Ausgabe

Die neologe jüdische Gemeinde von Sopron

Michael Bittner

„Schtejt sich dort in Gessele schtil fartracht a Hajsele“ … die Zeile aus dem Lied vom „Rejsele“ (von Mordechaj Gebirtig) fiel mir ein, als ich zum ersten Mal vor dem Häuschen der jüdischen Gemeinde von Sopron stand. In einer Abzweigung der Neugasse (ung. Új utca), gleich neben der berühmten Synagoge aus dem 14. Jahrhundert, steht das neue Zentrum des Judentums von Ödenburg. 

Inhalt

Die Synagoge von Ödenburg (ung. Sopron) hatten die Kommunisten einst abgerissen und durch einen Wohnbau (Wiener würden sagen: Gemeindebau) ersetzt, doch nach der Wende kam das schlechte Gewissen und man stellte der nunmehr sehr kleinen Gemeinde ein sehr kleines Gebäude aus dem Mittelalter zur Verfügung. Das Haus besteht hautsächlich aus Stufen, weil es pro Geschoss nur einen Raum mit je etwa 25 Quadratmetern gibt. Im Erdgeschoss stehen einige Sessel bereit und es hängt der Schlüssel für den ersten Stock. Dort befinden sich der Betraum für etwa zwanzig Personen, der Sitz für den Rabbiner und ein Schrank mit einer sehr schönen alten Thora-Rolle. Seitlich steht der Sessel (von Kohn!) des Rabbi Max Pollak, der fünfzig Jahre lang Rabbiner in Ödenburg war und freiwillig mit seinen Gemeindemitgliedern nach Auschwitz in die Gaskammer gegangen ist. Seiner wird heute noch viel gedacht: ein Held, der sich für seine Mitmenschen geopfert hat. 

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Gedenktafel in Sopron, Text: „An der Stelle dieses Hauses stand die neologe Synagoge, deren erster und einziger Rabbiner Dr. Miksa Pollak war (Historiker, 1868–1944). Einer von ihnen, einer von uns. Gestiftet vom Verlag Unser schönes Sopron und von Dezső Walter. Bildhauer: László Kutas, 2007.

Im obersten Stock, dem ausgebauten Dachgeschoss, köchelt am Donnerstagabend schon fröhlich der Tscholent vor sich hin, hier werden die Feiertage und der Schabbes gefeiert. Katalin Kerschbaum hat mich eingeladen, die Vizepräsdentin und gute Seele der neologen1 Kultusgemeinde – die konkurrierende orthodoxe existiert nicht mehr. Sie wohnt wie viele der etwa fünfzig Mitglieder nicht mehr in der Stadt; manche kommen aus Budapest, andere aus dem nahen Österreich. Es ist nicht leicht, in einer so kleinen Gemeinde den Minjan zusammen zu bringen, da muss man oft telefonieren, sagt sie. Gemeinsam mit ihrem Mann Ernő tut sie alles, um das Gemeindeleben zu erhalten.

 

 

Wieso die Gemeinde so klein ist, liegt daran, dass die Nazis in ihrer Vernichtungswut die ungarischen Juden von Westen nach Osten gesammelt und nach Auschwitz deportiert haben, sodass die grosse Budapester Gemeinde übrigblieb, weil die Rote Armee das Morden dort rechtzeitig beendete. Nach Sopron kehrten nur wenige zurück. Dann kam 1956, wo wieder viele das Land verliessen, dann fiel 1989 der Eiserne Vorhang, und die Auswanderung ging weiter.

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Stolpersteine in Sopron für Dr. Miksa Pollak und seinen Sohn Károly Pap.

Trotz der geringen Anzahl an Mitgliedern sind die Leistungen der Gemeinde beachtlich. Man zeigt nicht nur Präsenz in der Stadt, sondern schaffte es auch, den teilweise stark zerstörten Friedhof vorbildlich zu restaurieren. Hier wurde auch dem Rab­biner Max Pollak (1868-1944)2  ein würdiges Mahnmal in Form eines steinernen Buches errichtet. Er war nicht nur in der Religion, sondern auch in der Geschichtswissenschaft zuhause. Er verfasste die Bücher Die Juden in Wiener Neustadt3 und Die Juden in Ödenburg.4 Mit seinem Sohn Károlyi Pap war er übrigens nicht einer Meinung, tragischerweise kam auch dieser 1945 ums Leben.

 

Jüdisches Leben in dieser Diaspora der Diaspora aufrecht zu erhalten, ist schwierig. Koscheres Essen gibt es im weiteren Umkreis nicht, aber bevor man verhungert, lehrt uns der Talmud, kann man auch anderes essen. Anders als in Frankreich sind in Ungarn (und in Österreich) die Supermärkte nicht für die Minderheiten eingerichtet, aber es gibt ja noch Nestlé, ­Soletti, Kelly‘s Chips und anderes, was auf der Hamadrich-Liste5 steht.

 

Die Gemeinde traf sich am 2. Juli 2023 auf dem Friedhof zum alljährlichen Gedenken an die Deportation nach Auschwitz. Rabbi und Kantor kamen aus Budapest, es war eine sehr würdige Feier in der Halle der Namen. Der Präsident der Kultusgemeinde, Dr. András Büchler, und der Bürgermeister, Dr. Ciprian Farkas, hielten Ansprachen vor den Gebeten und der grossen Rede des Landesrabbiners. Dabei bemerkte man die tiefe Rührung der Menschen, deren Eltern und Grosseltern der Vernichtung zum Opfer gefallen waren. Diese Wunden sind bis heute bei manchen auch jüngeren Frauen und Männern offen geblieben.

 

Sehr positiv empfand ich die Anwesenheit von Kindern und Jugendlichen – ein Zeichen dafür, dass das Judentum in Ungarn Zukunft haben kann und haben wird. Ein schöner Gegensatz zu christlichen Kirchen, die oft nur noch von betagten Menschen besucht werden. Wenn man aus Österreich kommt, wird man herzlich aufgenommen. Es wird nur immer mit schlechtem Gewissen nach der Politik gefragt. Wenn man sagt, nu, unsere Regierung ist auch nicht besser, dann freuen sich alle und das Misstrauen ist gebannt. Das etwas schräge Ansehen Ungarns im Ausland tut der nationalen Seele – auch der jüdischen – weh. Doch verglichen mit den Zuständen in Frankreich, Deutschland und – wenn man der Statistik6 glauben darf – auch Österreich, ist Ungarn, der Paria der Europäischen Union, weit erfolgreicher in der Bekämpfung des Antisemitismus gewesen.7

 

Der Höhepunkt meiner Erlebnisse in der neologen Gemeinde war das Laubhüttenfest, Sukkot. Es hatte sich herumgesprochen, dass das Neujahrsfest sehr nett war, also besuchte eine Menschenmenge den Hof mit der Laubhütte, es gab nicht genug Sessel in der Synagoge und der Speiseraum war viel zu klein, es wurde (mehrsprachig) getratscht und diskutiert, gegessen und Wein verkostet und das jüdische Leben von einst, von dem alte Leute oft erzählen, wurde wieder spürbar.

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Der jüdische Friedhof in Sopron vor der Restaurierung. Foto: K. Kerschbaum, mit freundlicher Genehmigung M. Bittner.

Und doch war etwas anders als früher, es kamen zwei „Gorillas“ aus Budapest, die MAZSIHISZ zu unserem Schutz geschickt hatte, denn zur selben Zeit fand ein paar hundert Meter entfernt eine Neonazi-Versammlung zu Gedenken an den verstorbenen österreichischen Neonazi Gerd Honsik statt. G’tt sei es gedankt, dass sie auf ihrem Platz blieben und uns keinen Besuch abstatteten.

Joseph Roth, mein Vorgänger als „Rasender Reporter“ in West­ungarn, würde sich wundern, was sich in den letzten einhundert Jahren alles geändert hat, könnte er die gar nicht mehr öde Stadt mit ihren lebensfrohen Menschen sehen.

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Gemeindehaus der neologen jüdischen Gemeinde von Sopron.

Alle Fotos: M. Bittner, mit freundlicher Genehmigung.

 

Anmerkungen

1 https://en.wikipedia.org/wiki/Neolog_Judaism

2  https://apis.acdh.oeaw.ac.at/person/49427

3  Max Pollak, Leopold Moses, Geschichte der Juden in Wiener-Neustadt. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Österreich. Jüdischer Verlag Wien 1927

4  Max Pollak, Die Geschichte der Juden in Ödenburg. Adria Verlag, Wien 1929

5  https://ikg-wien.s3.eu-central-1.amazonaws.com/ikg-wien/assets/_FCVOt4N/anlagen-hamadrich-2022.pdf abgerufen 29.06.2023

6  https://de.statista.com/statistik/daten/studie/822555/umfrage/antisemitische-vorfaelle-in-oesterreich/

7  Martin Josef Böhm, Judentum in Ungarn. Deutsch-Ungarisches Institut für europäische Zusammenarbeit, Budapest o.J. S. 9-11 https://magyarnemetintezet.hu/documents/doc/Situation%20Juden_MB_DP_HM.pdf abgerufen 05.07.2023