Michael hat zugesperrt. Oft klebte ich mit der Nase an seiner Auslagenscheibe und begutachtete Schlüssel, Vorhängeschlösser und vor allem Schlüsselanhänger, die mit Davidsternen und Miriams Hand geziert waren, in vielen Farben, Grössen und Designs.
Jetzt ist das Geschäft verwaist. Junge Leute setzen sich heute nicht mehr in ein dunkles Gewölbe und warten auf Kundschaft. Sie suchen sich Jobs in klimatisierten Büros mit möglichst geringer Stundenverpflichtung und garantiertem Monatsgehalt. Dass Michael zugesperrt hat, ist heutzutage ja kein Wunder. Er hat altersbedingt aufgehört, wie viele aus dieser Generation der „Boomer“, die jetzt ins Pensionsalter kommen. Viele andere sperren aus Pleitegründen. Nicht nur kleine Geschäftsleute, auch grosse Konzerne mit Tiroler Wurzeln müssen vor der Wirtschaftspolitik der Europäischen Union kapitulieren und melden Konkurs an.
Judengasse in Wien, 2024. Foto: M. Bittner, mit freundlicher Genehmigung.
Um viele dieser Geschäfte ist auch nicht schade und sie hinterlassen nicht die berühmte Lücke, wenn sie schliessen. Bei Michael ist das anders. Es war das vorletzte jüdische Geschäft in einer Gasse des Ersten Wiener Gemeindebezirks, in der sich früher einer Perlenkette gleich eine jüdische Unternehmung an die nächste schloss. Beim letzten jüdischen Geschäft, der Textilhandlung am Eck, diesem verlässlichen Sockenlieferanten, gehe ich oft vorbei und denke mir: „Wie lange wird das noch sein?“
Juden und Geschäfte: das ist die typische, mitteleuropäische Kombination der letzten Jahrhunderte, auch Banken sind ja Geschäfte, sie sollten es zumindest sein. In Osteuropa waren Juden Bauern, Handwerker und Arbeiter, in Mitteleuropa blieben ihnen diese Berufe verwehrt und man wich auf Handel und Geldwesen aus.1 Diese Erwerbszweige waren es, die das Judentum gross gemacht und den Neid der Antisemiten entfacht haben, aber auch die Möglichkeit boten, mit jüdischen Menschen ins Gespräch zu kommen, das Judentum kennen zu lernen – für Juden die Chance, Präsenz zu zeigen.
Boykott jüdischer Geschäfte durch die Nationalsozialisten, Deutschland 1933 Foto: Georg Pahl. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_102-14468,_Berlin,_NS-Boykott_gegen_jüdische_Geschäfte.jpg
Leon de Winter, der holländische Produzent schlimmer Gedanken, prophezeite unlängst, 2050 werde es keine Juden mehr in Europa geben.2 Wenn ich mir das Verschwinden der jüdischen Geschäfte aus der öffentlichen Wahrnehmung ansehe, bin ich fast der Meinung des „pessimistischen Realisten“.
Jüdische Geschäfte waren auch – wie Synagogen – ein Hauptangriffspunkt der Antisemiten. „Kauft nicht bei Juden“3
und Ähnliches wurde da auf die Fenster geschmiert, Scheiben wurden eingeschlagen und es wurde – natürlich – fleissig geplündert. Wir sind heute in einer Situation, die sich auf die geistige Verfasstheit der Dreissiger Jahre zubewegt: so hat ein Juwelier kürzlich alle silbernen Kultgegenstände aus den Schaufenstern entfernt, eine gescheite Aktion, aber eigentlich ein Armutszeugnis für Wien.
Klarerweise ist dies eine gesamteuropäische Entwicklung. Leider sperrten auch meine Lieblingsgeschäfte und bevorzugten Cafés in Paris zu; hier ist der Antisemitismus noch viel stärker ausgeprägt als in Österreich. Von der Europäischen Union kann man sich nichts erwarten – sie ist mit sich selbst und dem Verteilen von Subventionen an Grosskonzerne beschäftigt (sowie mit dem eigenen guten Auskommen).
Boykott heute: BDS-Plakat mit übermalter Israel-Flagge, Melbourne 2010. Foto: Takver. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://de.wikipedia.org/wiki/Boycott,_Divestment_and_Sanctions#/media/Datei:Israel_-_Boycott,_divest,_sanction.jpg
Eine Lösung könnte es sein, wenn jüdische Institutionen die Gründung von neuen Geschäften durch junge Menschen unterstützen, natürlich finanziell, aber auch durch Ausbildung. Man kann am Jüdischen beruflichen Bildungszentrum (JBBZ) 4 vieles lernen, aber wie wäre es mit einer Initiative für den Kaufmannsberuf? Eine Renaissance des Greisslers wird es nicht geben, aber Nischenprodukte, Cross-Over-Stores und Dienstleistungen im digitalen Bereich könnten für die Zukunft tragfähige Unternehmen sein und die jüdische Präsenz in der Stadt wieder stärker sichtbar werden lassen. Make Jewish Shops Great Again!
Zum Schluss noch ein jüdischer Witz: Ein Mann sieht in einer Auslage eine wunderschöne Wanduhr. Er betritt das Geschäft und erkundigt sich nach dem Preis. „Die ist nicht zu verkaufen ich bin kein Händler, sondern der Mohel!“ „Warum hast Du dann so eine Uhr in der Auslage?“ „Na, was soll ich denn sonst raushängen?“.
Ein Buchtipp, alt, aber gut: „The Assistant“ von Bernard Malamud.5
Anmerkungen
1 Brugger, Eveline; Keil, Martha; Lichtblau, Albert; Lind, Christoph; Staudinger, Barbara: Geschichte der Juden in Österreich, Wien 2006, S. 270 ff.
2 https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/ich-bin-ein-pessimistischer-realist/ abgerufen 27.11.2023.
3 Abbildung 2: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a7/Bundesarchiv_Bild_102-14468%2C_Berlin%2C_NS-Boykott_gegen_j%C3%BCdische_Gesch%C3%A4fte.jpg abgerufen 27.11.2023.
4 Jüdisches berufliches Bildungszentrum, https://jbbz.at/
5 https://www.amazon.com/Assistant-Novel-Bernard-Malamud/dp/0374504849