Ausgabe

Alltagsgeschichten aus Wien

Michael Bittner

Inhalt

Ruth Wodak (Hrsg.): Das kann immer noch in Wien passieren. Alltagsgeschichten.

Wien: Czernin Verlag 2024.

Gebunden, 243 Seiten, Euro 24,00.-

ISBN 978-3-7076-0832-8

 

Ein Buch, in dem man gerne hin- und herliest, sich amüsiert, sich ärgert, staunt und oft einfach nickt. Es ist ein vielfältiges Kompendium aus einer Zeit,  in der man wusste, wer Feind, wer Freund war, alles nicht mehr so schlimm zu sein schien und man, ohne rot zu werden, über Viktor Orbán schimpfen konnte, der jetzt der letzte Unterstützer Israels in Europa ist. Eine gute Quelle für künftige Historiker, wenn es um Mentalitätsgeschichte vor dem 7. Oktober 2023 geht, ein angenehmer Lesestoff für alle, die etwas lesen wollen, was ihnen schon bekannt vorkommt. Das ist an sich nichts Schlechtes, der Erfolg des Boulevards beruht auf diesem Phänomen. Die einzelnen Beiträge sind angenehmerweise individuell, das Lektorat hat Doppelpünktchen für das Gendern hineingesetzt, um die „linken Autoren“ als solche zu kennzeichnen. Bei manchen der Beiträge hätte der Lehrer „Themenverfehlung“ daruntergeschrieben, aber einige wunderbare Geschichten entschädigen dafür, wie die von Robert Schindel, Mitchell R. Ash oder Anna Goldenberg. Vieles gibt es an Österreich-Kolorit hier zu entdecken, Geläufiges, aber auch noch nie Gelesenes bekommt man serviert. Aber eben auch Geschichten, die so gar nicht zum Titel passen, weil sie sich auf längst Vergangenes beziehen, gar nicht von Wien handeln oder in die Kategorie „Olle Kamellen“ fallen, wie der Preusse sagt (oder: viel Plotkes, wenig Tacheles).

 

„Das kann immer noch in Wien passieren“ führt in die Irre, denn Wien ist nicht Österreich, den Antisemitismus verspürt man häufiger und heftiger in der Provinz. Die Hauptstadt hat sich durch den Zuzug aus allen möglichen Bürgerkriegsländern und die Flucht der Mittelschicht durchgreifend verändert, sie sucht noch ihre neue Identität und hat sie hoffentlich nicht jetzt, zur Zeit des grassierenden Antisemitismus und Israelhasses gefunden.[1] Es änderte sich in den letzten Monaten alles, die Bevölkerung, das Bildungsniveau, die Medienlandschaft, sodass ein Buch, das 2000 erstmals erschienen ist, uns heute nichts mehr zu sagen hat, auch wenn es 2023 ein bisschen adaptiert wurde. Wahrscheinlich würde man heute ganz andere Geschichten erzählen, nächstes Jahr wieder neue, solange es noch geht und wir nicht alle die Koffer packen müssen. Denn dieses Buch hat diesen ganz grossen Fehler – es wurde ein paar Wochen zu früh veröffentlicht. Dafür kann die Herausgeberin nichts, nicht der Verlag, niemand – ausser dem Teufel - der 7. Oktober hat die politische Situation dermassen verändert, dass vieles von dem, was hier geschrieben wurde, einfach nur noch Makulatur ist.

 

Die Herausgeberin, Ruth Wodak[2], brillante Sprachsoziologin und Diskursforscherin, sieht das Buch als Denkanstoss, das ist ihr auch wirklich gelungen, aber ich würde mir wünschen, dass recht bald eine neue Version erscheint, welche die dramatischen Veränderungen in den Köpfen der Menschen in Europa und den U.S.A. abbildet. Vielleicht werden auch gewisse Unschärfen entfernt; es haben sich einige Plattheiten und von den Medien verbreiteten Topoi in die Beiträge eingeschlichen, die unreflektiertes Allgemeingut geworden sind und wie Gebetsformeln repetiert werden. Zum Beispiel im Text auf der Rückseite, wo Karl Lueger und Sigmund Freud im Tonfall der dumpfen Dauer-Demonstranten gegeneinander ausgespielt werden. Und vielleicht kann man bei der Neuauflage die Doppelpünktchen einsparen, das könnte nicht schaden – es sind neue Zeiten, in denen man sich auf das Wesentliche konzentrieren sollte.[3]

 

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Anmerkungen

 

[3]Die Erfinderin der Gendersprache, Judith Butler, hat sich eben  als Anhängerin der Hamas erklärt https://www.juedische-allgemeine.de/meinung/judith-butler-ist-nicht-irgendwer/ abgerufen 14.03.2024