Ausgabe

Giorno della Memoria, 21 gennaio 2024 Tag der Erinnerung, 21. Jänner 2024

Dario Calimani

Es ist schwierig, gerade HEUTE über die Erinnerung an die Shoah zu sprechen.

Inhalt

Der Tag der Erinnerung wurde vom Parlament mit der Absicht ins Leben gerufen, zum Nachdenken über die Folgen des Vorurteils und des Hasses anzuregen, wenigstens einmal im Jahr. Versuchen wir es, auch wenn wir wissen, dass es keine absoluten Wahrheiten gibt. Die Wahrheit ist nichts als die Gesamtheit von Ansichten. Wenn man diesen Grundsatz nicht akzeptiert, gerät man in die Diktatur des Denkens, und nicht nur in diese.

 

Die Shoah ist eine Last auf dem Gewissen des Abendlandes, und es stimmt, dass es nichts Schöneres für das Abendland gibt, als sich von dieser moralischen Bürde zu befreien, indem man die Rollen der Opfer und der Täter vertauscht. Die Juden zu Tätern zu machen ist der Schuld tilgende Traum der Antisemiten und des Antisemitismus.

 

Wir sind keineswegs in Versuchung, uns zu verstecken. Das Schweigen, dessen uns manche beschuldigen wollen, ist nicht das Schweigen aus Feigheit, aus Scham oder aus Gleichgültigkeit, es ist das Schweigen des Schmerzes, der Verzweiflung und der Machtlosigkeit.

 

Wer anmassende Petitionen und Unterschriftensammlungen vorschlägt und Fahnenschwingen für den Frieden, steigt in Wahrheit in die Schützengräben des Perpetuierens von Gegensätzen. Wenn man der Sache des Friedens dienen will, kämpft man für die Begegnung und für den Dialog der Streitparteien und ihrer Unterstützer, kämpft man um das Aufheben der Distanzen, kämpft man um das Tilgen der Vorurteile und das Bekämpfen von irreführenden Mythen, die den Hass perpetuieren.

 

Das, was gerade in Israel und Gaza passiert, ist die schreckliche Folge einer Situation, die zu ändern niemand in achtzig Jahren das Interesse hatte. Isaac Deutscher sagte, das israelisch-palästinensische Drama ähnle einer Tragödie von jemandem, der sich aus dem Fenster wirft, um sich vor dem Brand in seinem Haus zu retten, und auf einen Passanten stürzt. Also erinnern wir uns noch einmal: Israel ist zu einem guten Teil Produkt der Flucht von Juden aus einem Europa, das sie ausgerottet hat oder hat ausrotten lassen. Dass der Konflikt im Nahen Osten neuen Antisemitismus geschaffen und vervielfältigt hat, ist für das jüdische Volk das dramatischste und erschreckendste Paradoxon, das man sich in unserer Zeit vorstellen kann.

 

Ein für allemal: wir glauben nicht, dass es Antisemitismus ist, die Politik einer Regierung zu kritisieren und die Folgen der Bombardierungen anzuprangern. Und wir glauben nicht, dass es Antisemitismus ist, Machtmissbrauch und Gewalttaten zu verurteilen. Der Tod Unschuldiger, welcher Zugehörigkeit auch immer, ist ein Leid, welches die Gewissen einen müsste, ohne Unterschied und ohne Schmälerungen. Aber so offensichtlich ist das nicht. Es gibt ein Mitleid, das sich aus anderen Quellen speist.

 

Israel, unbegreiflicherweise aber auch alle Juden, finden sich schlagartig isoliert vor, man zeigt mit dem Finger auf sie. Manche wichtige Veranstaltung, verbunden mit dem Tag der Erinnerung, wurde abgesagt, weil, wie man uns sagte, „es vielleicht nicht der richtige Moment sei“.

Israel bombardiert Gaza, um jene Terroristen aufzustöbern, die am 7. Oktober 2023 mitleidlos 1.400 Zivilisten vergewaltigt, gefoltert und massakriert haben. Gräueltaten! Palästinensische Zivilisten müssen dafür bezahlen, anstelle der Terroristen der Hamas und ihren ununterscheidbaren Mitläufern. Aber kein einziger zivilisierter und demokratischer Staat würde darauf verzichten, ein für alle Mal einen Terrorismus niederzuwerfen, der 1.400 Zivilisten beim Tanzen auf einem Fest massakriert und 5.000 Raketen an einem Tag auf sein Territorium abschiesst.

 

Dennoch scheint es, als gäbe es die Weigerung, den Unterschied zwischen einer Militäraktion und einem geplanten Anschlag auf Zivilisten zu erkennen; derart wird aus dem Anti- Israelianismus plötzlich Antisemitismus. Auf das Massaker an Zivilisten senkt sich eine dunkle Wolke aus Schweigen. In jeder Solidaritätserklärung für das palästinensische Volk wird das Gemetzel des 7. Oktobers 2023 zu einer beiläufigen, raschen Einleitung, die gleich nach dem Beistrich zu vergessen ist. Heftig angeprangert wird die erschreckende Vergeltung, die darauffolgte. Für das Pogrom vom 7. Oktober 2023 und für die 240 als Geiseln genommenen Zivilisten erklingt nicht die geringste Empörung, kein Aufschrei menschlicher Wut, keine Unterschriftenaktion.

 

Man fordert Israel auf, sich zu rechtfertigen. Die Anerkennung der Verantwortung und des Leids ist eine Einbahnstrasse. Als wäre die ganze Schuld auf einer Seite und das Leid ganz auf der anderen. Eine Vereinfachung, die den uralten Hass nährt und daraus neuen gebiert. Als wäre die Hamas nicht jene kriminelle Bewegung, die Spitäler, Schulen und Kinder als Schutzschild benützt und die, vor allem, das palästinensische Volk selbst als Geisel nimmt.

 

Die internationale Gemeinschaft legt mit unvergleichlichem Zynismus das Augenmerk auf die Reaktion, die die Vernichtung provoziert hat. Mitleid in der Einbahnstrasse. Zweierlei Mass für den Skandal und das Leid. Ein Zynismus, der seine eigene Geschichte vergisst. Denn wir sind das Abendland der Shoah (6000000 Tote, einer mehr oder weniger), von Hiroshima und Nagasaki (250.000 Tote), von Dresden (35.000 Tote in einer Nacht), von Bosnien (100.000 Tote); wir sind das vergessliche Abendland, das mitgeholfen hat bei der Vernichtung von zwei Millionen Menschen in Kambodscha, von einer Million in Ruanda, von 600.000 in Syrien, von 50.000 in Afghanistan, und 30.000 in Mariupol, und 600.000 in Tigray  in Äthiopien. Vielleicht haben wir nicht aufgepasst, aber wir haben weder derart viele Unterschriftenaktionen gesehen, noch Demonstrationen und wehende Fahnen und Aufrufe zum Frieden.

 

Aber beim Erklingen des Wortes „Israel“ erwachen die Emotionen zu neuem Leben: eine ideologische Fehlsichtigkeit der Politik und der Intelligenzija. Welche Dynamik aktiviert die Gewissen, wenn es sich um Israel handelt? Welchen Mythos der Vollkommenheit muss Israel repräsentieren, in den Augen von uns allen, damit es sein Überleben selbst aufs Spiel setzt, entsprechend den Absichten der Statuten der Hamas? Erwartet man vielleicht ein Israel, das sich g’ttergeben auf den Weg macht nach einem neuen Auschwitz? Gibt es vielleicht für Israel die gleiche Bereitwilligkeit zu Solidarität erst nach seiner Zerstörung, wie es geschehen ist für die Juden der Shoah?

      

Antisemitismus bedeutet nicht, eine Regierung zu kritisieren, sondern das Existenzrecht eines Volks und einer Demokratie in Abrede zu stellen. Jenes Volks und jener Demokratie. Und die ideologische Fehlsichtigkeit ist die Nicht-Anerkennung des Existenzrechts beider Völker, ohne dass das eine oder das andere von Ausrottung bedroht ist. Aber es gibt welche, in dieser Tragödie, deren Teil sie sind, die es sich zur Aufgabe machen, die Distanzen zu vergrössern und neuerlichen Hass zu schüren, auch im Zeichen des Hakenkreuzes.

 

 

Was ist das Motiv, das die islamische Bevölkerung in Frankreich dazu bringt, die französischen Juden zu bedrohen und anzugreifen, die sich wieder einmal auf der Flucht aus dem Land befinden? Was ist das Motiv, das die jüdischen Stundenten dazu veranlasst, den Campus der wichtigeren amerikanischen Universitäten zu verlassen, wo Studenten und Dozenten gerade Juden brandmarken und Rektoren nicht in der Lage sind, den Weg zu einem ausgeglichenen kritischen Bewusstsein zu weisen? Was ist das Motiv, das Südafrika und Chile dazu bringt, Israel des Völkermords anzuklagen? So als hätten diese Länder nicht mehr als genügend Motive, die eigene Geschichte zu überdenken. Und welche Bedeutung hat es, dass die Regierung von Südafrika enge Beziehungen zum Iran und der Hamas unterhält? Und wie kommt es, dass die gigantische Schuld, die auf dem African National Congress lastet, auf einmal verschwindet, kaum, dass Südafrika Israel des Völkermords anklagt? Sind das vielleicht unzulässige Fragen? Denn das Wort Völkermord wiegt schwer, ist es doch bisher für die Shoah und für die nicht anerkannte Ausrottung von eineinhalb Millionen Armeniern verwendet worden, und für Kambodscha und für Ruanda. Völkermord ist der Wille, ein ganzes Volk zu zerstören. Die provokative Verwendung des Begriffs banalisiert die Realität. Die Deformation der Sprache ist die Deformation des Denkens. Und die Deformation des Denkens ist unredliche Deformation des Bewusstseins, die die eigentliche Dimension der Ereignisse verzerrt.

 

Man redet oft, in der abwegigen Mythologie des Antisemitismus, von einer „jüdischen Lobby“. Der Begriff wurde von Russland verwendet, um die Pogrome anzufeuern, und dann von den Nazis, um die Maschine Auschwitz in Gang zu halten. Wir wissen aber sehr wohl, welche politischen Lobbys die Tunnel und die Bewaffnung des Terrorismus finanzieren. Und auch nur mit ein wenig intellektueller Ehrlichkeit könnten wir uns auch fragen, welche Finanzierungen seit Jahren in den amerikanischen Universitäten (und in England und in Australien) die meinungsbildenden Bewegungen unterstützen, die in diesen Tagen neuen antisemitischen Hass erzeugen. Der Antisemitismus hat heute die Gelegenheit, sich stark zu machen.

 

Die Juden, auch jene in Israel, leben mit dem Gespenst der Shoah in der Seele, und dieses Gespenst wurde aufgeweckt wie ein monströser Dämon durch das Massaker an Zivilisten am 7. Oktober 2023. Das jedoch entgeht der öffentlichen Meinung. Man spielt lieber mit jenem anderen grässlichen Dämon, dem Antisemitismus. Man zieht es vor, die Politik der israelischen Regierung – einer durchaus fragwürdigen und kritisierbaren – der gesamten israelischen Bevölkerung und die Entscheidungen einer Regierung dem ganzen, auf der Welt verstreuten jüdischen Volk zur Last zu legen. Der Kurzschluss ist perfekt: der Antisemitismus, derart gerechtfertigt, ist endlich ohne Scham. Der Samen des Hasses ist wieder aufgegangen. So kann man das absolute Verbrechen der Shoah mit dem, was dieser Tage im Nahen Osten passiert, kompensieren.

 

Heute nur von der Erinnerung an die Shoah zu sprechen, erscheint unehrlich, und wir sagen das in dem Wissen, damit die Erinnerung an unsere ermordeten Lieben zu verraten. Aber manche sagen, die Toten der Shoah würden heute instrumentalisiert, seien also schuldig, ermordet worden zu sein, damit man ihren Tod zu politischen Zwecken achtzig Jahre danach verwenden kann. Das ist der Antisemitismus, das ist die Verfälschung der Geschichte und die Fehlsichtigkeit der Ideologie und all jener, die sich als blosse Fahnenträger betätigen. Das ist die absichtliche Blindheit des ideologischen Vorurteils und der verformten rhetorischen Strategien.

Gespräche, Händeschütteln, Kränze auf Denkmälern, Erinnerungstafeln, Stolpersteine genügen nicht mehr. Wir sind nicht auf Mitleid aus. Wir rechnen auf ein Zusammenzucken des Gewissens, damit die Reaktion auf die Ereignisse sich richtig positioniert, mit ein wenig Ehrlichkeit im Zusammenhang der ganzen Geschichte mit all ihren Verbrechen, all ihren Ungerechtigkeiten und ihren Leiden, mit all ihren Ursachen und all ihren Wirkungen. Was nottut, ist, uns zu befreien von einer jahrhundertealten Kultur, gemacht aus Vorurteilen und atavistischem Hass, politischen Interessen und ideologischen Gegenpositionen, einer Kultur, die Archetypen der Andersartigkeit, Fremdheit, Feindschaft konstruiert hat, einer

Kultur der Versklavung und der Ausrottung. Und das ist die gleiche Kultur, die heute ihre machtlose Stimme erhebt, um das Schweigen der Waffen zu erflehen.

 

Wir wünschen uns aus tiefstem Herzen, dass man rasch zu einem gerechten Frieden für alle gelangen möge, zu einem Klima des Zusammenlebens, das die Kategorien des Unrechts und des Rechts im Auge behält, vielleicht sogar, auch wenn es mühsam ist, mit dem kleinen Beitrag von uns allen.    

 

(Aus dem Italienischen übersetzt von Hans Raimund)