Ausgabe

Mordechai Strigler

Michael Bittner

Inhalt

Frank Beer (Hg.): Mordechai Strigler, Schicksale. Verloschene Lichter IV. 

Ein früher Zeitzeugenbericht über die Opfer der Schoah.

Springe: Klampen Verlag 2024.

688 Seiten, Euro 48,00.-

ISBN 978-3-98737-002-1

 

Ein Buch, das einem gleich ins Auge fällt, mit grafischer Wucht – ein Ziegel Papier, gewandet in eine KZ-Textilie, mit dreidimensionalen Effekten, das macht schon etwas her.

 

Wenn man das Buch öffnet, liest man, dass es eine Übersetzung aus dem Jiddischen ist, der „Sprache der Opfer“, die nach der Shoah nicht gern gehört wurde. Das kurze, aber informative Vorwort von Marion Eichelsdörfer beleuchtet Leben und Werk des Autors.

 

Mordechai Strigler wurde 1918 in Zamosc, Polen, in eine chassidische Familie geboren. Er selbst gab sein Geburtsdatum lieber mit 1921[1] an.  Vor dem Krieg arbeitete er als Prediger, Schriftsteller und Lehrer. 1939 von den Nazis ins Ghetto gesperrt, durchlief er während seiner Gefangenschaft zwölf Lager, darunter auch Majdanek; befreit wurde er in Buchenwald. Sein schriftstellerisches Oeuvre ist auf Jiddisch, daher wurde er erst spät von der Öffentlichkeit wahrgenommen.[2] In New York, seiner neuen Heimat, schrieb er vor allem für jiddische Zeitungen, er arbeitete bei der Wochenzeitung Yidischer Kemfer, später bei der Tageszeitung Forverts. Strigler starb in New York am 10. Mai 1998.[3]

 

Striglers literarisches Werk umfasst Gedichte, Novellen und einen historischen Roman, vor allem aber Erfahrungsberichte aus der Shoah. Das vorliegende Buch Schicksale, 688 Seiten schwer, ist der vierte und letzte Teil der Reihe Verloschene Lichter, geschrieben schon 1950, gedruckt in Buenos Aires 1952, auf Deutsch erst 2024 erschienen. Die ersten drei Teilbände widmeten sich einzelnen Lagern, Majdanek, Fabrik des Todes und Werk C, die Neuerscheinung schliesst mit dem Abtransport nach Buchenwald. Das letzte Kapitel, das Strigler „Megilla Buchenwald“ nennen wollte, wurde nie veröffentlicht – vielleicht findet sich noch irgendwo das Manuskript?[4]

 

Der Text ist für die ältere Überlebenden-Literatur durch seine übertriebene Distanziertheit typisch, der Autor erscheint als Kommentator des furchtbaren Geschehens, nicht als direkt Betroffener. Er kreiert einen Avatar, „Mechele“, und kann so in der dritten Person schreiben. Vielleicht ist dies eine Eigenheit der verlorenen Generation, die sich für das Verfolgtwordensein genierte. „Selbst wenn du am Leben bleibst, wirst du dich schämen, von solchen Dingen zu schreiben“ meinte er. [5] Dazu kommt die poetische Attitüde des Dichters, der er war: wenn er im Lager von „feierlich vergoldeten Tagen“ schreibt (Seite 375), liest sich dies angesichts der Zustände in der „Hitlerhölle“

seltsam.

 

Es ist ein altmodischer Lesegenuss, den dieses Buch ermöglicht. Nicht das Aufklären, das Warnen, das Dokumentieren der Unmenschlichkeit steht im Vordergrund wie sonst bei Shoah-Literatur. Die Darstellung ist romanhaft, manchmal humoristisch; nur am Rande werden die Unmenschlichkeiten des Lagerlebens erwähnt, es gibt Tratsch, viele Details, wenig Blut und wenig Hiebe. Man könnte dies als „beredtes Schweigen“ interpretieren, um es mit einem Oxymoron zu belegen.

 

Die Übersetzung jiddischer Texte ist sehr schwierig, Strigler war ein Intellektueller, wie schrieben diese in der Volkssprache, wie würde das auf Deutsch klingen? Es scheint, dass manchmal das Sprachniveau nicht so getroffen ist, wie man es erwarten würde – macht man auf Hochdeutsch tatsächlich „keinen Pieps“ (S 480)? Wäre es mit „kein Laut“ nicht schöner übersetzt?[6] Und was ist ein „aufgelebtes Gesicht“? (Seite 424). Dennoch – die Übersetzung eines solchen umfangreichen Werks ist eine herkulische Aufgabe, die mit Anstand gemeistert wurde. Besonders gefällt mir die Vermeidung der slawischen Syntax, wie sie bei Übersetzungen aus dem Jiddischen leider viel zu selten vorkommt.[7]

 

Ein Buch, das über 70 Jahre nach seiner Entstehung leider immer noch sehr wichtig ist, in dieser Zeit des Erstarkens des aggressiven Antisemitismus, wie wir es seit dem 7. Oktober 2023 in Westeuropa und besonders in den U.S.A. erleben müssen.

 

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Anmerkungen

 

 

[2]Aus dem zitierten Werk, S. 5-15

[4]Aus dem zitiertebn Werk S. 687

[6]Siegmund A. Wolf, Jiddisches Wörterbuch, Buske-Verlag Hamburg (1993) S. 155

[7]Vgl. Salcia Landmann, Jiddisch. Das Abenteuer einer Sprache. Ullstein Frankfurt/Berlin (1988) S. 253 ff