Ausgabe

Synagogen und jüdisches Leben in Obernai, Elsass

Charles E. Ritterband

Im elsässischen Obernai (dt. Oberehnheim) haben sich Spuren von zumindest drei Synagogen erhalten.

Inhalt

Die Neue Synagoge in der rue de Sélestat 9, erbaut vom Amtsarchitekten Antoine Ringeisen (1811 Paris–1889 Rouen) nach Plänen des Architekten Jacques Albert Brion (geboren 1843 im elsässischen Dorf Goxwiller), wurde von der damals nur zweihundertfünf Mitglieder zählenden jüdischen Gemeinde in Obernai finanziert und ersetzte den älteren Bau eines privaten jüdischen G’tteshauses. Diese Ältere Synagoge datiert laut französischem Denkmalamt ins Jahr 1749/52; sie liegt an der heutigen rue du Général Gouraud 43, in einem Hof namens Cour Ohresser. Von aussen gleicht sie einem Wohnhaus, im Erdgeschoss befand sich ein geheizter Aufenthaltsraum, auf Judäo-Elsässisch Kahlstub genannt, im ersten Stock darüber war ein Betsaal für 70 Männer und 49 Frauen eingerichtet. Eine Inschrift am Eingang zum Ohresser-Hof erinnert an Samson Hacohen, Gemeindevorsteher der Juden von Obernai 1702. Der Betsaal mass laut einer Eingabe der jüdischen Gemeinde von 1872 rund 70 Quadratmeter und wurde für die damalige Gemeinde als definitiv zu klein bezeichnet. Heute stellen die Überreste das letzte im Elsass erhaltene Beispiel einer barocken Synagoge dar. Gemeinsam mit dem anschliessenden Wohnhaus des Rabbiners stellt die bauliche Situation um den Ohresser-Hof ein schönes Ensemble dar, das sich, dank der vorausschauenden Planung des Bauherrn Jacob Baruch-Weyl und seiner Nachkommen, aus der Mitte des 18. Jahrhunderts bis in unsere Zeit erhalten hat.

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Strassenschild mit Balkon.

Eine jüdische Gemeinschaft hatte in Obernai urkundlich belegt bereits ab dem Jahr 1215 existiert; nachweisbar sind in dieser Region Juden allerdings bereits gut ein Jahrhundert zuvor. In der ruelle des Juifs haben sich an einer Hauswand bei einem halbkreisförmigen Portal zum dritten Haus auf der linken Seite (vom Zugang auf der place de Beffroi her gesehen) hebräische Inschriftenreste erhalten, die möglicherweise auf den Standort einer 1540 bezeugten mittelalterlichen Synagoge hindeuten. Jüdische Überlieferungen verweisen darüber hinaus auch noch auf eine weitere einstige, bereits 1454 urkundlich erwähnte Älteste Synagoge im zweiten Haus auf der rechten Strassenseite im Judengässlein von Obernai. 

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Neue Synagoge, Ostansicht.

Zeugnisse jüdischen Lebens

Juden kamen nach ihrer Vertreibung durch die Römer im Jüdischen Krieg aus Judäa unter anderem auch ins Rheintal und liessen sich zunächst in Strassburg nieder. Die frühesten erhaltenen  schriftlichen Belege aus dem Jahr 1146 sprechen von Misshandlungen der ansässigen Juden in Strassburg im Zuge der Vorbereitungen für den Zweiten Kreuzzug. Kaiser Friedrich II. bot den Juden zwar Schutz an, forderte von ihnen aber Steuern – und über dieses Geld der Juden kam es bald zu einem Tauziehen zwischen dem Kaiser, der Stadt und dem Bischof von Strassburg. Die allerorts üblichen Ritualmordlegenden kamen auch hier zum Einsatz, mit entsprechenden gewalttätigen Folgen. Bei Ausbruch der Pest zu Beginn des Jahres 1349 schuldigte der Magistrat Juden als Brunnenvergifter an, bereits im Februar desselben Jahres wurden 2.000 Personen daraufhin auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Zwanzig Jahre später durften Vereinzelte wieder nach Strassburg zurückkehren. 

 

In Obernai wurden zwischen 1347 und 1349 sämtliche dort ansässigen Juden ebenfalls der Brunnenvergiftung beschuldigt und verbrannt. Während der folgenden drei Jahrhunderte waren die Juden in der Stadt immer wieder Verfolgungen ausgesetzt, wiewohl sie, unter dem Schutz des Kaisers stehend, während des gesamten 15. Jahrhunderts nie komplett vertrieben wurden. In den darauffolgenden hundertfünfzig Jahren setzte sich der Stadtrat gegenüber dem Kaiser durch. Selbst der berühmte Vertreter und Verteidiger der jüdischen Gemeinden im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, Josel von Rosheim (1476–1554?), dessen Vater Gerson 1470 aus dem badischen Endingen nach Obernai zugezogen war, konnte das nicht verhindern: Juden erhielten mehr oder weniger konsequent keine Aufenthaltsrechte. Erst Mitte des 17. Jahrhunderts konnten sie sich wieder dauerhaft niederlassen und eine kleine, neue Gemeinde gründen. 1689 waren es noch zwölf Juden, die in Obernai fest ansässig waren, eine Generation später, 1720, lebten hier bereits einundzwanzig jüdische Familien, 1784 waren es hundertsechsundneunzig Personen, 1899 waren es zweihundertzwanzig. Abgesehen von der 1696 bezeugten Synagoge (Neubau errichtet 1749/52) gab es nach der Französischen Revolution und den damit verbundenen rechtlichen Verbesserungen jedenfalls eine Mikwe, eine jüdische Volksschule (beherbergt heute das Gemeindehaus, auf Jeddisch „Judehues“), einen Friedhof und einen Kantor „ehrenhalber“. Im 19. und 20. Jahrhundert war Obernai gar Sitz eines Rabbinats. 1936 lebten hier nach wie vor 138 jüdische Einwohner, 1940 wurden die noch in der Stadt befindlichen Juden nach Südfrankreich und von dort zumeist nach Auschwitz deportiert. Kaum einer überlebte die Shoah. Heute gibt es wieder ein paar Dutzend Juden, welche auch in der Synagoge G‘ttesdienste abhalten.

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Durchblick Jùddegassel mit Synagoge links.

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Durchblick Jùddegassel mit Synagoge rechts.

Zuwanderung und Vernichtung

Im 20. Jahrhundert wanderten mittellose Juden aus Osteuropa ins Elsass ein, um dort an den deutschsprachigen Universitäten zu studieren. Als die Regierung ab 1924 versuchte, die Trennung von Kirche und Staat auch im Elsass durchzusetzen, wurde sie darin von der jüdischen intellektuellen Elite unterstützt. Bei den elsässischen Katholiken stiess dies nicht auf Gegenliebe, und es schürte den hier ohnehin latent vorhandenen Antisemitismus. Der zunehmende Druck auf die Juden in Deutschland führte zu vermehrter Einwanderung nach Frankreich, insbesondere ins weitgehend deutschsprachige Elsass, und nach Lothringen. Die Zuwanderer waren hier angesichts der grassierenden Arbeitslosigkeit kaum sehr willkommen. Zu Anfang des Zweiten Weltkriegs lebten 17.783 Juden im Elsass. Von ihnen wurden zwei Drittel ins Innere Frankreichs evakuiert. Die erneute Annexion des Elsass durch das Deutsche Reich 1940 leitete ein besonders tragisches Kapitel für die Juden im Elsass ein. Im Elsass wurde das Konzentrationslager Natzweiler-Struthof eingerichtet; bis 1944 wurden dort 22.000 Menschen ermordet – darunter viele  Juden aus Osteuropa, während Elsässer Juden zumeist in Auschwitz umgebracht wurden. 

In der Nacht vom 30. September auf den 1. Oktober 1940 wurde die Grosse Synagoge von Strassburg durch Angehörige der Hitlerjugend und „völkische“ Elsässer niedergebrannt – von da aus breitete sich einer Welle von Zerstörungen elsässischer Synagogen über die gesamte Region aus. Die Synagoge von Obernai blieb davon wunderbarerweise verschont. Von den Nazis profaniert, wurde das G’tteshaus im Jahr 1948 vom Oberrabbiner Abraham Deutsch und dem Obernaier Rabbiner Emile Schwartz s.A. erneut eingeweiht.

 

Frankreich verfügt mit rund einer halben Million Menschen über die zahlenmässig grösste jüdische Bevölkerung Europas, die hier rund ein Prozent der Gesamtbevölkerung darstellt. Der Anteil der Juden im Elsass, wo zwischen 19.000 und 32.000 Juden leben, liegt deutlich höher als im französischen Durchschnitt. Noch vor zwei Jahrhunderten lebte die Hälfte aller französischen Juden im Elsass. Ihre traditionelle Sprache wird „Jeddisch“ („Yeddishdaitsch“) genannt und ist tatsächlich ein westjiddischer Dialekt – das „auf jüdische Weise gesprochene Elsässisch“.

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Inschrift im Jùddegassel.

Nachlese

Jean Camille Bloch: Obernai. Une communauté juive bien dans sa ville. Edité par la communauté Israèlite d’ Obernai, Obernai 2024.

Lucien Weill: Histoire de nos communatés: Obernai. Extrait du Bulletin de nos Communautés 19, 9.10.1957, S. 14f. Quelle: http://www.judaisme-alsalor.fr/synagog/basrhin/g-p/obernai/o-weill.htm, abgerufen am 30.08.2024.

Jean Braun/Claude Gensburger: Communautés juives, synagogues Obernai. Quelle: http://www.judaisme-alsalor.fr/synagog/basrhin/g-p/obernai/o-braun.htm, abgerufen am 30.08.2024.

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Alle Abbildungen: Ch. Ritterband, mit freundlicher Genehmigung.