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Von Menschen, die versuchen, das Überleben zu lernen

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Salzburg: Jung und Jung 2009.

500 Seiten, Euro 29,90.-

ISBN 978-902497-44-1

 

Nach der Pogromnacht am 9.November 1938 war für viele deutsche und österreichische Juden klar: Sie mussten schnellstens ihre Heimat verlassen, um der Verfolgung und Vernichtung durch den NS-Staat zu entgehen. Die Tragik von Flucht, Ausreiseverhandlungen, Passierscheinen und Ablehnungen ist später oft beschrieben worden. Viele Exilierte suchten in den europäischen Nachbarländern, andere in Nord- und Südamerika Zuflucht. Das europäische Exil erwies sich leider als nicht sicher, weil diese Länder im Laufe des Zweiten Weltkrieges von den Nazis besetzt wurden, die dort sofort ihre Verfolgungsmassnahmen durchsetzten. So wurden Länder wie Holland, Norwegen und Frankreich zur tödlichen Falle für viele Juden.

Der vorliegende Roman der Schriftstellerin und Lyrikerin Ursula Krechel erzählt von einem historischen Zeitfenster, das insgesamt 18.000 Juden aus Deutschland und Österreich für kurze Zeit eine Gelegenheit eröffnete, ihr Leben zu retten. 1938 hatten die Japaner Shanghai besetzt und vom Festland völlig abgeschirmt. Vom Meer her aber war die Stadt ohne Visum erreichbar, und diese Gelegenheit war für die Flüchtlinge lebensrettend. Sie hatten kurzfristig eine Schiffspassage nach Shanghai ergattert und sahen ihrer neuen Zukunft mit großer Hoffnung entgegen. Zu Hause in Wien oder Berlin wurde Shanghai schnell zur „Arche Noah", dem alten Bild der Rettung. Dass die Exilierten in Shanghai nicht gerade willkommene Gäste waren, traf sie nicht nur überraschend, sondern wie ein Schock. Wenn man den vorliegenden Roman liest, spürt man auf beinahe jeder Seite, dass sich die zu Hause so schön imaginierte „Arche Noah" als ein Zufluchtsort herausstellte, in dem unsägliche Not und nacktes Elend, beißender Hunger, schlimme Krankheiten und völlige Unfreiheit herrschten. Ursula Krechel hat für diesen wirklich großartigen Roman, in dem sie das Schicksal jüdischer Emigranten in Shanghai detailliert beschreibt, viele Jahre recherchiert. Das Buch hat sie auf sprachlich und künstlerisch gelungene Weise aus zahllosen authentischen Berichten zusammengefügt, die sie vor allem in der Wiener Library in London, aber auch in vielen anderen Archiven gefunden hat.

„Was ist Tausig für ein Mensch ?" So beginnt der 500 - seitige Roman, der nicht nur die Geschichte eines jungen Rechtsanwaltes aus Temesvar, Tausig, und seiner Frau Franziska erzählt, sondern auch die seines Freundes Ludwig Lazarus, eines Berliner Buchhändlers, den Tausig auf der Flucht kennen lernt. Erzählt wird auch vom Uhrmacher Kronheim, dem Kunsthändler Brieger und den Rosenbaums, die mit einem Koffer voll Lederhandschuhen nach Shanghai gekommen sind, weil sie dort ein Handelsunternehmen gründen wollen. In die Erzählung hat Ursula Krechel wie in einer Art künstlerischem Selbstgespräch Stellen eingeflochten, in denen sie große Künstlerschicksale beschwört. Lothar Brieger lässt sie Briefe an Walter Benjamin nach Paris schreiben, die allerdings unbeantwortet bleiben, sie erwähnt Virginia Woolfs Selbstmord und Gertrud Steins Hund. Die Autorin begleitet ihre Protagonisten zwischen 1938 und 1948 auf ganz eigene Weise durch ein tragisches Schicksal. Dabei erfindet sie kaum, stützt sich auf Briefe und Berichte und schreibt auch über den vom damaligen jungen Rundfunk-Attaché Erwin Wickert geleiteten NS-Propagandasender. Besonders die Rückkehr der Flüchtlinge nach Deutschland ist genauestens dokumentiert. Es ist erschütternd zu lesen, wie die Exilierten, wie Ludwig Lazarus, Ernst Kronheim und Lothar Brieger, damals behandelt und „entschädigt" wurden. Ursula Krechel hat viele Details in ihren Roman einfließen lassen und spart auch nicht an politischen Anmerkungen. Entstanden ist ein wunderbarer, großer und ernster Roman, der sich wie ein Geschichtsbuch liest und in der Reihe der Literatur des jüdischen Exils nach 1938 einen ganz besonderen Platz einnehmen und auch behalten wird. Dem kleinen Jung und Jung Verlag kann man zur Veröffentlichung dieses bewegenden Überlebensromans nur gratulieren.

 

Winfried Stanzick