7. Oktober 2023: An diesem dritten und letzten Wallfahrtsfest des jüdischen Jahres feierten wir – in der Diaspora – wie jedes Jahr den vorletzten Tag des Laubhüttenfestes, genannt: „Shmini Azeret, achter Tag“.
Eigentlich ist es ein gemütlicher Feiertag, an dem wir üblicherweise mit der ganzen Verwandtschaft die Synagoge besuchen. Die Tradition will es, dass die Hinterbliebenen an diesem „Yom Tov, guten Tag“, individuelle Gebete für Vater, Mutter und andere Verwandte rezitieren. Anschliessend gedenken wir vereint der Shoah-Opfer.*
Als wir diesmal im Begriff waren, unsere Wohnung zu verlassen, klingelte das Telefon. Zwei, drei Mal. Besorgt nahm ich den Hörer ab. Am anderen Draht meldete sich eine geschwächte Stimme. Es war die anhängliche Sarah, sie machte sich über die apokalyptische Lage in Israel grosse Sorgen. Wohl infolge ihres fortgeschrittenen Alters, so dachten wir, steigerte sie sich:
„Was ist am azurblauen Himmel schon wieder los? G’tt bewahre uns! Die lebenszerstörenden Raketen, die im Herzen Israels tagtäglich niedergehen, sie machen mich so nervös! Wann wird die Gesetzlosigkeit im Gazastreifen endlich aufhören?“
Wir schüttelten die Köpfe. Sprach Sarah tatsächlich von Pogromen? Aufgebracht, wie sie war, konnten wir sie nicht beschwichtigen, unentwegt redete sie weiter:
„Entlang der israelischen Grenze zum Gazastreifen passieren schreckliche Dinge. Diese Angriffe, von denen ich nichts verstehe, sind beängstigend, verstörend. Wie hat das denn überhaupt geschehen können, in einem Land, wo jeder – für den Fall der Fälle – eine Waffe trägt?“
„Sarah, die Verbindung ist so schlecht, man hört Dich kaum. Wir sind im Weggehen, um die Synagoge aufzusuchen. Heute wird das Jiskor-Gedenkgebet an die verstorbenen Angehörigen rezitiert, wir möchten es um nichts in der Welt versäumen. Deinen Zettel, auf den Du die Namen Deiner in der Shoah umgekommenen Eltern geschrieben hast, haben wir mit und werden ihn, wie jedes Jahr, dem Vorbeter übergeben. Mehr können wir im Moment nicht tun.“
7. Oktober 2023 – Anflug von Gleitschirmen aus Gaza
Der Weg zur Synagoge war wie leergefegt. Wir fragten uns, ob die sonst um diese Zeit anzutreffenden G‘ttesdienstbesucher nicht alle zu Hause geblieben waren und sich über die Ereignisse in Israel auf dem Laufenden hielten. Dieses Mal schien Sarah recht zu behalten: Israel befand sich an der Schwelle zu einem fünften Krieg im Gaza-Israel-Konflikt. Die radikalislamische Terrororganisation Hamas im palästinensischen Autonomiegebiet, dem Gazastreifen, hatte ihren ausgeklügelten Angriff auf Israel in die Tat umgesetzt. Das dadurch ausgelöste Chaos in Israel war unbeschreiblich. Voreilige Militär-Experten sprachen in den Medien noch von asymmetrischer Kriegsführung – welch eine Beschönigung –, tatsächlich waren die Terror-Aktionen hinterlistig, mitleidlos. Unglaublich: weder die Regierung noch das israelische Militär hatten sich diese ungezügelte Gewalt vorstellen können. Die Terroristen hatten mit selbstgebastelten, motorisierten Gleitschirmen die Sperranlagen überflogen und waren ungestört bis in verschiedene Grenz-Kibbuzim hinein vorgedrungen. Schlimmer hätte es nicht kommen können: alles, was den schwerbewaffneten Terroristen in den Weg kam, metzelten sie nieder, wie bei einem Pogrom. Die Zahl der Ermordeten – darunter viele Kinder und Säuglinge – wie auch der Geiseln, die anschliessend in die unterirdischen Anlagen von Gaza verschleppten wurden, war entsprechend hoch.
Aufgeschreckt von den Ereignissen, kamen in Sarah ihre Shoah-Erinnerungen wieder hoch. Elfjährig hatte sie miterleben müssen, wie ihre Eltern von den Nazis verschleppt wurden. Etwa zur gleichen Zeit waren Kinder, auf Initiative der Deutschen Reichsregierung, in die Schweiz geschickt worden. Mehr als fünfzig Kinder verblieben sechseinhalb Jahre lang im Kinderheim Wartheim/Heiden. Erst am Ende des Zweiten Weltkrieges teilte ihnen das Rote Kreuz mit, dass ihre Eltern alle in Auschwitz vergast worden waren. Ihre Wohnungen waren aufgelöst worden. Eine Rückkehr wurde den Kindern verwehrt.
Gezeichnet von ihrer eigenen Familiengeschichte, konnte Sarah sich nicht vorstellen, dass die von Gaza herüberkommenden Terroristen einen elektronisch abgesicherten Grenzzaun zu Israel durchlöchern und bis zum Musikfestival „Nova“ mit Leichtigkeit hatten eindringen können, wo die Hamas mit ihren Gehilfen hunderte ihnen hilflos ausgesetzte Jugendliche erschoss. Der Aderlass war enorm. Die Fundamente Israels sind seitdem – allseitig – erschüttert. Ein landesweites Trauma hat sich breit gemacht.
* Von Israel ausgehend ist der hebräische Begriff Shoah, was schlechthin „Untergang“, „grosse Katastrophe“ bedeutet, die gebräuchliche Bezeichnung geworden, wenn von der Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen während des Nationalsozialismus gesprochen wird.