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Nach der Matura am Leopoldstädter Gymnasium, das heute seinen Namen trägt, bezog Sigmund Freud 1873 mit siebzehn Jahren die Wiener Universität.
Aus einer Vielzahl von Interessensgebieten kristallisierte sich das Medizinstudium als Hauptfach heraus, doch standen ebenso Vorlesungen aus Philosophie oder Zoologie auf dem Plan des persönlichen Curriculums von Sigmund Freud. Mit Maturakollegen und studentischen Kommilitonen traf er sich in einen philosophischen Lektüre- und Debattierzirkel und schloss sich dem „Leseverein deutscher Studenten in Wien“ an, in dem die Burschenschafter Victor Adler und Engelbert Pernerstorfer bis zur Auflösung des in der Schönlaterngasse ansässigen Vereins 1878 eine führende Rolle spielten. Erst in reiferen Jahren wird er sich in Etappen den zionistischen Farbenstudenten annähern, die ihn zum eingangs genannten Datum in ihre Reihen aufnehmen werden.
Als Sigmund Freud nach inhaltlich breit aufgestelltem Studium und intensiver Forschungstätigkeit beim Physiologen Wilhelm von Brücke 1882 eine Stelle als Assistenzarzt im Wiener Allgemeinen Krankenhaus antrat, formierte sich nur wenige hundert Meter entfernt am Donaukanal die akademische Vereinigung Kadimah als erste jüdisch-studentische Organisation. Der ambitionierte Nachwuchsmediziner und der Kreis junger, osteuropäisch geprägter Juden nahmen aber noch keinerlei Notiz voneinander, zu sehr war Freud mit seinen Forschungen und der Kreis der Kadimahner mit der Ausprägung eines neuen, säkularen jüdischen Selbstverständnisses beschäftigt, das Assimilation und Orthodoxie gleichermassen ablehnte.
Kadimah wandelt sich in den 1890er Jahren in Etappen vom akademischen, auf breite Mitgliedschaft ausgelegten Verein zu einer farbentragenden, waffenstudentischen Studentenverbindung mit rot-violett-goldenen Bändern und der markigen Devise „Mit Wort und Wehr‘ für Juda’s Ehr‘!“ Damit erhielt Kadimah zwar eine straffere Form und Binnenorganisation, doch schreckte das forsch auftretende Verbindungswesen, das zudem als „unjüdisch“ in der Kritik stand, spezifisch jüdischen Bildungsinhalten durchaus aufgeschlossene Studenten ab. Dieses „Manko“ wurde indessen von Kadimah erkannt, die ihren exklusiven Charakter als zionistische Elite beibehalten, aber zugleich auf ein breites Mitglieder- und Unterstützerreservoir nicht verzichten wollte.
Sigmund Freud 1916 mit seinen eingerückten Söhnen Ernst (links) und Martin (stehend), der seit November 1908 der AV Kadimah angehörte. Foto Archiv Historia Academia Judaica Harald Seewann, Graz.
Freud als Förderer der jüdischen „Lese- und Redehalle“
Der Widerspruch wurde 1894 durch den unter Patronanz Kadimahs als „Jüdische Akademische Lesehalle“ gegründeten studentischen Kulturverein aufgelöst, der 1899 in „Lese- und Redehalle jüdischer Hochschüler“ umbenannt wurde. Die bald nur unter „Halle“ bekannte Einrichtung mit Lesesaal und Bibliothek war bereits Ende 1896 die zweitgrösste studentische Organisation an der Universität Wien. Als offene Service- und Bildungsplattform für jüdische Studenten spielte hier das verbindungsstudentische Brauchtum nur eine untergeordnete Rolle, im Vordergrund standen inhaltliche Fragen und ein breites Vortragsprogramm. Zum selbstgestellten Anspruch als „geistiges Zentrum der Wiener jüdischen Studentenschaft“ gehörte auch ein Netzwerk an im akademischen Betrieb etablierten Förderern, zu denen der 1885 habilitierte und 1902 zum ausserordentlichen Professor für Neuropathologie berufene Freud bald zählte. Allerdings beschränkte sich Freuds Rolle nicht auf die eines passiven Patrons, sondern er nahm am Leben der „Halle“ durchaus Anteil, etwa 1897 durch einen Vortragsabend oder durch die Überlassung von Publikationen für den Lesesaal – war ihm doch das Konzept der Organisation aus seiner Mitgliedschaft im „Leseverein“ geläufig. Vermutlich hatte den ersten Kontakt der Mediziner Isidor Sadger (1867–1942), hergestellt, der am Vortragsprogramm der „Halle“ mitgewirkt hatte und zu den ersten Anhängern Freuds zu zählen war. Er hatte Freud auch mit seinem Verwandten Siegfried „Fritz“ Wittels (1880–1950) bekanntgemacht, der 1900 als Medizinstudent dem „Halle“-Vorstand angehört hatte. Beide zählen später zur „Mittwochsgesellschaft“, der Keimzelle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung.
Gut möglich ist auch eine Anbahnung über den Kardiologen Ludwig Braun (1867–1936), der Freud seit den späten 1880er Jahren kannte und seinen Freund an den Wiener Israelitischen Humanitätsverein als Teil der „B’nai B’rith“-Bewegung heranführte. Der als Begründer der Psychokardiologie in die Medizingeschichte Eingegangene war Förderer und Ehrenmitglied der „Halle“. Im Wiener „B’nai B’rith“-Netzwerk fand er ein Publikum für seine Forschungsergebnisse und Dennis B. Klein sieht zahlreiche Indizien, „[…] that the psychoanalytic movement began, in embryonic form, within the B’nai B’rith.“ Neben der Multiplikatorenfunktion für seine wissenschaftlichen Ansätze bot „B’nai B’rith“ für Freud auch das Reservoir persönlicher Freundschaften, etwa zum Rechtsanwalt und Obmann des „Herzl-Klubs“ Fritz Eckstein (1880–1937), der Freuds Tarockrunde angehörte und die „B’nai B’rith“-Palästinasammlungen leitete. Mit dessen Namensgeber Theodor Herzl (1860–1904), Freuds zeitweiligem Nachbarn in der Berggasse auf Nummer 6, stand er in brieflichem Austausch; ein persönliches Gespräch kam trotz der räumlichen Nähe allerdings nie zustande.
Eigenhändige Ansichtsakarte an die „Halle“ vom 30. Dez. 1911. „Sehr geehrte Herren Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich Ihnen in den ersten Tagen des nächsten Jahrs eine Partie medizin. Zeitschriften (unvollständige Serien, aber nicht wertlos) für Ihre Bibliothek zusenden. Mit kolleg. Gruss Prof. Freud.“ Library of Congress, Washington.
„Halle“ und „B’nai B’rith“ als frühe Adressaten von Freuds Forschungen
Auch nachdem Freud die Anwendungsreichweite seiner Arbeit über die jüdische Gesellschaft hinaus ausgeweitet hatte, blieb er der „Halle“ und ihren Mitgliedern verbunden. Auf einer sehr persönlichen Ebene äusserte sich dieses Naheverhältnis bei Theodor Reik (1888–1969), dem Sohn eines früh verstorbenen Bahnbeamten, dem Freud 1910 erstmals begegnete und ihn, etwa für einen Studienaufenthalt in Paris, bis 1914 finanziell unterstützte. Der 1912 promovierte Philosoph und Psychologe Reik war ab 1913 Vorstandsmitglied und bis 1928 Sekretär der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und ebenfalls in der „B’nai B’rith“-Bewegung tätig. Zugleich war Reik, der später in Berlin, den Niederlanden und in New York tätig war, der erste in der Psychoanalyse tätige Nicht-Mediziner. Zum Kreis der Korporierten ist unbedingt auch Edward Bibring (1894–1959) zu zählen, der in Czernowitz (heute Tscherniwzi, Ukraine) ein Geschichtsstudium begonnen hatte und der jüdisch-nationalen Verbindung Zephirah beigetreten war. 1922 promovierte er in Wien zum Mediziner und trat 1925 in die Psychoanalytische Vereinigung ein. Als Mitherausgeber der Psychoanalytischen Zeitschrift hatte er wesentliches Verdienst an der publizistischen Verbreitung von Freuds Arbeit und folgte diesem 1938 auf seiner Flucht nach Grossbritannien.
Freuds Sohn Martin Freud hatte im Herbst 1908 das Jusstudium an der Wiener Universität aufgenommen und war im November der Kadimah beigetreten. „Mein Vater liess mich in voller Unwissenheit über alles, was das Judentum betrifft, aufwachsen“, schrieb der Sohn später, und „ich erwartete von ihm, dass er sich meinem Beitritt zur zionistischen Studentenverbindung Kadimah entgegensetzen würde. Zu meiner Überraschung und meinem Vergnügen tat er dies nicht, und er zeigte sich sogar noch entzückt von dieser Idee.“ Ebenso nahm Freud von den Verbindungsaktivitäten seines Sohnes durchaus zustimmend Notiz, wie er Carl Gustav Jung (1875–1961), der als Student der Basler Verbindung Zofingia angehört hatte, brieflich mitteilte: „Der älteste [Martin, d. Verf.] hat sich in einer Mensur das Gesicht zerhacken lassen u. ganz tapfer dabei benommen. So wird das junge Volk allmählich selbständig […]“.
Farbenband, Couleurnadel und Stempelabdruck mit Monogramm „Zirkel“ der AV Kadimah, der Sigmund Freud ab 1936 angehörte. Aufnahme des Verfassers.
Ehrenbursch der ältesten jüdisch-nationalen Studentenvereinigung
Das Interesse Freuds an Kadimah blieb nicht unerwidert und äusserte sich in zahlreichen befruchtenden Begegnungen mit Kadimahnern. Unter den älteren Bundesbrüdern seines Sohnes lernte Freud den Internisten Felix Deutsch (1884–1964) kennen, der 1922 in die Psychoanalytische Vereinigung aufgenommen und vor seiner Emigration 1936 als Hausarzt des „grossen Zauberers“ fungieren wird. Freuds Vorbild war in der Kadimah auch für junge Menschen wirksam und machte etwa auf den 1938 in Lausanne promovierten Herbert Hochstädt (1912–1991) grossen Eindruck, der ab 1951 in New York als Psychoanalytiker praktizierte.
Als Freud im Mai 1936 seinen 80. Geburtstag beging, sandte ihm Kadimah ein Glückwunschtelegramm, das der Empfänger prompt erwiderte und unter das Dankesschreiben die Zeilen setzte: „Ihr Freud, der sich zu Ihren Alten Herren zu zählen wünscht“. Die Reaktion der Verbindung erfolgte umgehend und am 6. September suchte eine Abordnung Freud in seinem gemieteten Sommerhaus in der Strassergasse 47 in Wien XIX. auf, wo ihm Hugo Lifczis (1898–1970) namens der Aktivitas und Max Silberberg (1878–1946) für die Altherrenschaft das rot-violett-goldene Verbindungsband zur Aufnahme als „Ehrenbursch“ überreichten, das der Geehrte sogleich anlegte. Diese Auszeichnung hatten vor Freud nur ausgewählte zionistische Spitzenfunktionäre wie Jehuda Leib Pinsker, Theodor Herzl oder Max Nordau erhalten.
Nachlese
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