Im September 1944, nur drei Monate nach der Ankunft des letzten Evakuierungstransportes von Dalmatinern aus Italien, zeichnete sich in Dalmatien die Befreiung von der deutschen Besatzung ab. Die Partisanen hatten sich seit dem Sommer 1944 mit britischer Unterstützung so weit gestärkt, dass sie an der gesamten dalmatinischen Küste angreifen konnten.
Die Partisanen räumten im Oktober und November die dalmatinischen Inseln; am 18.10.1944 fiel Dubrovnik, am 26.10.1944 Split. Mit einer extrem blutigen Schlacht, bei Knin im Hinterland von Mitteldalmatien, am 3. Dezember endete die deutsche Besetzung von Dalmatien – im Zuge ihres Abzugs von der Küste konnten sie jedoch noch immer Jüdinnen und Juden aus den dalmatinischen Städten Richtung Festland – in die Lager Jasenovac in Kroatien und Zemun bei Belgrad – transportieren und damit die Endlösung in Dalmatien vollziehen.
Repatriierung
Im Oktober 1944 wurden die Schiffsverbindungen zwischen den Inseln und den dalmatinischen Städten wieder aufgenommen; die Repatriierung der in Italien verbliebenen Evakuierten konnte beginnen. Der Antifaschistische Landesrat der Volksbefreiung Kroatiens richtete über die jugoslawische Militärmission in Bari Aufrufe zuerst an die in Italien lebenden jugoslawischen Künstler, Ingenieure, Architekten, Chemiker, Agronomen und Forstwissenschaftler, heimzukehren und sich für den Wiederaufbau zur Verfügung zu stellen. Von dort kehrten als erste die Olivenbauern auf die Inseln zurück, um die Olivenernte noch einbringen zu können. Bis Februar 1945 waren alle in Italien Untergebrachten heimgekehrt. Sie schufen insofern die Voraussetzungen dafür, dass die Lager in Nordafrika an die Reihe kommen konnten, als die Heimgekehrten den Repatriierten aus Afrika mit der Ernte, frischen Lebensmitteln sowie mit vorbereiteten Unterkünften zu Hilfe kommen konnten.
Am 27. Dezember 1944 gründete das „Zentralkomitee für die Evakuierung“ einen „Zentralen Repatriierungsstab“, und am 14. und 16. Februar 1945 stachen die ersten Schiffe mit den Heimkehrern aus El Shatt in Port Said und Alexandria in See: Das erste Schiff beförderte zweihundert Verwundete, das zweite die vierhundert freiwilligen Krankenschwestern, Chauffeure, Handwerker und andere Fachkräfte zur Ansiedlung der Heimkehrer. Das Gros der Insassen von El Shatt war seit Ende März 1945 auf die Repatriierung vorbereitet worden. Alle wurden geimpft: die Reihenfolge war abhängig von den Berufen und den Funktionen beim Wiederaufbau in der Heimat, dann vom Familienstand (Familien sollten nicht getrennt werden) und vom Gesundheitszustand. Träger ansteckender Krankheiten mussten vor Ort bis zur endgültigen Heilung behandelt werden. Die Verantwortung für das persönliche Gepäck der Heimkehrer wurde einem eigenen Komitee übertragen.
Tanzende Mädchen in weissen Kleidern. Foto: Amt für Kriegsberichterstattung (Ured za ratne informacije – Office for War Information) 1944–1945. HPM-MRNH-F-1793.
Am 11. April 1945 fuhr der erste Transport mit 1.298 Heimkehrern ab, am 22. April ein weiterer mit 1.731 Personen, und am 27. April ein Transport mit 1.290 Dalmatinern. Die nächsten Reisenden kamen am 11., 14. und 22. Mai an die Reihe: insgesamt 7.020 Personen. Wegen personeller Unstimmigkeiten innerhalb des UNRRA und Konflikten zwischen kommunistenfreundlichen und antikommunistischen Angehörigen der britischen Lagerkommandos trat bis Anfang Juni 1945 eine Unterbrechung ein, so dass mehr als 2.000 Heimkehrer bis 9. Juni warten mussten, weitere rund 2.000 Menschen bis Anfang Juli. Dann kamen erst am 18. Juli weitere 1.327 Personen an die Reihe.
Während der Sommermonate wurden die Heimtransporte ausgesetzt und am 20. Oktober 1945 für 1.830 Heimkehrer wieder aufgenommen. Nach Neujahr 1945 kamen 782 Personen in den Transport; im Jänner und Februar wurden in insgesamt sechs Fahrten 5.230 Personen repatriiert. Die Geduld der letzten 1.472 Personen wurde auf eine besonders harte Probe gestellt, denn zum Zeitpunkt der geplanten Abfahrt – nach Neujahr – brach in den Häfen Port Said und Alexandria eine Pestepidemie aus, die eine Blockade der Häfen erzwang. Diese dauerte bis 20. März 1946.
Das Lager El Shatt hörte mit der Repatriierung der Dalmatiner nicht zu bestehen auf, denn nicht alle Insassen – so etwa die Tschetniks im Lager El Arisha – wollten sich in einem kommunistischen Jugoslawien niederlassen. Das Lager füllte sich mit Flüchtlingen aus Griechenland, Polen, Österreich und Italien, die bis dahin in Lagern im Nahen Osten interniert gewesen waren. El Shatt bestand noch bis Jahresende 1948.
Gerüchteweise unterbrachen die Alliierten die Repatriierung nach Jugoslawien nicht nur wegen der Hitzeperiode oder wegen der knappen Schiffskapazitäten: Britische und französische Mannschaftsmitglieder vertrauten einigen Heimkehrern an, dass die Alliierten Marschall Tito wegen des Einmarsches der Partisanen in Triest am 2. Mai 1945 und der dort ausgeübten einmonatigen Terrorherrschaft „bestrafen“ wollten. Die jugoslawischen Stellen, die mit der Repatriierung befasst waren, vermuteten dahinter ein Signal britischen „Missfallens“ gegenüber der ständigen Anwesenheit von Mitgliedern des Jugoslawischen Nationalen Komitees und dessen Anspruch, die Siedler in den Zeltstädten unter ihrer Kompetenz und damit unter kommunistischer Kontrolle zu halten: eine Demonstration britischer Dominanz auch gegenüber dem seit 1943 von den Briten freundschaftlich unterstützten Jugoslawien. Titos Ansprüche besonders auf Triest, aber auch auf Klagenfurt und die ehemalige Kärntner „Abstimmungszone A“ (1919/1920) waren offensichtlich nicht vergessen – nun wurden die ehemaligen Flüchtlinge von El Shatt praktisch als Geiseln für diese Machtdemonstration missbraucht.
Mira Altarac und ihre Mutter kehrten schon im April 1945 nach Split zurück. Die Partisanen, jetzt „Jugoslawische Volksarmee“, brachten die Repatriierten mit Militärlastwägen nach Zagreb. Die Fahrt dauerte drei Tage, unterwegs gerieten die Rückkehrer in Scharmützel der Partisanen mit den abziehenden Deutschen. Nach der Ankunft in Split trafen Mira und ihre Mutter Regina den Vater und Ehemann wieder. Aber Regina, geborene Kohen erlebte als einzige von fünf Geschwistern das Ende des Holocaust; alle anderen – insgesamt siebzig Familienangehörige – waren ums Leben gekommen.
Zwei Kinder, am Wasser sitzend. Foto: OWI 1944–1945. HPM-MRNH-F-4406.
Im verdunkelten Zagreb angekommen, nächtigten sie bei der Verlobten des in Jasenovac ermordeten Bruders der Mutter, um dann eine Wohnung zu beziehen, aus der ein Ustascha geflohen war – wie 1941, als die Familie Altarac aus der Wohnung ausziehen und sie Ustaschi hinterlassen musste. Sie mussten diese Wohnung aber mit einer anderen Familie, der ebenfalls bosnisch-sefardischen Familie Montiljo teilen. Die Insassinnen dieser Wohnung schlossen alle, wie selbstverständlich, die obligate Schulbildung ab, studierten – Mira Anglistik und vergleichende Sprachwissenschaft–, traten in die Pionier- und Jugendorganisation ein, gingen zum Studium nach Deutschland und Grossbritannien, heirateten, bekamen Kinder und setzten ihr Leben fort – fast nahtlos, als habe sich zwischen 1941 und 1945 nichts ereignet. Richtig: „nahtlos“, ohne Beeinträchtigung, bestätigte Mira Altarac der Autorin.
Das Lager „El Shatt“ wurde zum Symbol für die Verbundenheit der Partisanen mit der Zivilbevölkerung. Die politische Bedeutung dieser Rettung sollte zu ihrer Zeit nicht nur den der Partisanen-Bewegung fernstehenden Menschen vor Augen geführt werden, sondern ein Zeichen für die Alliierten sein, dass die Partisanen für die Zivilbevölkerung Sorge trugen und Kämpfer und Zivilisten zusammenwuchsen. Die Architekten, die vom Generalstab der Partisanen mit der Planung der Anlage betraut worden waren, hatten eine städtische Anlage vor Augen, die die Bevölkerung auf ein urbanes Leben in Dalmatien vorbereiten sollte. Nach der Rückkehr aus dem Lager El Shatt sollte aus dem rückständigen, bäuerlich geprägten, aber landwirtschaftlich unergiebigen Festlanddalmatien eine urbane, wirtschaftlich erfolgreiche, industrialisierte Region werden.
El Shatt war gewissermassen ein Lehrbeispiel für zukünftige Stadtplaner. Die meisten Projekte für El Shatt bestanden nur auf dem Papier, denn es mangelte sowohl an Baumaterial als auch an Arbeitskräften sowie an der Finanzierung. Die irritierende Politik Titos und der siegestrunkenen Partisanen-Regierung 1945 liessen die Rettung der Zivilbevölkerung und andere menschenfreundliche Züge der Partisanen-Bewegung in den Hintergrund treten. Was an Erinnerungen an diese Zeit bleibt, sind die stalinistischen Ausschreitungen: die Schauprozesse wegen angeblicher Kollaboration der Angeklagten mit den Besatzern, bloss, weil sie überlebt hatten.
Auch die jüdischen Heimkehrer wurden von diesen absurden, brutalen Gerichtsverfahren und deren Folgen – Straflagern, Zwangsarbeit, Berufsverboten – nicht verschont.
Ein Mann beim Flicken eines Fischernetzes. Foto: OWI, El Shatt, 1944–1945. HPM-MRNH-F-4461.
Nachlese
Jasenka Kranjčević, arhitekti u zbijegu u Egiptu 1944-1946: KB 40, S. 211-224, Split 2014. https://hrcak.srce.hr/file/219773 (aufgenommen 13.10.2014 – abgerufen: 21.6.2023)
Marin Karabatić, Izbjeglički logor, El Shatt – Dalmatinski grad na Sinaju (Feljton o hrvatskom zbjegu na Sinaju) [Das Flüchtlingslager El Shatt – eine dalmatinische Stadt auf Sinai (Feuilleton über die kroatischen Flüchtlinge auf Sinai)], auf www. povijest.net, 26.7.2012.
Vladimir Velebit, Tajne i zamke Drugog Svjetskog rata [Geheimnisse und Fallen des Zweiten Weltkrieges]. Zagreb 2002.
Nataša Mataušić, Katalog der Ausstellung „El Shatt“ im Kroatischen Historischen Museum, Zagreb 2007/2008.
Anna Maria Grünfelder, Von der Shoa eingeholt. Ausländische jüdische Flüchtlinge im ehemaligen Jugoslawien 1933-1945. Wien, Köln, Weimar 2013, S. 174f.
Marica Karakaš Obradov, Prisilne migracije židovskog stanovništva na području Nezavisne Države Hrvatske [Erzwungene Migrationen der jüdischen Bevölkerung auf dem Territorium des Unabhängigen Staates Kroatien]. Zagreb 2013. (aufgenommen 2013 – abgerufen: 20.6.2023)
Mira Altarac, Hadji Ristić, El Shat, In: Jasminka Domaš (Hg.), Glasovi, sjećanja, život. Prilog za istraživanje povijesti židovskih obitelji. [Stimmen, Erinnerungen, Leben. Beitrag zur Erforschung der Geschichte jüdischer Familien] Zagreb 2015, S.109–118, 120.
Švob Melita, Sutra je novi dan. (J. Domaš), Glasovi, S. 29–51.
Bojana Denegri, Bildersuche. Auf den Spuren meines Vaters Rudolf Bunk. Hamburg 2006.
Teil I dieses Beitrags wurde in Heft 139, Chanukka 5784/Dezember 2023, S. 32-37 veröffentlicht; vgl. online: https://davidkultur.at/artikel/dalmatien-in-nordafrika-das-lager-el-shatt-am-sinai-19441946-fuer-fluechtlinge-aus-dalmatien-und-ganz-mitteleuropa-teil1.
Alle Abbildungen: Die Autorin dankt dem Kroatischen Historischen Museum (Hrvatski Povijesni muzej), Zagreb für die Bilder und das Copyright.