Ausgabe

Die „Galerie zu Hause“ Zur Nutzung der Synagoge von Šamorín

Frank N. Schubert

Csaba Kiss, 1970 geboren, hatte schon in den 1980er Jahren, als Teenager, für Aufsehen gesorgt. 

Inhalt

Zweimal hatte Csaba Kiss den Eisernen Vorhang überwunden, einmal nach Österreich und einmal nach Jugoslawien, war aber beide Male nach Hause zurückgekehrt – so ähnlich wie der „Mauerspringer“ in Peter Schneiders gleichnamigem Roman (1982) über einen jungen Ostberliner, der es sich zum Hobby gemacht hatte, von Ost- nach Westberlin zu wechseln – nur zum Spass. Am 10. November 1989, als sich die „Samtene Revolution“ abzeichnete, brach Kiss zusammen mit seinem Freund Attila Pörsök den roten Stern vom Denkmal der Roten Armee im Zentrum von Šamorín ab; er wurde noch für zwei Tage eingesperrt. Heute liegt der rote Stern vor der dortigen Synagoge, wobei sich erst da zeigte, dass jene Steinplatte, auf der er befestigt war, ursprünglich ein jüdischer Grabstein gewesen war.

 

Als er wenig später in Vancouver studierte, verliebte sich Csaba Kiss in seine Englischlehrerin Suzanne – sie entschloss sich schliesslich, mit ihm in seine Heimat zu übersiedeln. In ihrer Wohnung in der Gazdovsky-Strasse eröffneten die beiden 1995 eine kleine Galerie, die sie – passenderweise – ihre „At Home Gallery“ nannten: die Galerie zu Hause. Eine erste Ausstellung eröffnete das Paar am 9. Dezember 1995 – mit Bildern des 1959 geborenen älteren Bruders von Csaba, Tibor Somorjai-Kiss, der in Budapest lebt. 1996 pachteten sie die nahegelegene, halbverfallene Synagoge von der Union der jüdischen Gemeinden in der Slowakei und verlegten die Ausstellung dorthin. Die alte Synagoge befindet sich neben dem Haus der Gross- eltern Kiss’; Csaba Kiss kannte sie seit Kindheitstagen. Er wollte „dieses wunderschöne Gebäude für künftige Generationen erhalten und vor dem Verfall schützen“. 

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Der Autor des Beitrags (Zweiter v. li.) mit Suzanne Kiss, Elena Schmidl, Csaba Kiss und Irene Schubert, 2019. Foto: E. A. Schmidl, mit freundlicher Genehmigung.

Die Synagoge als Treffpunkt der Kulturen 

Es ging ihm aber um mehr. Wie Professor Gábor Hushegyi, ein ungarisch-slowakischer Kunstkritiker, über das junge Ehepaar schreibt: 

„Sie wollen Künstler präsentieren, die von den offiziellen slowakischen Strukturen ausgeschlossen sind, sowie junge, talentierte Künstler fördern, die wertvolle Werke anzubieten haben. Damit wollen sie das kulturelle und künstlerische Leben in einer Region bereichern, wo unterschiedliche Kulturen zusammenleben: indem sie einen neuen Blick auf Kunst und einen erweiterten kulturellen Horizont anbieten.“ 

 

Genau dies taten sie, indem sie heimischen und internationalen Künstlern einen Freiraum für ihre Arbeit und Multi-Media-Projekte schufen. Csaba und Suzanne Kiss machen dies bis heute, privat und non-profit, ohne staatliche Unterstützung oder irgendwelche kulturellen, politischen oder methodischen Vorgaben und Einschränkungen. Die Galerie lebt von privaten Spenden, Zuwendungen aus Stiftungen sowie einer kleinen Subvention der Stadt Šamorín, und mit moralischer Unterstützung der jüdischen Gemeinde in der Slowakei. Zu den Unterstützern zählen die schweizerische Pro Helvetia, die slowakische feministische Künstlerinnen-Gruppe Aspekt, kulturelle Institutionen in Ungarn und der Tschechischen Republik, sowie das Soros Centre for Contemporary Art (SCCA) in Bratislava, inzwischen Teil des International Contemporary Art Network (i_CAN) mit Sitz in Amsterdam. 

 

Geradezu paradox mutet es an, dass George Soros, der in seiner Heimat (und nicht nur dort) zur Zielscheibe rechtradikaler, antisemitischer Verschwörungstheorien wurde, hier eine ungarische Initiative in der Slowakei unterstützt.

 

Bis 2007 konnte die alte Synagoge restauriert werden, wobei Zeichen der Zerstörung und Entweihung bewusst belassen wurden. An den Innenwänden ist die alte Ausmalung erkennbar, ausgebleicht und teilweise zerstört. Wie Csaba Kiss einmal der amerikanischen Autorin und Betreiberin der Website Jewish Heritage Europe Ruth Ellen Gruber (1911–2016) erklärte: „Die Wände haben Erinnerungen, wir können sie sehen. Das ist etwas Besonderes.“ 

 

Gruber sah in der Synagoge eine stille und leere Hülle, einsam am Rand der eher schäbigen Stadt gelegen – gerade deren verfallene Fassade unterstreiche die Wirkung als Überbleibsel einer zerstörten Vergangenheit. Die Synagoge wurde inzwischen Teil der „Slovak Jewish Heritage Route“1, die über zwanzig historische Synagogen, Friedhöfe, Museen und Holocaust-Gedenkstätten in der Slowakei betreut. Mit der Synagoge in Trnava (dt. Tyrnau/ung. Nagyszombat) unter ihrer Kuratorin Jana Geržová und dem Vojtech-Löffler-Museum in Košice (dt. Kaschau/ung. Kassa) mit dessen Kurator Vladimír Beskid besteht eine enge Zusammenarbeit zur Förderung innovativer, moderner Kunst. 

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Vor der Synagoge erinnert der gefallene Rote Stern an die „Samtene Revolution“ von 1989. Die Grundplatte – und das wurde erst nachher klar – besteht aus dem Grabstein des Ehepaars Lina und Dr. Jakob Pollach: Er war, wie es auf dem Grabstein heisst, „Arzt und Menschenfreund“ gewesen. Foto: E. A. Schmidl, mit freundlicher Genehmigung.

Angriffe und Erfolge 

Es gab nicht nur Unterstützung. Wo Juden oder jüdische Gedenkstätten sind, kommt es oft zu antisemitischem Vandalismus – da ist Šamorín keine Ausnahme. Schon 1997, während der „dunklen Zeit“ der Regierung unter Vladimír Mečiar, gab es einen ersten Angriff örtlicher Skinheads. Es sollte nicht der letzte sein; erst 2022 wurden Fenster eingeschlagen. Wie es Csaba Kiss formulierte: „Wir sind immer ein Ziel.“ 

 

Dies zeigte sich leider erneut im Oktober 2023, als örtliche Hooligans ein neues Ziel fanden: sie beschädigten das Denkmal, das jüngst nahe dem Rathaus errichtet worden war und die Namen der im Holocaust ermordeten Bürger aus Šamorín auflistet. 

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Eines der Kunstwerke in der Galerie. Foto: F. Schubert, mit freundlicher Genehmigung.

Von Anbeginn an präsentierte die Galerie eine grosse Bandbreite von Kunstwerken und Installationen und brachte so neue Perspektiven in die Region. Es geht dem Ehepaar Kiss um „die Freiheit des Ausdrucks und der Vielfalt“. Die Galerie hat bisher zwei Bände über ihre Arbeit publiziert (2011 und 2020). Um nur einige Beispiele zu nennen: Im März 1999 kamen vier tibetische Mönche und schufen in der Synagoge ein Mandala, was der Galerie längere Warteschlangen bescherte, als man sie vor den Lebensmittelgeschäften in kommunistischer Zeit gekannt hatte. Im Jahr 2000 kam kein geringerer als der Dalai Lama zur Eröffnung der neuen Arts House Residence in der renovierten ehemaligen jüdischen Schule neben der Synagoge – hier können Künstler aller Sparten für einige Wochen oder Monate als „artists in residence“ ungestört arbeiten. Ebenfalls 2000 erhielt die Synagoge den Open Europe Prize der Sándor-Márai-Stiftung

 

2022 schuf der österreichische Künstler Josef Baier (geb. 1951) ein „Lambdoma“ – eine in einem viereckigen Rahmen angeordnete Sammlung von 256 Metallröhren von bis zu drei Metern Länge, die das alte Ordnungsschema der Intervallproportionen oder „Tonzahlen“ hörbar machen soll. Der Klang, verbunden mit dem Gesang der deutschen Stimmkünstlerin Anna-Marie Hefele, ergibt ein faszinierendes Hörerlebnis.2 

Seit der Galerie-Gründung musste das Ehepaar Kiss viele Widerstände überwinden. Aber die kreative Arbeit geht weiter, und die „Galerie zu Hause“ ist weiterhin Treffpunkt für künstlerische Innovation und ein internationales Publikum. Die fast mystische Verbindung zwischen Gebäude, Besucher bzw. Besucherin und Kunsterlebnis hat der israelische Dichter Yehuda Amichai in seinem Poem Without an End (Gedicht ohne Ende) beschrieben: 

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 Im Jahr 2000 besuchte Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama, die Synagoge von Šamorín. Foto: Csaba Kiss, mit freundlicher Genehmigung.

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2015 sprach der slowakische Präsident Andrej Kiska anlässlich des 20-jährigen Bestehens der Galerie in der Synagoge von Šamorín. Links neben ihm die Dolmetscherin Enikő Both. Foto: Csaba Kiss, mit freundlicher Genehmigung.

Inside the brand-new museum 

There’s an old synagogue.

Inside the synagogue

Is me.

Inside me

my heart.

Inside my heart

a museum.

 

In dem brandneuen Museum 

steckt eine alte Synagoge. 

In der Synagoge 

bin ich. 

In mir 

schlägt mein Herz. 

In meinem Herzen

ist ein Museum.

 

Anmerkungen

1 www.slovak-jewish-heritage.org

2 zu hören unter https://anna-maria-hefele.com/lambdoma

 

Zum Autor 

Dr. Frank N. „Mickey“ Schubert (geboren 1943 in Washington, D.C.) ist ein amerikanischer Militärhistoriker. Seine Eltern waren ungarische Juden, die kurz vor dem Zweiten Weltkrieg in die U.S.A. auswanderten; seine Grosseltern beteten vor über hundert Jahren in der Synagoge von Šamorin. Schubert publizierte zahlreiche Bücher zur amerikanischen Militärgeschichte, zu afroamerikanischen Soldaten („Buffalo Soldiers“) in der U.S.-Armee sowie zu ungarischen Grenzregionen. Eine Neuauflage seines neuen Buches, The Past Is Not Past: Confronting The 20th Century In The Hungarian-Austrian Borderlands, wird demnächst bei Peter Lang erscheinen. 

 

Übersetzung und Bearbeitung: Dr. Erwin A. Schmidl.