Ausgabe

Auch Tito hatte seine Gulags Teil I

Anna Maria Grünfelder

Goli otok und das unbekannte Frauenlager Sveti Grgur in der nördlichen Adria 

 

Inhalt

Am 28. Juni 1948 erschütterte ein politisches „Beben“ Europa, das sich noch vom Krieg erholte:  die Kommunistische Internationale (KOMINTERN) verbreitete über ihr Informationsbüro (INFORMBIRO) die Resolution über den Ausschluss von Titos Jugoslawien aus der Gemeinschaft der sozialistischen Staaten. Einer der folgenreichsten Konflikte im internationalen Kommunismus kam für Kenner  der inneren Situation de „sozialistischen Lagers“ nicht unerwartet: Jugo­slawien galt  nicht nur im westlichen Ausland, sondern auch innerhalb des sozialistischen Blocks als „Musterschüler der Sowjetunion“: kein anderes Land des sozialistischen Lagers vollzog so rasch und so konsequent die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Beseitigung des Privateigentums, sowie die Entrechtung und Liquidierung der „Kollaborateure“ des Nazismus und Faschismus. Hinter dieser Fassade gab es seit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion (22. Juni 1941) konstant „Quertreibereien“ der jugo­slawischen Kommunisten gegen die „Generallinie“ aus Moskau: dies begann schon damit, dass Tito den Aufruf der UdSSR an die kommunistischen Parteien in ganz Europa, alle ihre Kräfte zur Verteidigung der UdSSR zur Verfügung zu stellen, zurückwies: auch Jugoslawien sei von Deutschland angegriffen worden und müsse sich verteidigen. Die Sowjetunion „revanchierte sich“  mit der Aufkündigung der Unterstützung für Titos Anspruch auf Triest,  Görz/Gorizia und Südkärnten;  Moskau gefiel es auch nicht, dass Tito im griechischen Bürgerkrieg die Kommunisten unterstützte, in Bulgarien mit dem Generalsekretär der KOMINTERN Georgi Dimitroff eine Balkanföderation schmiedete, in Albanien mitmischte und in der Frage der Zugehörigkeit Triests zu Jugo­slawien zu keinem Nachgeben gegenüber Italien bereit war.1 

Tito war zu keinem Entgegenkommen gegenüber Stalin bereit, sondern bestand darauf, als alleiniger Sieger über den Nationalsozialismus in Jugoslawien nach eigenen Vorstellungen zu regieren. Die Rote Armee kam im Oktober 1944 nach Belgrad, um es zu befreien, wurde jedoch von den jugoslawischen Partisanen hinter deren Linien an Belgrad  und an der Syrmienfront vorbeigeschleust und um den Ruhm als „Befreier“ gebracht. 1948 entschloss sich KOMINTERN (Stalin), die jugoslawischen Häretiker abzusetzen, eine neue Führung der jugoslawischen KP zu ernennen und die stalinistische Hegemonie über Osteuropa wieder herzustellen. 

Am 26. Mai 1948 richtete sie an die jugoslawische Kommunistische Partei die Aufforderung, auf die Linie Moskaus zurückzukehren. Tito lehnte dies ab, der Bruch Jugoslawiens mit dem gesamten kommunistischen Block war damit vollzogen. 

 

Stalinismus mit und ohne Stalin

Innenpolitisch blieb Tito „linientreu“, er unterdrückte weiterhin jede aufkeimende Liberalisierung. Nach dem Bruch mit Moskau radikalisierte die jugoslawische KP ihren Stalinismus und säuberte die Partei radikal von allen Mitgliedern, die Verständnis für die Resolution des INFORMBIROS bekundet hatten. Militär, Polizei, Medien und politische Dienststellen, sowie Privatpersonen – Intellektuelle, Geistliche, vor allem katholische und alle jene, die mit den Stigmatisierten weiterhin die Kontakte aufrechterhielten – wurden verhaftet, in Schauprozessen verurteilt und in die lokalen Gefängnisse geworfen. Auch Ehepartner, Eltern und Kinder wurden mitverfolgt. Von Ende Mai bis Juli 1949 wurden 3713 Personen verhaftet und bestraft. Seit dem Ende des Krieges eskalierten der Gewissensterror und die Repression im Land, obwohl jugendliche Idealisten des Sozialismus an den internationalen Jugend-Arbeitsaktionen am Wiederaufbau Jugoslawiens teilnahmen (Junge Linke, Sozialisten, Kommunisten – auch aus Österreich) und nicht aufhörten, an Titos Jugoslawien als ein positives Gegenbild zu Stalin und einen Garanten für einen menschenfreundlichen Kommunismus zu glauben. Sie sahen, was sie sehen wollten – die Warnsignale ignorierten sie.

 

Als die KOMINTERN Jugoslawien aus dem sozialistischen Lager ausschloss, zollten auch jugoslawische Kommunisten der Resolution des INFORMBIRO Beifall – ob aus Überzeugung, ob aus Kalkulation; wahrscheinlich beides: Nicht alle glaubten, dass Tito die Auseinandersetzung mit Stalin durchhalten, sondern dass er über kurz oder lang aufgeben werde. Die Strafe für diese Renegaten war drakonisch: Diese Kräfte, hinfort als „Informbiroovci“ („Informbüroler“ oder „IB-s“ ) bezeichnet,  wurden in Gefängnisse geworfen, sofern sie nicht rechtzeitig fliehen konnten. 1948 flüchteten insgesamt 4.928 Personen, 718 davon in die UdSSR; die meisten aber flohen in die Nachbarländer Bulgarien, Albanien, Ungarn, Rumänien, zumal sich unter den IB-s Angehörige dieser Nationalitäten als jugoslawische „Volksgruppen“ befanden. Die insgesamt 1.699 Angehörigen der jugoslawischen Minderheiten unter den IB-s rechneten damit, dass der Bruch Titos mit Moskau auf lange Sicht bestehen werde, dass sie also nicht so bald wieder nach Jugoslawien zurückkehren würden. 144 Personen wagten vor der Entstalinisierung (nach Stalins Tod 1953) die Rückkehr nach Jugoslawien und wurden prompt vor Gericht gestellt (weitere 104 Rückkehrer blieben unbehelligt). 

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Ženi Lebl, Presseausweis der Tageszeitung „Politika“, Belgrad; aus der Redaktion heraus wurde sie verhaftet. Mit freundlicher Genehmigung ihrer noch lebenden Nichte Ana Lebl, Split.

 

Der jugoslawische „Alcatraz“ 

Im Jahre 1949 wurde für die IB-s ein spezielles Gefängnis auf einer entlegenen Adriainsel eingerichtet: Nordwestlich der Adriainsel Rab wurde das nicht besiedelte Eiland „Goli otok“ („Nackte Insel“, weil es nur Stein und Felsen, aber kaum Vegetation gab), „eine Mondlandschaft“ (Alfred Pal, einer der Insassen dieses Gefängnisses) als „Hochsicherheitsgefängnis“ vorgesehen. Die ersten Verurteilten – „Sechsmonatige“, denen eine Besserungsfrist gewährt wurde – kamen im Mai 1949 im Unterdeck eines Lastenkahns aus Bakar in der nördlichen Adriabucht in „Goli otok“ an, weitere Gruppen im Juli 1949, im September, November und Dezember (zu den Weihnachtsfeiertagen). Zu Jahresende 1949 verbüssten schon 3.113 Personen, überwiegend Männer, und einige Frauen ihre Strafen auf „Goli otok“. Sie mussten eine „Strasse“ anlegen, um Gefängnisbungalows aus Steinen zu errichten. Das Meer ist dort rund dreissig Meter tief, die Entfernung vom Festland beträgt zirka sechs Kilometer – im Falle eines Fluchtversuches waren die Boote der Wachen schnell zur Stelle, um den Flüchtigen einzuholen oder aber ihn zu versenken. Kein Angehöriger erfuhr, wohin die Verurteilten verbracht worden waren. Aber Bewohnern anderer nahegelegener Inseln, zumeist Fischern, war bald klar, was sich auf „Goli otok“ abspielte. Die Kunde verbreitete sich auch auf dem Festland, trotz der Gefahr, selbst auf „Goli otok“ zu landen, wenn offen darüber gesprochen wurde.

 

„Goli otok“ wurde bald zum Inbegriff eines stalinistischen Lagers für „politische Häftlinge“ – der „jugoslawische ­Alcatraz“. Lange blieb der Öffentlichkeit verborgen, dass 1950 auch ein Gefängnis für Frauen und Familienangehörige von „IB-s“ eingerichtet wurde: auf der „Goli otok“ nordwestlich gegenüberliegenden Insel „Sveti Grgur“ (St. Gregor, wo nach einer alten Legende der nachmalige Bischof von Nin bei Zadar zwischen 900 und 929 vor der Bischofsweihe ein Einsiedlerleben geführt haben soll). „Sveti Grgur“ ist auch heute noch ein kleines unbewohntes Eiland, mit flachem Strand gegen Nordwesten, einer Felskette gegen Osten, ohne Buchten, ohne Vegetation, den Borastürmen schutzlos ausgesetzt. Die Häftlinge von „Goli otok“ konnten von einer bestimmten Position aus die Frauen auf „Sveti Grgur“ sehen, aber sie mussten sich auf den Boden werfen, bis die Frauen aus dem Sichtfeld verschwunden waren.  

 

Die meisten Frauen von „Sveti Grgur“ –  insgesamt 860 zwischen 1950 und 1956 – wurden  nicht wie die „Informbiroovci“ von Militärgerichten abgeurteilt (sie wurden also nicht als Spioninnen, Agentinnen, Verräterinnen juristisch verurteilt), sondern wegen Unterlassung der Anzeige von „volksfeindlicher Betätigung oder Äusserung des Ehemannes, von Verwandten, Bekannten, Angehörigen  „Verwaltungsverfahren“ unterworfen und zur „Besserung“ und „Besinnung“ durch „gesellschaftlich bedeutsame Arbeit“ in solche Lager geschickt. Die „Verwaltungsstrafen“ wurden zeitlich nie befristet: nur durch Mundpropaganda war zu erfahren, dass sie mindestens ein Jahr dauerten, dass aber nach Ablauf der Jahresfrist die Gefängnisleitung, oder aber das Verwaltungsorgan, militärische oder polizeiliche Organe die Frist beliebig verlängern konnten, ohne die Betroffenen zu informieren. Es wurde auch offenkundig, dass nach einer Freilassung eine neue Einweisung ohne Begründung erfolgen konnte. 

 

Die Häftlinge von „Sveti Grgur“ waren im Zivilberuf Beamtinnen, Wissenschaftlerinnen, Lehrerinnen oder aber einfache Bauersfrauen: Die ersten Ankömmlinge mussten aus dem Felsen Steine hauen und mit ihnen Bungalows errichten, sodann im Felsen nach Süsswasser graben und Zisternen bauen, wozu sie Zementsäcke oder Holzbalken schleppen, wenn die Fähre vom Festland anlegte und Baumaterial brachte – ungeachtet der Wetterbedingungen und ihrer körperlichen Verfassung, ohne ausreichende Verpflegung, zumeist nur Salzwasser aus dem Meer zum Trinken und zur Hygiene – dies war der Alltag auf „Sveti Grgur“ wie auch auf „Goli otok“. Es gab allerdings auch Frauen, die von Beginn ihrer Haft an zum Klöppeln von Spitzen „verurteilt“ wurden (vermutlich Frauen von der Insel Pag, die für ihre traditionellen Spitzen bekannt war und den italienischen Markt damit versorgte).

 

Unter den Häftlingen beider Lager befanden sich Angehörige aller jugoslawischen Volksgruppen. Jüdinnen und Juden, die in der Partisanen-Armee gekämpft hatten und aus den Internierungslagern der Italienischen Armee befreit wurden, sowie Jüdinnen und Juden, die die Konzentrations- und Todeslager der Nationalsozialisten überlebt hatten und von der kommunistischen Regierung zur Heimkehr nach Jugoslawien verpflichtet worden waren, fanden sich wieder in Haft und in diesem Lager. Bis zum Jahre 1956, als im Zuge der Entstalinisierung in Jugoslawien „Goli otok“ und „Sveti Grgur“  in Haftanstalten mit merklich weniger rigiden Haftbedingungen umgewandelt wurden, gingen insgesamt 55.664 – registrierte – Häftlinge aus allen jugoslawischen Teilrepubliken durch diese Gulags. Von diesen waren in Strafprozessen insgesamt 16.280 Häftlinge – 15.173 Männer und 9.128 Frauen – verurteilt worden. Der weitaus grössere Anteil rekrutierte sich aus Opfern von „Verwaltungsverfahren“ (ohne Rechtsschutz), und aus willkürlich Verhafteten. Zwischen 3.000 und 3.800 Häftlinge insgesamt (Männer und Frauen) sollen in den beiden Gulags verstorben sein. Die genauen Zahlen der Insassen und der Opfer dieser Gulags lassen sich, nach Meinung seriöser Historiker, nicht ermitteln, da Akten dazu vernichtet wurden. 

 

Zu Jahresbeginn  1950  wurden die ersten weiblichen Verurteilten nach „Sveti Grgur“ verbracht: Serbinnen aus Belgrad und Umgebung: Ženi Lebl (später „Jenny“ Lebl, geb. 1927 in Aleksinac/Serbien – gestorben 2009 in Israel),  Jüdin, die sich aber als „Serbin jüdischer Abstammung“ (aus einer gemischt sefardisch-aschkenasischen Familie)  deklarierte, war am 28. April 1949 verwaltungsrechtlich wegen „Beleidigung Jugoslawiens und seiner Führung“ zu Zwangsarbeit verurteilt worden: Ihre Erinnerungen daran schrieb sie 1986, aus dreissig Jahren zeitlicher Distanz nieder, aber zur Veröffentlichung (1990) musste sie erst von ihren israelischen Freunden gedrängt werden. Ihr Buch trägt den Titel Weisses Veilchen – ein Witz, der mich zweieinhalb Jahre kostete (Ljubičica bela – Vic dveipol godine težak). „Ljubičica bela“ ist der Anfang eines zu Lebzeiten Titos (bis 1980) in ganz Jugoslawien verbreiteten Kinderliedes zu Ehren von Josip Broz Tito: „Genosse Tito, weisses Veilchen – Dich liebt die Jugend ganz Jugoslawiens“ (Anm.d.Verf.: das weisse Veilchen, botanisch Viola sororia, ist eine seltene Unterart der Veilchengewächse). Jenny Lebl, Journalistin der Tageszeitung „Politika“ (Belgrad), persiflierte in einer Unterhaltung in der Redaktion diesen Text und spielte mit  „weisses Veilchen – 100 Kilo schwer“  auf den korpulenten Marschall Tito an. Ihr Kollege denunzierte sie dafür. Sein Motiv: er wollte die ausgeschriebene Position als Auslandskorrespondent in Paris, Jenny Lebl hatte sich ebenfalls dafür beworben; aber mit der Denunzierung war die Konkurrentin aus dem Rennen – verlässlich, denn sie wurde noch am gleichen Tag von der Geheimpolizei (UDBA – Staatssicherheitsdienst) verhaftet. Die mehrstündigen Verhöre – immer nach Mitternacht, immer im Stehen, bis Schwindel oder Schlaf sie übermannten – gab die Journalistin in einer beklemmenden Schilderung dieser Tortur wieder. Das Urteil erging am 28. April 1949, „auf den Tag genau vier Jahre nach ihrer Flucht aus Berlin, aus dem dortigen Gestapogefängnis“, wo sie als Zwangsarbeiterin in einer Fabrik wegen Sabotage und „Wehrkraftzersetzung“ zum Tod verurteilt, auf die Vollstreckung wartete, aber flüchten konnte. Jenny Lebls Mutter und Grossmutter waren 1942 aus dem Belgrader Juden-Sammellager „Sajmište“ (die alte Anlage der „Belgrader Messe“) in dem von Dr. Harald Turner (dem Chef der Zivilverwaltung in Serbien) aus Berlin angeforderten Giftgasbus liquidiert worden. Im Juli 1942 war „Belgrad judenfrei“, wie Turner dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) meldete. Jenny, 1941 von der deutschen Militärverwaltung in Serbien zur Zwangsarbeit abkommandiert, wurde auch 1949 wieder zur Zwangsarbeit verurteilt – zu Erdaushebungen bei Baustellen in der Umgebung der Stadt und an der Donau. Die 1949 Verurteilen wurden 1950 nach “Sveti Grgur“ verlegt, um sich ihr Gefängnis selbst aufzubauen.

 

Die Fortsetzung dieses Beitrags folgt in DAVID Heft 143, Chanukka 5785/Dezember 2024.

 

Anmerkung

1 Martin Previsic, IB-Emigration: 172 HISTORIJSKI ZBORNIK GOD. LXV (2012), br. 1, str. 171–186.