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Von der Ukraine nach Paris Olia und Iossip – Eine Lebensliebe Teil II

Günter Krenn

Olia ist mittlerweile siebenundzwanzig Jahre alt, Joseph, wie sich der frankophile Iossip nun nennt, fünfundzwanzig. Ihre Angehörigen in der Ukraine haben sie zurückgelassen, von vielen Verwandten werden sie nie wieder hören oder lesen. 

Inhalt

Sie wollen endlich ihre eigene Familie gründen, in Frankreich ein neues Leben beginnen. Um Geld zu verdienen, geht Joseph in seiner neuen Heimat wieder seiner Profession als Pianist nach, allerdings auch hier nicht mehr in Konzertsälen oder Konservatorien. Wie schon in anderen Städten auf ihrer Flucht sind es Restaurants, Bars und Nachtclubs in den Künstlervierteln Montparnasse und Montmartre, in denen er nun seine Fähigkeiten einsetzt. 

Mit seinen aristokratisch wirkenden Manieren und dem noblen Aussehen sticht Joseph Ginsburg deutlich aus der illustren Musikerschar heraus, die in Etablissements vor Kleinbürgern, Spielern, Kriminellen und Prostituierten ihrer Kunst nachgeht. In der französischen Sprache kann er sich bald fast ebenso gewählt ausdrücken, wie es in seiner Muttersprache seine Art war; Freunde und Kollegen beschreiben ihn als freundlichen, stets gutgekleideten Mann. 

Auch Olia, oder nun westlich: Olga, trägt zum Familieneinkommen bei, sie unterrichtet an einem Konservatorium im IX. Arrondissement. Die Ginsburgs haben sich an die französische Umgebung gut assimiliert. Nur untereinander sprechen die beiden Eheleute Ukrainisch, und die traditionelle Küche ihrer alten Heimat spielt bei der Ernährung nach wie vor eine wichtige Rolle. Ihr erster Sohn Marcel erliegt 1923 mit sechzehn Monaten einer schweren Bronchitis. Am 1. Mai 1926 wird ihre Tochter Jacqueline geboren, 23 Monate später, am 2. April 1928, kommen in der Maternité de l‘Hôtel-Dieu, dem ältesten Pariser Hospital auf der Île de la Cité, unweit der Kathedrale von Notre Dame, Zwillinge zur Welt. Zuerst ein weiteres ­Mädchen, wie es sich Joseph wünscht, sie werden es Liliane nennen. Ein wenig später folgt ihr der von Olga ersehnte
Knabe, Lucien, den sie als Kind mit dem Kosenamen Lulu rufen.

Am 1. September 1939 sind die Ginsburgs in Dinard in der Bretagne, weil Joseph dort Arbeit hat. Dass die deutsche Wehrmacht an jenem Tag Polen überfällt, erfahren sie aus Rundfunk und Zeitung. Joseph wird kurzzeitig in die Armee einberufen, darf jedoch bereits Ende Oktober zurück zu seiner Familie, die immer noch in Dinard ist, wo die Kinder auch zur Schule gehen und den Aufenthalt dort wie einen verlängerten Urlaub empfinden. Den latenten Antisemitismus haben die Ginsburgs in ihrer neuen Heimat zwar bereits in den 1930er Jahren durchaus registriert, jedoch bis dahin nicht als bedrohlich empfunden. Das ändert sich nun, als sie die ersten Aufschriften, zunächst anonym an Fensterscheiben und Hausmauern geschmiert, dann als offizielle Verordnung auf Plakaten vorfinden, die immer mehr öffentlichen Raum als „für Juden verboten“ erklären. Joseph erlebt in seiner Branche, dass viele jüdische Musikerinnen und Musiker plötzlich entlassen werden. Zu ihnen gehört bald auch er. Er hofft auf einen vorübergehenden Zustand, bis sich die Lage beruhigt. Dass es noch schlimmer würde, kann und will er, wie viele andere, noch nicht glauben. 

Ab dem 7. Juni 1942 muss die Familie ein neues Accessoire an ihrer Kleidung tragen. Handflächengross, gezackt, gelb mit schwarzem Rand, ist ein Stern mit der Aufschrift „Juif“ (Jude) gut sichtbar an der linken Brustseite ihrer Kleidung anzubringen. Zu helfen wissen sich die Ginsburgs auch in diesen Zeiten. Jacqueline erinnert sich, dass ihre Mutter die Sterne so auf ihre Mäntel näht, dass man sie bei Bedarf leicht abnehmen kann und Olga wagt es manchmal sogar, ohne das auffällige gelbe Abzeichen an der Kleidung aufs Land zu reisen, um Nahrungsmittel zu hamstern, die dort leichter zu bekommen sind. 

Doch die Dinge beginnen, sich weiter zu verschlechtern. Joseph findet 1943 in Paris keine Arbeit mehr, die mageren Ersparnisse gehen zu Ende, Deportationen in Konzentrationslager sind bereits im Gange. Es scheint nur einen Ausweg zu geben: Die Familie müsste versuchen, aus Paris in die unbesetzte, allerdings nur euphemistisch so genannte „Freie“ Zone in den Süden Frankreichs zu flüchten. 

Auch unter dem dortigen Vichy-Regime gelten zwar die antisemitischen Gesetze, sind Juden Diskriminierungen ausgesetzt, doch die Hoffnung, den Krieg überleben zu können, erscheint ihnen an jenem Ort realistischer. 

Mit gefälschten Dokumenten werden die Ginsburgs im Süden kurzzeitig verhaftet, können entfliehen, worauf ihnen eine Familie auf deren Bauernhof Schutz bietet. Ihre Freude über die Nachricht, dass die alliierten Streitkräfte am 6. Juni 1944 in der Normandie gelandet sind, währt nicht lange, denn die Deutschen setzen umgehend Strafaktionen in Kraft. Eine SS-Brigade massakriert die Bevölkerung von Oradour-sur-Glane, das nur zwanzig Kilometer vom Aufenthalt der Familie entfernt liegt. 

Gegen Olga und Joseph Ginsburg läuft ein Haftbefehl, dem sie sich erneut durch Flucht entziehen können. Ende August 1944 hören sie Nachrichten über die Befreiung von Paris. Die Familie Ginsburg hat den Krieg überlebt – Olgas Bruder Michail jedoch wurde nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. 

Josephs und Olgas gemeinsames Leben dauert bis ins Jahr 1971. Der letzte Urlaub wird zu einer Art zweiter Flitterwochen verklärt; Joseph beteuert, sehr glücklich zu sein, fühlt sich aber zu müde, um abends noch in ein Restaurant zu gehen. Als sich sein Zustand verschlechtert, läuft Olga zu ihren Hausvermietern und findet Joseph bei ihrer Rückkehr in einer Blutlache liegend. Er ist bei Bewusstsein, als sie seinen Kopf in ihren Schoss bettet, fragt er sie noch nach dem Arzt. Nach ihrer Antwort schweigt er nur mehr. Todesangst überkommt sie, sie ohrfeigt ihn, ruft verzweifelt: „So kannst du nicht gehen! Sag etwas.“ Doch er, der ein Leben lang mit ihr gesprochen hat, auf Ukrainisch und Französisch, ist nun in keiner Sprache mehr dazu in der Lage. Seinen für sie geprägten Kosenamen „Olioucitchka“ wird sie von ihm nie wieder hören. Als der Arzt kommt, kann er nur mehr Josephs Tod feststellen.

Olga folgt ihm vierzehn Jahre später. Ihre Tochter Jacqueline findet sie nachts bewusstlos in einem Sessel sitzend, mit Tabletten und einer Flasche Whisky auf den Knien. Obwohl sie bettlägerig war, hatte sie in einem erstaunlichen letzten Willensakt zuvor noch ihr Bett gemacht und sich modisch angezogen, als ob sie sich reisefertig machen wollte. Das Bewusstsein verlor sie wegen einer Thrombose, sie wird noch ins Krankenhaus gebracht, ins Leben zurückholen kann man sie dort nicht mehr. Nun ist auch ihre Reise, die vor langer Zeit und tausende Kilometer entfernt in der Ukraine begann, zu Ende. Wie ihre Kinder berichten, bewahrten sich die Eltern zeitlebens ihre Zärtlichkeit füreinander. Bis ins hohe Alter hielten sie einander beim Spazierengehen an der Hand.

Olia und Jossip Ginsburg ruhen seit 1985 wiedervereint am Pariser Friedhof Montparnasse und werden dort zunächst nur von Familienmitgliedern besucht. 

Das ändert sich, als ihnen 1991, nur sechs Jahre später, ihr Sohn Lucien in das Familiengrab folgt. Seit damals besuchen Fans aus Frankreich und Teilen der Welt die Grabstätte, deponieren dort Zigarettenpäckchen, Feuerzeuge, Alkohol, Kuscheltiere, Blumen, Zeichnungen, Botschaften anderer Art. Lucien Ginsburg wurde ein gefeierter Chansonier, allerdings unter dem Künstlernamen Serge Gainsbourg

Kehren wir am Ende dieser lebenslangen Liebesgeschichte zu Marc Chagall zurück, mit dem Gedanken: Erst wenn sich ein Liebespaar vor seinen Bildern umfängt, scheint seine Komposition vollendet.

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Grab von Olia und Iossip Ginsburg sowie ihrem Sohn, Serge Gainsbourg, Cimetière Montparnasse, Paris. Foto: Smerus, 2006. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://en.wikipedia.org/wiki/Image:Gainsbourggrave.jpg?uselang=fr

 

Hinweis: Die ganze Geschichte von Olia und Jossip findet sich in dem Buch „Serge & Jane. Biographie einer Leidenschaft“ von Günter Krenn, das 2021 im Berliner Aufbau-Verlag erschienen ist.

 

Von der Ukraine nach Paris: Olia und Iossip – Eine Lebensliebe, Teil I ist in DAVID, Heft 139, Chanukka 5784/Dezember 2023, S. 70f erschienen; https://davidkultur.at/artikel/von-der-ukraine-nach-paris-olia-und-iossip-eine-lebensliebe-teil-i