die Kraft, auch aus der SED auszutreten. Ihre Austrittserklärung wurde in westdeutschen Zeitungen abgedruckt, darunter in der „Frankfurter Rundschau". Aus dieser tiefen Lebenskrise arbeitete sich Genin mit vielen psychologischen Therapien heraus, bis ihr klar wurde, wie ihre Sehnsüchte nach einer besseren Welt, „Tikkun olam", sie in einem Netz aus einander misstrauenden Menschen eingesponnen hatte. Nach der Öffnung der Stasi-Archive las sie in ihrer Akte, wie ihre engsten Freunde zum Teil gegen sie spioniert und berichtet hatten. Und sie gestand sich selbst ein, es auch getan zu haben. Das Buch zeichnet diesen schweren Selbsterkenntnisprozess ungewohnt offen und ehrlich nach. Ihre Tagebucheintragungen sind unterbrochen von Zitaten aus der Stasi-Akte, aus denen hervorgeht, wie kontrastierend und manipulativ die Realität gesehen und beschrieben werden kann. Auch die zitierten kommunistischen Lieder und Leitsprüche bieten dem Leser ein graphisches Bild dieses „aus Ruinen auferstandenen" Deutschlands. Genin schreibt an einer Stelle: „Ich wollte keine Literatur schreiben, sondern einen psychologischen Zeugnisbericht ablegen". Und das ist ihr sehr gut gelungen.
Enttäuscht von ihren so verfehlten Versuchen, eine menschlichere Gesellschaft aufzubauen, suchte sie ihre jüdischen Wurzeln. Sie engagierte sich in der jüdischen Gemeinde Ost-Berlins. In ihrem Wohnzimmer traf sich eine Gruppe von Frauen, die einen Gesprächskreis gründete, aus dem später der egalitäre Minjan hervorging, der heute in der renovierten Synagoge in der Oranienburger Strasse betet. Die wenigsten der vielen Touristen, die heute alltäglich dieses wunderschöne Bauwerk im maurischen Stil photographieren können sich dabei wohl vorstellen, wie es sich wirklich anfühlte, als Jude in der DDR zu leben.
Felice Naomi Wonnenberg