Ausgabe

Artwalk Palimpsest zur „Arisierung“ der Ankerbrot-Fabrik

Lea Riener/Lucia Engelbrecht

Künstlerischer Hörspaziergang zur verdrängten Geschichte einer Wiener Institution. 

Inhalt

Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch…“, schrieb Theodor W. Adorno 1951 in seinem Essay „Kulturkritik und Gesellschaft“. Bis heute von Kulturpessimist*innen viel zitiert, wird dieser Ausspruch meist als absolutes Diktum über die Unmöglichkeit von Kunst nach Auschwitz missverstanden. Vergessen wird meist, wie Adorno den Satz weiterführt: „…und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“ Kunst nach Auschwitz ist unmöglich und zugleich notwendig, so Adornos dialektischer Gedankengang. Damit weist der Philosoph auch auf das zentrale Paradoxon von künstlerischer Ästhetisierung nach dem Zivilisationsbruch hin: Die Shoah ist kein einheitliches Ereignis, ihr fehlt ein Narrativ. Stattdessen existiert sie in Brüchen und Widersprüchen, deren Ästhetisierung schnell in Geschichtsklitterung zu münden droht und so Gefahr läuft, dem Grauen Sinn zu geben. Und doch soll kulturkritische Kunst fortbestehen, um die Möglichkeit auf Widerstandspotentiale auszuloten.

Dem Artwalk Palimpsest, einem künstlerischen Hör-
spaziergang, gelingt genau das: Über mehrere Stationen erzählt er die Geschichte der „Arisierung“ der Ankerbrot-Fabrik, ohne in Holocaust-Sentimentalität umzuschlagen. Die Veranstalter*innen, der Kulturverein Echolot und das Medien Startup Inselmilieu Reportage, inszenieren die Geschichte des Bäckereiunternehmens in all ihren Komplexitäten und Überlagerungen. Ankerbrot wurde 1891 von den jüdischen Brüdern Heinrich und Fritz Mendl gegründet und 1938 „arisiert“.

Im Artwalk werden zwei parallele Geschichten durch Schauspieler*innen erzählt: Jene der Tochter, der als Jüdin verfolgten Bettina Mendl, die mit der Verschwiegenheit ihrer traumatisierten Mutter ringt, und die des Erben des „Ariseurs“, der sich die Schuld des Vaters nicht eingestehen möchte. Bereits diese beiden gegenläufigen Perspektiven geben einen Eindruck der vielschichtigen Herangehensweise des Artwalks. Weiter getragen wird dieser von den zahlreichen Medien, derer sich bei der Erzählung bedient wird: Per Headsets hört das Publikum Interviews mit Zeitzeug*innen, es läuft vorbei an Fotoinstallationen und Videoprojektionen, an einer Akrobatin, die sich in den Verstrickungen der Geschichte in Form eines Vertikaltuches verheddert, oder es hört ein Cello-Stück des verfolgten österreichischen Komponisten Alexander von Zemlinsky, dessen Eigentum “arisiert” wurde. 

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Der Schauspielerin per Headset auf der Spur. 

All dies erleben die Teilnehmenden beim Gang durch das originale Gebäude der Fabrik, heute umgewandelt in Coworking Spaces, Büroräumlichkeiten und ein Lokal – hier wird das Palimpsest des Ortes, die Überlagerung von Gegenwart und Vergangenheit, deutlich. Die Teilperformances stehen nebeneinander, im Dialog zueinander oder voneinander wegdeutend. Die Erzählungen über die Familie Mendl und die Familie des „Ariseurs“ bleiben dabei immer unabgeschlossen, rätselhaft und regen zur kritischen Selbstreflexion an. Langsam stellt sich, im Kaleidoskop der ästhetischen Erfahrungen, ein Bild des Geschehenen her – ohne je in ein abgeschlossenes, sinngebendes Narrativ zu verfallen.

 

Eine solch aufmerksame Behandlung erfährt der Themenschwerpunkt „Arisierung“ nur selten. Lange ein stiefmütterlich behandeltes Kapitel der Shoah, wurden jene Beraubten, die der Mordmaschinerie entrinnen konnten, nur zu oft als „Opfer zweiter Klasse“ aufgefasst oder gar, wenn sie – wie die Mendls – flüchten konnten, schlicht nicht zur Opfergruppe gezählt. Dabei sind die Ergebnisse des nationalsozialistischen Raubes von als „jüdisch“ deklariertem Eigentum in Europa omnipräsent – speziell in einer Stadt wie Wien, einst Heimat einer blühenden jüdischen Gemeinde. Die Macher*innen des Artwalks legen Wert darauf, den nationalsozialistischen Raub und seine transgenerationellen Folgewirkungen nicht nur künstlerisch darzustellen, sondern die Eindrücke des Hörspaziergangs durch Expert*innen-Gespräche kritisch zu kontextualisieren: Unter anderem wurde der Restitutionsexperte Stephan Templ zum Gespräch mit der Initiative EdutErzählen, Diskutieren und Transgenerationelles Erinnern eingeladen, um mit Lucia Engelbrecht über die „Arisierungen“ sowie die zumeist gescheiterte Restitution in Österreich zu sprechen. 

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Schülerinnen nähern sich dem Fabriksgelände

Gemeinsam mit Tina Walzer hatte Templ das Buch „Unser Wien. Arisierung auf Österreichisch“ veröffentlicht, in welchem das enorme Ausmass des Raubes allein in der Bundeshauptstadt schlaglichthaft skizziert wird. So wurden unter anderem die Hälfte der Wiener Unterhaltungsbetriebe wie Theater und Kinos, die Hälfte der Wiener Apotheken, zehntausende Wohnungen und Betriebe, ein Drittel der Naschmarktstände und auch Wiener Wahrzeichen wie das Riesenrad und die Liliputbahn ihren rechtmässigen Inhaber*innen durch die Nazis und ihren Nutzniesser*innen geraubt. Der Restitution nach 1945 stellen Templ und Walzer ein vernichtendes Zeugnis aus: Restitution, so schreiben sie, sei vor allem Imagepflege gewesen. Viele Firmen, in Österreich wie Deutschland, verschweigen bis heute diesen gewaltvollen Teil ihrer Vergangenheit, werben aber zugleich mit der langen Tradition ihrer Marken – Ankerbrot ist hier nur ein Beispiel unter vielen. 

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Streifzug durch die Geschichte von Ankerbrot.

Durch die Verbindung von bruchstückhafter künstlerischer Darstellung und wissenschaftlicher Einsicht gelingt es den Macher*innen des Artwalks, das Paradoxon der narrativen Un-Darstellbarkeit der Shoah aufzugreifen und das Publikum beim Aushalten der Brüche und Risse zu unterstützen. Kritische Interventionen dieser Art sind von grossem Wert für eine Stadt wie Wien und seine Bewohner*innen, deren Verantwortung es ist, sich mit der verdrängten Geschichte der Shoah auseinanderzusetzen. Ab dem 21. September 2024 geht der Artwalk Palimpsest in der Brotfabrik in die nächste Runde – neben anderen spannenden Artwalks über den Böhmischen Prater sowie durch Favoriten.

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Lucia Engelbrecht (Initiative edut) im Gespräch mit dem Restitutionsexperten Stephan Templ.

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Artwalk 2023.

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Performance zur „Arisierung“, Artwalk 2023.

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Unterwegs auf dem Artwalk 2023.

Infos und Anmeldung unter: www.lot.wien

Alle Fotos: Jana Mack, mit freundlicher Genehmigung: Initiative edut.