Michael Bittner
Marion Tauschwitz: Selma Merbaum. Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben.
Biografie und Gedichte. Mit einem Vorwort von Iris Berben.
Springe: Zu Klampen Verlag 2014 (Neuauflage 2023).
Broschiert, 358 Seiten, Euro 28,00.-
ISBN 968-3-98737-003-8
Ich liebe dünne Bücher. Sie lassen sich gut einstecken, verkürzen die Wartezeit beim Arzt, sind angenehmer Zeitvertreib bei U-Bahnfahrten, ein Unfallrisiko bei Autofahrten.Und sie flössen Zuversicht ein, dass man das Buch sicher schnell schaffen wird und nicht monatelang herumliegen hat, bis man es gegerbt ins Bücherregal stellt.
Im Fall von Selma Merbaum hat das dünne Büchlein aber etwas sehr Trauriges an sich. Die Dichterin wurde noch als junges Mädchen umgebracht, deshalb hatte sie nicht viel schreiben können. Es würden etwa 75 Seiten reichen, ihr Gesamtwerk abzudrucken.
Rentiert es sich also, ein Buch über die „Anne Frank der Lyrik“ mit 360 Seiten zu lesen? – Ja, es zahlt sich aus! Zwar mache ich mir gerne meine eigenen Gedanken, doch die Autorin breitet die Lebensumstände und das historisch-politische Umfeld so anschaulich aus, dass die Gedichte wertvoller und sinnfälliger erscheinen. Der Einbau von Gedichtzeilen im Biografie-Abschnitt ermöglicht das Hin- und Herlesen zwischen den biografischen Kapiteln und der Edition der Gedichte, ein schönes Lesevergnügen (ein gebundenes Buch mit Seidenfaden wäre hierzu perfekt gewesen).
Selma stammte aus Czernowitz, der Kulturmetropole der Bukowina, die so viele bedeutende Künstler hervorgebracht hat. Die Dichtkunst lag ihr im Blut – sie war eine Cousine des grossen Paul Celan und begann 1939 noch als Schülerin mit dem Schreiben von Lyrik. Ihre Vorbilder waren Heinrich Heine, Rainer Maria Rilke, Rabindranath Tagore, Klabund und Paul Verlaine. Merbaum übersetzte auch Gedichte aus dem Französischen, Rumänischen und Jiddischen.
Immer wieder "blaut" es und man denkt dann an den ebenfalls früh vollendeten Georg Trakl. Ihre Lyrik wirkt sehr erwachsen – nichts Kindliches, Naives, für die Gartenlaube Geeignetes findet sich hier, sondern dunkle Ahnung mit wenig Hoffnung spricht aus ihren Texten; dann leuchtet wieder Lebensfreude auf. Blütenlese betitelte Merbaum jenes Album, das sie ihrem Geliebten zueignete (ob sie wohl an das Lied Margaritkelech gedacht hat?). Dann kamen die Vertreibung, das Lager, der Tod, „ein Meister aus Deutschland“. Merbaum wurde nur achtzehn Jahre alt und dennoch hinterliess sie ein Werk, das Bestand hat. Von wem sonst könnte man das behaupten?
So reiht sich die früh vollendete Selma in den Reigen grosser jüdischer Dichtkunst, von Heine über Erich Mühsam, Rose Ausländer, Claude Vigée, Paul Celan bis Erich Fried. – Das Buch von Marion Tauschwitz ist ein wertvoller, verlässlicher Wegbegleiter auf der Reise in die unheilvolle Welt von gestern.