Ein Zuschneider aus Tschernowitz und ein Westenschneider aus Odessa fanden sich in Konstantinopel.
Wie zahlreiche aus Osteuropa ins Osmanische Reich zugewanderte Juden war auch der Urgrossvater des Verfassers, Adolf Aaron Schild, ein Schneidermeister. Adolf Aaron Schild zog kurz vor dem Jahr 1870 mit seiner jungvermählten Frau Karoline aus dem österreichisch-ungarischen Tschernowitz, Hauptstadt der Bukowina (heute Tscherniwzi, Ukraine) nach Konstantinopel – weniger aus antisemitischen Gründen, sondern eher, weil in der damaligen Metropole am Bosporus ein Bedarf nach guten Schneidern zu herrschen schien. Dies war Aaron zweifellos, aber obwohl recht erfolgreich, brachte er es nicht zu grossen Reichtümern. In der Gemeinde war er jedoch recht gerne gesehen – man nannte ihn liebevoll den alten Tschernowitzer. Aaron und Karoline hatten eine Tochter, dafür aber sechs Söhne, die teilweise jung verstarben (Moritz und Siegfried), in die U.S.A. (Ignaz) beziehungsweise Triest, dann München und schliesslich London (Hermann) auswanderten oder den Beruf des Vaters (Robert) weiterführten. Sie sorgten für eine gute, westlich orientierte Erziehung aller Kinder, sowohl zuhause als auch in den lokalen österreichischen und französischen Schulen.
Der älteste Bruder Paul gründete nach einer kurzen kaufmännischen Lehre bereits als knapp 25-Jähriger noch vor der Jahrhundertwende das Agentur- und Commissionsgeschäft P. Schild, welches sich vornehmlich auf Importgeschäfte von Schreib- und Hartwaren aus Österreich-Ungarn und dem Deutschen Kaiserreich konzentrierte. Laut Firmenregister des k.u.k. Konsulats in Konstantinopel wurde die Einzelfirma P. Schild am 24. Mai 1911 gelöscht und stattdessen im „Handelsregister für Gesellschaftsfirmen“ mit dem Namen P. Schild Agentur- und Kommissionsgeschäft mit Paul und dessen jüngstem Bruder Ignaz Schild als zeichnungsberechtigte Gesellschafter eingetragen.1 Da der Firmengründer unverheiratet, das heisst kinderlos blieb und sein Bruder in den Dreissiger Jahren aus der Firma ausschied, berief er nach einigen Jahren seinen Lieblingsneffen Willy erst zur Lehre und dann zur Nachfolge. Dieser fand kurz nach seinem Wirtschaftsstudium in Stuttgart aus Nazi-besagten Gründen wieder zurück nach Istanbul, wo er aufgrund der Arisierung auch unter jüdischen Vertretern sogenannter arischer Fabriken, neue Lieferanten aus England, Schweden und anderen Ländern in die Türkei einzuführen begann.
Paul Schild & Registereintrag; Wiener Zeitung vom 21. März 1899, 25. (ÖNB)
Die Gebrüder Schild betrachteten allesamt das Judentum als „ihnen nicht auf die Stirne geschrieben“ – und der Einzige, der die pompöse Aschkenasische Synagoge oder die bescheidenere Schneiderschul neben dem Galata-Turm regelmässig besuchte, war Robert. Er war auch der liebevoll-mutige Freiwillige der Familie, der den Militärdienst bei der k.u.k. Armee in der Bukowina absolvierte, um die Familie standesgemäss zu vertreten.
Obwohl es ihnen nicht „auf die Stirne geschrieben“ war, bekam im Jahre 1938 auch die gesamte Familie Schild in Istanbul das fatale “J” in ihre Pässe eingestempelt. Geschützt durch die österreichische Staatsbürgerschaft blieben sie jedoch von der 1942 eingeführten gigantischen Vermögenssteuer verschont, die sich an alle nicht-moslemischen Einwohner der jungen Türkischen Republik richtete. Auch einer Zwangsausweisung nach der formellen Kriegserklärung an Deutschland im August 1944 konnte die Familie durch gute Beziehungen entgehen.
Briefkopf der Firma P. Schild um 1900.
Die Familie Goldfeld
Yaakov Halevi Goldfeld war mit seiner Familie – Ehefrau, drei Söhnen und der zehnjährigen Tochter Libbe2 – 1891 aus Odessa nach Konstantinopel gezogen, um vor den immer grausamer werdenden Pogromen in ein (nicht unbedingt judenfreundliches, aber immerhin) juden-neutrales Land auszuweichen. Dort konnte auch er seinen Kindern eine gute, westeuropäisch orientierte Ausbildung gewährleisten, welche die Buben jedoch nutzten, um einer nach dem anderen in die U.S.A. auszuwandern. Demgegenüber blieb Belina in Konstantinopel und heiratete 1908 den kaufmännischen Angestellten Menachem Mendel Soroker, Sohn des aus Brünn eingewanderten Yehiel Mihel und seiner Gattin Rebecca Rivke. Der auch deutschsprachig erzogene Mendel (oder aktenkundlich Emmanuel) war Hauptkassier im österreichischen Warenhaus S. Stein sowie ehrenamtlich aktiv in der aschkenasischen Gemeinde.
Obwohl nach der Schliessung beider Istanbuler Filialen des Kaufhauses Stein mehrere Jahre arbeitslos, ermöglichte auch Emmanuel seinen Töchtern eine erstklassige Schulausbildung. Thea arbeitete nach ihrem Abschluss in der französischen Alliance Universelle Israélite als Chefsekretärin bei der AEG-Niederlassung in Istanbul. Ihr Verlobter, der Wiener Ingenieur Josef Scherzer, war bis 1940 massgeblich am Bahnbau im ostanatolischen Elazığ beteiligt. Thea verstarb jedoch 1935 kurz vor ihrer Hochzeit an einem Nierenleiden, und Scherzer emigrierte schliesslich 1940 in die U.S.A. Ihre jüngere Schwester Klara besuchte die österreichische St. Georg-
Mädchenschule mit einem Abschluss der kaufmännischen Abteilung, aufgrund dessen sie eine beliebte “Fräulein, bitte zum Diktat!” einer Reihe deutscher und österreichischer Firmen in Istanbul werden sollte.
Robert Schilds Sohn Wilhelm, Jahrgang 1910 und Vater des Verfassers, konnte nur die ersten Klassen der Istanbuler Deutschen Grundschule besuchen, da diese bereits bei Kriegsende 1918 schliessen musste. Ausweichend wurde er auf das von französischen Lazaristen geführte St. Benoit-Gymnasium geschickt, das ihm eine grosse Bewunderung und Liebe zu dieser Kultur vermitteln konnte. Um aber seiner deutschen Muttersprache nicht fernzubleiben, erfolgten regelmässige Besuche einer Hauslehrerin. Durch die Bekanntschaft in einer beliebten Bücherei Istanbuls kamen sich die eifrigen Stefan Zweig- und Victor Hugo-Leser Klara Soroker und Willy Schild nicht nur „literarisch“ näher, was zu ihrer Hochzeit im Jahre 1949 führte – und womit folgender Kreis geschlossen werden konnte: Der Westenschneider aus Odessa Yaakov Halevi Goldfeld, um die Jahrhundertwende regelmässiger Lieferant des „Zuschneiders“ Aaron Schild aus Tschernowitz konnte während dieser Zusammenarbeit im Schatten des Galata-Turms in Istanbul nicht wissen, dass ihre Enkelkinder rund fünfzig Jahre später vor dem Thoraschrein der dortigen Synagoge getraut werden sollten.
Nachlese
Dieser Text ist in Anlehnung an den Artikel „Zwischen Österreichischem Tempel und Schneiderschul - eine mühsame Suche nach österreichischen Juden in Istanbul“ von Dr. Robert Schild, aus „Österreich in Istanbul – II“, herausgegen von E. Samsinger im Lit-Verlag, Wien, 2017 entstanden – auch die Abbildungen mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.
Landsturmlegitimationsblatt 1917 von Emmanuel Soroker. Er war auch Sektionsleiter im jüdischen Bestattungsverein Istanbul.
Anmerkungen
1 Wiener Zeitung vom 1. Juni 1911, 30.
2 Später Belina Soroker, Grossmutter mütterlicherseits des Verfassers.
Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung R. Schild.