Ausgabe

Musikalische Praxis in Prager Synagogen

Michael Bittner

Inhalt

Martha Stellmacher: Von der Altneuschul zum Jerusalemtempel. Musikalische Praxis in Prager Synagogen vom 19. Jahrhundert bis zur Schoah.

Veröffentlichungen des Collegium Carolinum Band 147.

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, 2024.

Gebunden, 331 Seiten, Euro 50,00.-

ISBN 978-3-525-30242-2

 

Die jüdische Gemeinde von Prag – mit der Altneuschul[1] und ihrem Friedhof – war eine ganz besondere, sie beflügelte die Phantasie von Schriftstellern wie Gustav Meyrinck und Umberto Eco, Filmemachern (Paul Wegeners Golem), aber auch Verschwörungstheoretikern. Die religiöse Musik ist eine neue Façette dieser an Wundern reichen Gemeinde. Vorweg – einen Salomon Sulzer hatte Prag nicht, und die liturgische Veränderung durch die Annäherung an das Christentum passierte etwas später als in Wien oder Berlin, wiewohl grösstenteils im Sinne dieser grossen Vorbilder.

 

Das vorliegende Buch ist eine Dissertation, die auf sehr gründlichem Quellenstudium basiert und einen sehr hohen Erkenntniswert aufweist, wenn man die Überlieferung bedenkt, die nicht nur lückenhaft ist, sondern auch mehrsprachig. Jiddische, hebräische, deutsche und tschechische Quellen hat die Autorin bearbeitet – vor allem letztere sind bisher zu kurz gekommen, war dies doch die Sprache der wenig Begüterten.

 

Die Verfasserin entwirft ein detailliertes Bild der Prager jüdischen Gemeinde im letzten Jahrhundert ihres Bestehens anhand von deren musikalischen Aktivitäten. Darüber hinaus gibt sie Auskunft über die Baugeschichte der Synagogen und die Entwicklung der jüdischen Bevölkerung im 19. Jahrhundert.

 

Wie auch in der bürgerlichen Gesellschaft, war der Assimilationsdruck offenbar sehr gross. So, wie wir heute das Phänomen „Weihnukka“ kennen, war es damals die Attraktivität der Musik in christlichen Liturgien, die zu Nachahmung aufforderte. Daher wurden neben der Beibehaltung traditioneller Riten Chor- und Orgelmusik eingeführt. Abbildung 2[2] zeigt jenes Instrument, wie es ein bisschen verschämt auf der Frauenempore der Spanischen Synagoge steht. Welche Kontroversen gerade die Einführung der Orgel – als typisches Kircheninstrument – auslöste, weist Stellmacher am Beispiel der Zigeuner-Synagoge nach, wo der Oberrabbiner Markus Hirsch 1886 die Aufstellung einer Orgel verhinderte. Auch dürften viele Organisten Nichtjuden gewesen sein.[3]

 

Die Chormusik setzte sich in allen Synagogen durch, auch organisiert in eigenen Vereinen. Die Gesangsstücke wurden teils adaptiert, teils handelt es sich um Neukompositionen. Dazu wurden im 19. Jahrhundert, wie im christlichen Bereich, historische Lieder ausgegraben und ediert, beispielsweise „altjüdische Gesangsweisen aus Böhmen“ vom bedeutenden Kantor Benedikt Singer.[4]

 

Neben althergebrachten Liedern wurde auch neue Chorliteratur gepflegt, von Salomon Sulzer und anderen Komponisten des 19. Jahrhunderts, auch von Nichtjuden wie Richard Wagner, dessen Brautchor aus Lohengrin auf dem Programm stand.[5] Seine widerliche antisemitische Kritik des Synagogengesangs war in Prag damals offenbar nicht bekannt gewesen.[6]

 

Die Prager Judengemeinden waren diesem deutschen Antisemitismus, aber besonders dem Judenhass der tschechischen Nationalisten ausgesetzt, der sich in wiederkehrenden Verfolgungen manifestierte: „Ein Jude kann kein Tscheche sein.“[7] Das alte Ghetto wurde schon um 1900 von der Stadtverwaltung zerstört, die Bevölkerung dann 1939–1945 von den Nationalsozialisten grösstenteils vernichtet.[8]

 

Die Verwendung der deutschen Sprache in Prag und den böhmischen Städten durch die jüdische Bevölkerung wirkt überraschend, ebenso wie die von jüdischen Sängern getragene „Schillerfeier“. Jiddisch wurde offiziell nicht als eigene Sprache geführt, das Tschechische erst 1901 von der Kultusgemeinde Prags dem Deutschen gleichgestellt.[9]

 

Dieses äusserst informative und blendend recherchierte Buch endet mit einem ausführlichen Quellen- und Literaturverzeichnis sowie einem Personen- und Ortsregister. Eine sehr empfehlenswerte Lektüre für Menschen mit Beziehung zur Musik oder zum Judentum, sowie für alle Freunde des „Goldenen Prag“.

 

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abbildung-2-orgel-in-der-spanischen-schul.jpg

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Anmerkungen

 

[1]Altneuschul auf einem Stich des 19. Jahrhunderts, Archiv des Verfassers

[3]Stellmacher S. 88, S. 153

[4]Stellmacher S. 178f.

[5]Stellmacher S. 170

[6]https://home.edo.tu-dortmund.de/~hoffmann/PDF/Wagner1.pdf  „Wer hat nicht Gelegenheit gehabt, von der Fratze des gottesdienstlichen Gesanges in einer eigentlichen Volks-Synagoge sich zu überzeugen? Wer ist nicht von der widerwärtigsten Empfindung, gemischt von Grauenhaftigkeit und Lächerlichkeit, ergriffen worden beim Anhören jenes Sinn und Geist verwirrenden Gegurgels, Gejodels und Geplappers, das keine absichtliche Karikatur widerlicher zu entstellen vermag“.

[9]Stellmacher S. 213-216