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Zum Verhältnis von antisemitischen und philosemitischen Stereotypen

Irina DJASSEMY

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Die Ablehnung antisemitischer Stereotypen gehört zum demokratischen Grundkonsens, die Problematisierung philosemitischer Stereotypen hingegen hat in den öffentlichen Diskurs noch kaum Eingang gefunden. Auch die wissenschaftliche Forschung widmete sich eher zögernd, wenngleich in den letzten Jahren intensiver, diesem Gegenstand. Historisch betrachtet ist das kein Zufall, stand doch nach 1945 die Notwendigkeit, die antisemitischen Vorurteile durch Gegenentwürfe zu entkräften im Vordergrund, während nun die problematischen Folgen auch der positiven Stereotypen stärker als damals zutage treten.1 Für eine aktuelle Analyse philosemitischer Stereotypen bietet die kritische Theorie von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer auch in Bezug auf den Problemkreis Antisemitismus eine gute theoretische Basis.

Die wichtigste Erkenntnis aus der Anwendung dieser Theorie ist die Einsicht in die Funktion des Antisemitismus bei der Bewältigung gesellschaftlich produzierter psychologischer und ideologischer Deformationen. Laut Horkheimer und Adorno generiert der Zivilisationsprozess in der Moderne eine Sehnsucht nach Glück, Freiheit und materieller Sicherheit, die aufgrund der gesellschaftlichen Antagonismen nicht verwirklicht werden kann.2 Soweit die Mitglieder der Majorität sich unter dem Konformitätsdruck die rationale Erkenntnis der Ursachen dieses Scheiterns versagen, tendieren sie zur Schuldzuschreibung an diskriminierte Minoritäten. Das antisemitische Stereotyp erfüllt aufgrund der traditionellen Gleichsetzung von Juden mit dem Antichrist einerseits und mit dem Finanzkapital andererseits in besonderer Weise den Zweck, als Projektionsfläche verzerrter Ängste und Wünsche zu dienen. Textuell, visuell und auditiv werden antisemitische Klischees geschaffen, in denen sich weniger die Eigenschaften der Diskriminierten spiegeln als vielmehr die Aggressionen, Neidgefühle und Allmachtswünsche, die Versagungen und Enttäuschungen der Vorurteilsvollen selbst. Dabei kommt es zu rassistischen Festlegungen, die eine Wahrnehmung der Juden als Individuen verhindern. Je stärker der autoritäre Charakter der Gesellschaftsordnung ausgeprägt ist, umso weniger ist der Einzelne zu spontaner Erfahrung fähig; die Fixierung auf ein auf die eigenen Deformationen gleichsam maßgeschneidertes Stereotyp mit automatisierten Reaktionen kommt dieser Erfahrungsunfähigkeit entgegen, indem sie von Selbstreflexion ebenso entlastet wie vom Aufbau einer Beziehung zum jeweils Anderen.3

Gerade die zentralen Mechanismen antisemitischer Vorurteilsbildung, Projektivität und Entindividualisierung, werden durch die positiven Stereotypen unter umgekehrtem Vorzeichen übernommen. Auch das philosemitische Stereotyp instrumentalisiert sein Objekt für die eigenen Interessen und Bedürfnisse: Es dient außenpolitisch der Demonstration von Zugehörigkeit zur westlichen Welt, innenpolitisch der demokratischen Selbstdarstellung, religiös der Bekräftigung von Toleranz. All dies wäre freilich harmlos, wenn nicht das Stereotyp als solches die Gefahr implizierte, dass das positive Stereotyp jederzeit in ein negatives umschlagen kann. Genau darin besteht das Problem. Begründet ist es zum einen in den Inhalten der philosemitischen Klischees, die den antisemitischen häufig sehr nahe kommen: So droht die notorische mediale Darstellung der Juden als Repräsentanten des Großbürgertums alte Neidgefühle zu reproduzieren, der Opfermythos im Kontext der Shoah-Darstellungen kommt speziell deutschen Identifikationswünschen entgegen, während andererseits die Verherrlichung der israelischen Armee durch antiarabische Rechtsradikale mit einer aufgeklärten Islamkritik nichts mehr zu tun hat und die Einbindung der Juden in apokalyptische Phantasien in der Grauzone zwischen Philo- und Antisemitismus angesiedelt ist.4 Solche Idealbilder mobilisieren die gleichen autoritätsgebundenen Impulse, aus denen auch der Antisemitismus sich speist, insbesondere Verfolgungswahn, sadomasochistische Machtphantasien und ein Denken in starren Freund-Feind-Schemata. Selbst die unschuldigeren Projektionen, die Unterstellung angeborener intellektueller und musikalischer Fähigkeiten oder die Fiktion heiler Familienwelten bergen die Gefahr, Neid und damit unterschwellige antisemitische Ressentiments zu verstärken. Überdies verhindern gerade sie die Wahrnehmung der Juden als Individuen: das ‚Bescheidwissen‘ über die jüdische Kultur ersetzt dann eine realitätsgerechte Wahrnehmung wirklicher jüdischer Lebenswelten sowie vor allem eine von Respekt geprägte Einsicht in individuelle Konflikte und Befindlichkeiten.5 Obwohl die Darstellung der jüdischen Minorität über Positivklischees wohlwollend wirkt, indem sie bildungsbürgerliche Ideale  zelebriert, übt sie einen bedrohlichen Druck auf ihre Objekte aus, deren widerspenstige Eigenschaften das funktionalisierte Bild stören könnten. Diese Form der Entindividualisierung ist mit der unmittelbar feindseligen Haltung des Antisemitismus insofern verwandt, als die Minoritätsangehörigen nicht mehr als Individuen anerkannt, sondern als Projektionsfläche zur Verarbeitung der eigenen Bedürfnisse instrumentalisiert werden. Dahinter steht latent die Drohung, dass der Verzicht auf Diskriminierung und Verfolgung im Fall einer eintretenden Disfunktionalität des Idealbildes wieder rückgängig gemacht werden kann.

Daher sollte die Bekämpfung des Antisemitismus auf  der politischen, historischen und psychologischen Einsicht in seine Gefahren basieren, und nicht von der Erfüllung irgendeines projizierten Idealbildes abhängig gemacht werden. Zu warnen ist auch vor einer Übertragung einzelner antisemitischer Stereotypen auf andere Minoritäten im Kontext eines krampfhaften Philosemitismus, zumal eine Rückübertragung infolge der Reproduktion ihrer psychologischen und ideologischen Grundlagen nicht unwahrscheinlich ist. Nachhaltig beseitigt werden können antisemitische Stereotypen nicht durch die Produktion philosemitischer Stereotypen, sondern nur, indem einem Bedürfnis nach Stereotypen als solchen die gesellschaftliche Basis entzogen wird. Denn dieses Bedürfnis ist keineswegs, wie die affirmative Sozialpsychologie es unterstellt, ein selbstverständliches Faktum, das erst durch aggressive Inhalte problematisch würde, oder gar eine notwendige Orientierungshilfe. Vielmehr drückt sich im Hang zum stereotypen Denken an sich ein gefährlicher Mangel an Erfahrungsfähigkeit, an der Freiheit zu kritisch differenzierendem Denken, an Kompetenzen für das Ertragen von Widersprüchen und nicht zuletzt an der lustvollen Hinwendung zum Nichtidentischen, Anderen, Differierenden aus. All diese Mängel werden durch eine Gesellschaft produziert, die nur scheinbar individualistisch ist, in Wirklichkeit aber einen enormen Anpassungsdruck auf ihre Mitglieder ausübt. Während die Entwertung individueller Autonomie mit der Fixierung auf identitätsstiftende Zwangskollektive verbunden ist, könnte die Entfaltung individueller Differenz, in jüdischer oder nichtjüdischer Tradition, nur im Rahmen einer strukturell solidarischen Gesellschaft wirklich Toleranz erfahren.

 

1   Vereinzelt meldeten sich aber schon früh kritische Stimmen zu Wort; vgl. den signifikanten Artikel von Eleonore Sterling: Judenfreunde - Judenfeinde. Fragwürdiger Philosemitismus in der Bundesrepublik. In: DIE ZEIT, 10.12.1965, Nr. 50 (auch in: Tribüne, 4/1965, Frankfurt/M.), online http://www.zeit.de/1965/50/Judenfreunde-Judenfeinde.

2   Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno: Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung. In: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt 1987 (= Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5), 197-238.

3   Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt/Main 1973; Th. W. Adorno/ E. Frenkel-Brunswik/ N. Sanford/ D. Levinson: The Authoritarian Personality. New York 1950.

4   Vgl. Richard Bartholomew: „Eine seltsam kalte Zuneigung". Christlicher Zionismus, Philosemitismus und „die Juden". In: Hanno Loewy (Hg.): Gerüchte über die Juden. Antisemitismus, Philosemitismus und aktuelle Verschwörungstheorien. Essen 2005, 235-254.

5   Den unangemessenen Druck auf die Verfolgten sowie die Negation individueller Diversität beklagt z.B. Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. Göttingen 1992, s. insbes. 68, 90ff, 128ff.