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Der Friedhof, den es gar nicht gibt

Michael Bittner

Vor der leidigen Pandemie erfuhr ich in einem Gespräch, dass es in Sopron (Ödenburg) einen jüdischen Friedhof gäbe. Dies leuchtet ein, hatte ich doch mit der Pariser Journalistin Renée David s.A. die mittelalterlichen Synagogen besichtigt. 

Ebenso erhalten ist die schöne Synagoge aus dem 19. Jahrhundert: also gab es hier jüdische Menschen, und sie müssen irgendwo geblieben sein.

Inhalt

Sopron ist eine interessante Stadt, doch Joseph Roth, dem Sonderberichterstatter für Westungarn, gefiel sie gar nicht. Er schrieb: 

Ich würde ein grosses Tor errichten als Eingangspforte und mit riesigen, weithin sichtbaren Lettern darüber schreiben: Nomen est omen! Denn nie sah ich eine Stadt, zu der der Name besser passte…“1 

 

Ödenburg liegt ja gleich an der Grenze, also fuhr ich dorthin und stellte mich bei der Touristeninformation an. Die Dame lächelte, als sie mich sah, doch schnell verfinsterte sich ihre Miene: „Was, bei uns ein jüdischer Friedhof, nein!“ Mein Einwand, dass er auf dem digitalen Stadtplan zu sehen sei, wurde mit der Präpotenz der Ortskundigen abgetan. Also kehrte ich nach Wien zurück, der Misserfolg schmerzte mich, und ich beschloss, den Besuch besser vorzubereiten. Doch siehe da – auf Wikipedias „Liste der jüdischen Friedhöfe in Ungarn“2 fehlt der Ödenburger ebenso. Es gibt den Friedhof also nicht?3 Doch – Google sagt, in der Okai utca 24 befindet sich der Izraelita temetö, auf dem Satellitenbild4 sieht man eine weitläufige Anlage. Die Email-Adresse der Kehille findet man praktischerweise auf Facebook.

Sopron war vermutlich die älteste jüdische Gemeinde Ungarns, schon seit dem 10. Jahrhundert ist sie nachweisbar. 1526, nach dem Tod König Ludwigs II. bei Mohács wurde die jüdische Bevölkerung vertrieben und floh nach Eisenstadt, Mattersburg und Kobersdorf.5 Erst 1740 durften einige Juden zurückkehren, 37 waren es 1830, neununddreissig Jahre später schon 854 und 2.400 im Jahr 1900, etwa sieben Prozent der Stadtbevölkerung.6 Die Katastrophe kam 1944 – fast 1.900 Menschen wurden nach Auschwitz deportiert, nur wenige kamen zurück. Heute gibt es etwa 50 Mitglieder der Kultusgemeinde.7

Am 16. April 2023 war es dann so weit – das Tor zum Friedhof öffnete sich und es zeigte sich ein wunderbar restauriertes und gepflegtes „Haus des Lebens“. Gleich beim Eingang befindet sich die ehemalige Aufbahrungshalle, die teils als Mahnmal für die Opfer des Holocaust dient, teils als Wohnung für das Ehepaar, das den Friedhof pflegt. 

Der erste Eindruck – hier gibt es Platz für die kommenden Generationen! Linker Hand etwa 300 Grabsteine, vor allem aus dem 19. Jahrhundert, von orthodoxen Juden (siehe Abbildung 1), rechts, getrennt durch ein paar tausend leere Quadratmeter, die mindestens 1.000 Gräber der Neologen-Gemeinde (Abbildung 2)8, die seit der Eröffnung des Friedhofs 1869 bis heute angelegt wurden. Es sind also gleich zwei Friedhöfe in einem, von zwei Gemeinden, die sich bekämpften: sogar eine Mauer trennte die Begräbnisstätten von einander. Vom Neologen-Friedhof gibt es Aufzeichnungen über die Lebensdaten der Verstorbenen und eine Dokumentation, für die Orthodoxen sind keine mehr vorhanden. Die orthodoxe Gemeinde wurde 1872 gegründet, ihr Rabbi war Menachem Grünwald (1872–1930).9

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Orthdoxer Friedhof.

Im restaurierten Neologen-Teil gibt es im Gegensatz zu anderen jüdischen Friedhöfen keine ersichtliche Ordnung, alt und neu, Kohanim und andere, Aschkenasim und (wenige) sefardische Gräber durcheinander (Abbildung 3). Separiert sind jedoch die Kinder, etwas abseits gelegen sehen ihre Cluster wie Stein gewordene Spielplätze aus (Abbildung 4). Im orthodoxen Teil die üblichen Gräber an den Rändern (für Randgruppen) sowie ein Massengrab für jüdische Zwangsarbeiter, die 1945 auf einem Todesmarsch umkamen sowie ein Grabhäuschen für Rabbi Grünwald. Das letzte Begräbnis fand hier 1992 statt, in der Abteilung der Neologen im März 2023.

Auf den grossen freien Platz angesprochen, erzählte mir Katalin Kerschbaum, die Vizepräsidentin der Neologen-Gemeinde, dass während des Krieges Bomben den Friedhof verwüstet hätten und der Mittelteil verloren gegangen sei, etwa 300 Gräber.  Die meisten älteren Grabsteine mussten zusammengesetzt und restauriert werden, sie waren umgestürzt und zerbrochen. Mit einem Aufwand von 10 Millionen Forint gelang es, innerhalb weniger Monate den Friedhof in einen sehr schönen, gepflegten Zustand zu bringen – eine hervorragende Leistung. Das Ehepaar Magdolna und Laci pflegt das Gelände vorbildlich und gibt Auskünfte, die zwar nur auf Ungarisch sind, doch mit Händen und Füssen verständlich werden.  Es ist ein wahres „Haus des Lebens“ geworden, ein Glücksfall für die jüdische Kultur Ungarns.

Einzigartig ist die Vielfalt der Grabmonumente, wenn man bedenkt, dass der Friedhof erst ab 1869 belegt wurde und ab 1956 dann kaum mehr. Von traditionellen Gesetzestafeln über alle Stile des 19. Jahrhunderts bis zu Jugendstil und Moderne ist alles vertreten, viele künstlerische Motive von der mystischen Rose bis zum Davidstern, mannigfache Formen wie ein verkleinerter Nachbau des Abschalom-Grabes in Jerusalem 10 (Abbildung 5 links) bis zu prächtigen Kenotaphen (Abbildung 5 rechts), die dem Grabmonument von Joachim Ephrussi auf dem Währinger Friedhof sehr ähneln.11 Zeittypische Obelisken fehlen ebenso wenig wie abgebrochene Säulen, Monumente aus verschiedenstem Steinmaterial und Familiengräber, die das strenge Reihensystem durchbrechen. Die Beschriftungen sind durchgängig Hebräisch, erst im späteren 19. Jahrhundert Deutsch. 1920 ändert sich schlagartig die Sprache: Ab jetzt sind ungarische Inschriften der Standard. Viele Namen sind noch lesbar, nur die älteren Sandsteine sind meist abgewittert. Die Namen klingen vertraut – Hacker, Kraus, Steiner, Nussbaum, Rosenfeld, Mahler, Löwy. Roth habe ich gesucht (wegen dem Witz mit Grün und Blau)12, aber nicht gefunden.

 

Das Wichtigste ist, dass die Begräbnisstätten erhalten bleiben und – vor allem für die Verstorbenen – dass ihre Namen erhalten werden, wenn G’tt sie einst rufen wird. Die Chancen hierfür stehen sehr gut – ein würdiges Beit- Ha’Chajim!

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Neologer Friedhof.

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 Historistische Grabsteine.

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Kinderabteilung.

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Grabreihe. Alle Fotos: I. Bittner, mit freundlicher Genehmigung.

Anmerkungen

1 https://www.ojm.at/blog/2011/11/14/mit-joseph-roth-ins-judische-burgenland/

2 https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_j%C3%BCdischer_Friedh%C3%B6fe_in_Ungarn

3 Vgl. Tina Walzer in https://davidkultur.at/artikel/judische-friedhofe-in-den-europaischen-landern 

4 https://www.google.com/maps/place/Sopron,+Okai+u.+24,+9400+Ungarn/@47.6894052,16.6013885,63m/data=!3m1!1e3!4m6!3m5!1s0x476c3c97ef18b243:0x93683db708878c3b!8m2!3d47.689296!4d16.601304!16s%2Fg%2F11c2b1q203

5 Brugger/Keil/Lichtblau/Lind/Staudinger, Geschichte der Juden in Österreich (Wien 2006) S. 237.

6 https://jewishencyclopedia.com/articles/11661-oedenburg-sopron

7 Danke für die Informationen an die Vizepräsidentin, Katalin Kerschbaum.

8 Die Neologen sind eine ungarische Besonderheit, eine liberale Richtung des Judentums, die seit 1920 die Mehrheit stellt. https://en.wikipedia.org/wiki/Neolog_Judaism

9 https://www.jewishvirtuallibrary.org/sopron

10 https://www.theologische-links.de/downloads/israel/jerusalem_grab-absaloms.html

11 https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Israelitischer_Friedhof_W%C3%A4hring

12 Alter Witz: Grün sagt zu Blau: Roth ist gestorben. Gehst du zu seinem Begräbnis? Darauf Blau: Nein! Wird er zu meinem kommen?