Graz: Clio Verein für Geschichts- und Bildungsarbeit 2008.
312 Seiten, Euro 25,00.-
ISBN: 978-3-902542-11-3
Vieles, was in Österreich in der NS-Zeit geschehen ist, was dazu geführt hat, und was dumpf nachgeklungen hat, ist lange unsichtbar geblieben. Vieles bleibt bis heute unsichtbar - weil niemand Interesse hat, nachzufragen, weil niemand da ist, um nachzuforschen. Noch gibt es gerade am Land die Gerüchte darüber, wer was im 3. Reich gemacht hat, wer sich noch lange in Hinterzimmern unter dem Führerbild getroffen hat, und wer sich einst bereichert hat. Noch meinen viele, etwas zu wissen, aber wieder fragt kaum jemand nach. Die gängige Literatur über den Nationalsozialismus, Verbrechen, Verfolgung und Widerstand steht oft im Bann großer Ereignisse und Entwicklungen, schillernder Persönlichkeiten und ergreifender Schicksale. Das Bild, das viele Menschen von dieser Zeit haben, und das vielen schon zur Genüge reicht, entspricht dem.
Sicher, in den vergangenen Jahren wurden an vielen Orten in ganz Österreich Gedenktafeln zur Erinnerung an die Verbrechen der NS-Zeit und an ihre Opfer angebracht. Doch wer solche Gedenktafeln aufmerksam liest, erhält oft den Eindruck, dass die Nationalsozialisten plötzlich kamen, dass sie „Andere" von weit her waren. Dementsprechend konnten die Menschen vor Ort „auch nichts wissen". Die historische Forschung und die verschiedenen Projekte, die der Anbringung von Gedenktafeln vorangeht, und die darstellt, was eigentlich vor Ort passiert ist, und wie die nationalsozialistische Herrschaft in Österreich funktionieren konnte, werden dagegen nur selten breiter wahrgenommen. Das liegt daran, dass viele Beiträge in Sammelbänden oder kleinen Auflagen erscheinen, und auch daran, dass sie von ihrem Forschungsansatz her oft auf ein Fachpublikum abzielen.
Ein Beispiel dafür, wie Vermittlung und Konkretisierung gelingen kann, bieten jetzt Heimo Halbrainer, Gerhard Lamprecht und Ursula Mindler. Sie haben in Kooperation des Grazer Vereins für Geschichts- und Bildungsarbeit Clio mit dem Stadtmuseum Graz zwei Ausstellungen über die NS-Herrschaft in der Steiermark erstellt und dazu ein bemerkenswertes Buch herausgegeben: unsichtbar. NS-Herrschaft: Verfolgung und Widerstand in der Steiermark.
Halbreiner, Lamprecht und Mindler gehen der Frage nach, was man in der NS-Zeit, in den Jahren davor und danach sehen und mitbekommen konnte, was verdeckt blieb und was besser verdeckt werden sollte. Mit diesen Fragen nach dem Wissen-Können und Wissen-Wollen ist die Fragen nach dem Funktionieren nationalsozialistischer Herrschaft verbunden. Die Autoren und die Autorin gehen von der Prämisse aus, dass Herrschaft immer soziale Praxis ist und sich letztlich erst durch das Zusammenwirken von Herrschenden und Beherrschten konstituiert. Mit dem Verweis auf eine vor allem von Deutschen gelenkte Elite und dem Terror von SS, SA und Gestapo allein lässt sich nationalsozialistische Herrschaft nur bedingt verstehen. Damit stellt sich aber auch die Frage, nach den Handlungsspielräumen, die die Menschen in dieser Zeit hatten.
Das sind Grundlagen der neueren, differenzierten Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus, die Halbrainer, Lamprecht und Mindler als Ausgangspunkt für ihre Auseinandersetzung mit der Steiermark nehmen. Es geht ihnen darum die Entwicklungslinien bis zur Etablierung der NS-Herrschaft und deren Nachgeschichte darzustellen. Das gelingt ihnen vor allem durch eine große und zugleich sehr gelungene Auswahl an Bildern, Zeitungsausschnitten, Berichten, Propagandaschriften, Lebenszeugnissen und Portraits aus der Steiermark. Sie machen deutlich, wie breit diese Bewegung war und wie viele Personen daran beteiligt waren. Und sie machen auch deutlich, wieviel und wie offen gerade auch in regionalen Medien und Veranstaltungen über Politik, Ziele und Maßnahmen der NSDAP berichtet wurde. Damit wird einerseits klar, wieviele Menschen an der NS-Herrschaft - in welcher Weise auch immer - beteiligt waren. Andererseits zeigt sich, wie man sehr rasch erkennen konnte, welche Ziele die Nazis verfolgten, und daraus auch Handlungsoptionen gewinnen konnte.
Gerade die Steiermark bietet dafür eine Fülle von Anknüpfungspunkten. Sie reichen vom spezifischen Antisemitismus und Antislawismus in den 1920er-Jahren über die steirische Heimwehrbewegung zu den illegalen Nationalsozialisten und der Volkserhebung 1938. Die Verfolgung der Juden und gerade auch der „Zigeuner" hat etwa durch Tobias Portschy eine besondere Ausprägung erfahren. Schließlich wurden viele Menschen Zeugen der Todesmärsche der ungarischen Juden gegen Kriegsende. Zugleich gibt es eine vielfältige Geschichte des Widerstandes aus dem Bürgertum und den Kirchen, den Zeugen Jehovas, der Arbeiterbewegung und von Partisanengruppen.
Es gelingt Halbrainer, Lamprecht und Mindler diese Breite sehr sachlich und nüchtern, zugleich aber mit großem Engagement darzustellen. Es ist auch keineswegs einfach,den aktuellen wissenschaftlichen Forschungsstand und Diskurs für ein breiteres Publikum aufzubereiten und Zugänge zu vermitteln, die oft sehr voraussetzungsvoll sind. Es gelingt ihnen aber gerade, weil sie auch sehr viele konkrete Geschichten von Personen zu erzählen, an die sich kaum jemand erinnert, die aber an Orten stattgefunden haben, die man gut kennt. Das macht dieses, auch graphisch sehr gut gestaltete Buch, zu einer der wichtigsten Neuerscheinungen des „Gedenkjahres 2008".
Christoph Konrath