Die Stadt Keszthely liegt in der Nähe des Plattensees (ungar. Balaton) und ist für das Barockschloss der Grafen Festetics bekannt.
Wenn man sich als Tourist in Keszthelys Fussgängerzone nicht den Freuden des Konsums hingibt, sondern aufmerksam die Gedenktafeln studiert, eröffnet sich der Weg in eine kleine, noch intakte jüdische Welt. Gábor Rejtő, der Präsident der örtlichen orthodoxen Kultusgemeinde, empfängt uns vor dem Goldmark-Haus. Eine Gedenktafel weist auf Carl Goldmark, den berühmten Komponisten hin, der hier geboren wurde. Einst ein gefeierter Star der Musikszene, sahen manche Kritiker ihn später als Wagner-Epigonen, was für einen jüdischen Komponisten keine gute Etikettierung ist. Doch prominent ist er allemal noch, vor allem hier und in Deutschkreutz, wo er später lebte.
Das Tor öffnet sich, wir gehen durch den Hof eines mächtigen Renaissancehauses, durch ein Gittertor und da ist sie – die Stelle, etwa fünfzig Quadratmeter Schotter, wo sich einst die Geburtsstätte des Meisters befand. Sein Vater war hier Kantor gewesen und wechselte dann nach Deutschkreutz, verständlich bei diesen Umständen. Vis-à-vis das grosse Rabbinerhaus, wo heute, wegen sinkender Mitgliederzahlen, die Betstunden abgehalten werden und daneben die wunderbare, intakte Synagoge im Biedermeierstil. Am Eingang eine deprimierende Stele, die an die Verschleppung der 829 Gemeindemitglieder nach Auschwitz zwischen 1942 und 1944 erinnert. Nur etwa dreissig Menschen, sagt Herr Rejtő, kehrten zurück, einige wanderten dann in die U.S.A., nach Israel oder sonst wohin aus; heute kommen kaum noch zehn Männer zusammen.
Die Synagoge in Keszthely.
Die Synagoge wurde nach den Zerstörungen der Nachkriegszeit restauriert und präsentiert sich im Stil der Erbauungszeit um 1852. Das Grundstück war eine Schenkung des Grafen Festetics und dieser brachte gleich seinen Architekten mit, der den rechteckigen Saalbau mit Frauenemporen seitlich und einer Orgelempore errichtete. Heute werden die Emporen nicht mehr verwendet, die Frauen sitzen im Parterre links, die Männer rechts und bringen ihre eigenen Sitzpolster mit. Die bunte Verglasung wirft ein unwirkliches Licht auf den angenehmen Raum, fast übersieht man dabei die Wasserschäden, die in den letzten Jahren aufgetreten sind. Neben dem Rabbinerhaus stehen noch zwei angebaute Wohnhäuser und dahinter wurde 1995 der „Biblische Garten“ vom Bruder des Präsidenten angelegt, ein Ort der Stille und der Erholung. Hier wachsen Pflanzen, die in der Bibel erwähnt werden: als Nicht-Botaniker erkenne ich den Olivenbaum, Hibiskus, Bambus, Holunder, Kaktus, Feigenbäume, Zypressen, Agaven, wilden Wein und Seerosen. Die hübschen Goldfische, welche diese umkreisen, muss ich im Tanach noch nachschlagen.
Der Bibelgarten von Keszthely.
Wir verlassen dann diese kleine jüdische Insel im Getriebe des Touristenortes und fahren ein paar hundert Meter zum jüdischen Friedhof in der Goldmark-Strasse. Nahe dem Eingang steht die 1912 im klassizistischen Stil erbaute Trauerhalle, ein architektonisches Juwel, das heute noch für Einsegnungen verwendet wird, daneben die bescheidene Behausung für den Friedhofswärter, die momentan verwaist ist (wer eine Person kennt, die einen krisenfesten Beruf anstrebt, bitte bei Herrn Rejtő melden!) Der Friedhof ist ein langes, schmales, durch Gräben gegliedertes Grundstück, auf dem sich etwa 2.000 Grabsteine und Grüfte befinden. Die älteren Steine aus dem 19. Jahrhundert befinden sich nahe dem Eingang, kleine orthodoxe Steine und Stecksteine aus Sandstein, viele aus rotem, ungarischem Marmor und wenige Obelisken aus Granit. Leider sind viele Gräber von Efeu überwachsen, was über kurz oder lang zu ihrer Zerstörung führen wird. Je weiter man geht und sozusagen ins 20. Jahrhundert kommt, desto auffälliger wird die Prosperität der Gemeinde in der Zwischenkriegszeit: Granitmonumente und Grüfte von ausserordentlicher Qualität. Der letzte Teil des Friedhofs birgt die grösste Überraschung, etwa ein Drittel aller Gräber stammen aus der Zeit nach 1970, vielfach wird auch der in Auschwitz ermordeten oder im Exil verstorbenen Verwandten in den Inschriften gedacht. Keszthely dürfte ein beliebter Begräbnisort auch für Fremde sein, denn so wenige Gemeindemitglieder belegen so viele Gräber – das kann nicht sein. Wie geht es mit der Gemeinde weiter? Gábor Rejtő wirkt sorgenvoll. Zu wenige kommen zu den Feiern, die Turbulenzen der letzten Monate machen ihn nervös – die Lubawitscher, die mit Billigung der Regierung die orthodoxe Gemeinde feindlich übernommen haben1, meldeten sich auch schon bei ihm, um ihn über die neue Machtstruktur aufzuklären. Keszthely – noch eine jüdische Idylle – leider auf Abruf.
Die Trauerhalle am jüdischen Friedhof von Keszthely.
Der jüdische Friedhof von Keszthely.
Anmerkung
1 https://www.juedische-allgemeine.de/juedische-welt/verriegelte-synagoge/ abgerufen 01.09.2023.
Alle Abbildungen: I. Bittner, mit freundlicher Genehmigung.