Ausgabe

PESSACH 5784/2024

Rabbiner Dr. Joel Berger

Inhalt

In einem Abschnitt des Talmuds lesen wir folgende Lehre zum Pessach-Fest: 

 

„Im Monat Nissan (dem Monat des Pessachfestes) wurden unsere Vorfahren erlöst – als sie von G´tt aus der Knechtschaft Ägyptens geführt wurden – und eines Tages werden auch wir im Monat Nissan erlöst werden.“   

 

Bei näherer Betrachtung dieser Aussage wird deutlich, dass der Talmud zum einen die physische Befreiung aus der Sklaverei bereits als Vorstufe der Erlösung betrachtet.  Andererseits konzentriert er sich auf eine endzeitliche und vollkommene Erlösung als Hoffnung der gesamten Menschheit. Wir werden oft gefragt, auf welchen „Retter“ oder welche „Erlösung“ wir noch warten?

 

Die Propheten Israels betrachteten den Maschiach, den Erlöser (den Gesalbten G´ttes), als einen Retter, der die Menschen näher zu G´tt bringen und auch jedwede Knechtschaft abschaffen könnte. In jenen Zeiten dachten die Menschen an eine reale Person, wenn sie vom Maschiach sprachen, ebenso wie an epochale Ereignisse in der Welt, die die messianische Zeit, die Erlösung, ankündigten.

 

Rabbi Mosche ben Maimon, den wir als Rambam, den grossen jüdischen Philosophen des Mittelalters kennen, verkündete in seinem Glaubensbekenntnis sein uneingeschränktes Vertrauen auf das Kommen des Erlösers. Es gibt jedoch Gelehrte, die den Maschiach als „Person“ ablehnen. Joseph Klausner, ehemaliger Professor an der Hebräischen Universität in Jerusalem, hat sich bemüht, den Unterschied zwischen den beiden Ansichten zu verdeutlichen: Die „messianische Zeit“ ist eine prophetische Hoffnung auf das „Ende der Tage“, wenn Freiheit und moralische Vollkommenheit sowie irdisches Glück sowohl für die Israeliten in ihrem Land als auch für die gesamte Menschheit kommen werden. Der Glaube an die „Person“ des Maschiach ist eine weitere prophetische Hoffnung: für das Ende der Tage. Der mächtige Erlöser soll durch seine Kraft und seinen Geist die Erlösung bringen. Die späteren biblischen Propheten, wie Joel, Nachum, Habakuk, Zephanja und Maleachi erkannten keine irdische Person als Maschiach an. Für sie war G´tt der Erlöser. Die Propheten Chaggai und Sacharja hingegen stimmten für eine reale Person als Maschiach, die aus dem Hause König Davids stammen soll. Es gab also einen „Pluralismus“ im Tenach, in unserer Bibel, sogar unter den Propheten, was den Erlöser anbelangt.

 

Das herausragende Merkmal aller messianischen Vorstellungen über die Zukunft der Erlösung ist jedoch das Konzept des „Schalom“, des Friedens. Der Prophet Jesaja kündigt die Vergebung der Sünden durch den Herrn an und fügt hinzu: „Kehrt zu Mir zurück, Ich habe euch bereits erlöst.“ (Jes. 44:22) Wenn dieses Wort den vollen Umfang der Erlösung enthält, welche Aufgaben, welche Verheissungen könnte der Erlöser, der von G´tt Gesalbte, der Messias, noch erfüllen? 

 

Ich glaube, dass Jesaja uns in seiner prophetischen Weissagung die Erlösung als einen „mehrstufigen Heilsplan“ G´ttes vorstellen will. Zunächst ergiesst sich der Geist G´ttes über das Volk aus und bewirkt seine innere Erneuerung. (Jes. 44,3) Erst dann erfolgt die Rückkehr der Verbannten aus dem Exil, – unter grossem Jubel. Jesajas poetisch durchdrungene Phantasie lässt Himmel und Erde über diese Rettungstat G´ttes frohlocken: „Wüste, dürre Heide und Steppe jubeln und blühen herrlich, wenn G´tt die Verbannten Seines Volkes nach Zion zurückführt.“ (Jes.44: 23) Der Gesalbte G´ttes würde erst jetzt nach diesem Heilsplan erscheinen. 

Jesaja beschreibt die Erlösung wie folgt: 

 

„Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe grasen zusammen, und ein kleiner Knabe weidet sie...“ (Jes. 11: 6-9) 

 

Es ist nicht überraschend, dass auch Tiere in diese endzeitliche Harmonie einbezogen werden. Es bedeutet, dass auch die Entfremdung zwischen Natur und Mensch überwunden wird. Der Maschiach ist nicht nur der Erlöser Israels. Seine Botschaft von sozialer Gerechtigkeit und Frieden wird sich an alle Menschen richten. Der Glaube an das Kommen des Maschiach projiziert vielmehr die globale Hoffnung auf die Zukunft aller Menschen in dieser Welt.

 

Rabbiner Leo Baeck, der bedeutendste Vertreter des liberalen deutschen Judentums im vorigen Jahrhundert und lange Jahre dessen unbestrittene Leitfigur vor der Shoah, beschrieb den „Messianismus der Bibel“ als horizontal, das heisst, an das Ende der Zeit „versetzt“, aber noch im Diesseits. Im Gegensatz dazu ist das Bild des Messianismus der Apokryphen, also jener Werke, die nicht in unsere Bibel aufgenommen wurden, eher vertikal. Hier wird die messianische Hoffnung ins Jenseits verlagert – und nicht mehr im Sinne der inneren Welt verstanden.

 

Das Pessach-Fest ist die älteste Hoffnungsgeschichte, die je erzählt wurde. Sie berichtet, wie eine ansonsten unscheinbare Gruppe von Sklaven ihren Weg in die Freiheit aus dem grössten und langlebig­sten Reich ihrer Zeit, ja aller Zeiten, fand. Sie erzählt die revolutionäre Geschichte, wie die höchste Macht, G´tt, in die Geschicke der Israeliten eingreift, um die völlig Machtlosen zu befreien. Sie definiert, was es bedeutet, Jude zu sein: ein lebendiges Symbol der Hoffnung.

 

Das Pessach-Fest gibt uns die Wahl: auf der einen Seite das „Brot des Elends“ und die bitteren Kräuter der Sklaverei, auf der anderen Seite „vier Becher Wein“, von denen jeder eine Etappe auf dem langen Weg zur Freiheit markiert.

 

Alle messianischen Hoffnungen und Erwartungen sind geeignet, den Menschen Vertrauen einzuflössen und ihre Kräfte zu stärken, damit sie so lange ausharren können, bis diese messianische Zeit wirklich anbricht und für alle Menschen spürbar wird. Niemand von uns kann heute sagen, wann dies geschehen wird. Wir warten täglich auf ihre Ankunft.