Hedwig Wingler
Karin Meesmann: Pál Ábrahám. Zwischen Filmmusik und Jazzoperette.
Hollitzer Verlag, Wien 2023.
551 Seiten. Euro ,00.-
ISBN
Das Leben des Komponisten Pál Ábrahám – seit 1929: Paul Abraham – währte von 1892 bis 1960. Karin Meesmanns Buch ist kein „fotografisches Porträt“, sondern, mit der Musik im Fokus, eine Schau auf die Epoche und ihre Personen: Komponisten wie Emmerich (Imre) Kálmán, Franz (Ferenc) Lehár, Paul Lincke, Robert Stolz, und auf Librettisten, Agenten, Verleger, Publikum, auf Zeitbezüge.
Am 2. November 1892 wurde Paul Abraham in Apatin geboren, einer Stadt zwischen Donau und unterer Theiss, damals im Königreich Ungarn, heute in Serbien. Er starb am 6. Mai 1960 in Hamburg an der Elbe, wohin er 1956 aus New York kam. Ab 1933 bestimmte die Politik die Stationen des Komponisten; freie Wahl war dadurch eingeschränkt.
Der Vater von Paul Abraham war Geschäftsmann, den vierjährigen Sohn liess seine musikalische Mutter bereits Klavier spielen. Der Fünfzehnjährige zog 1907 an die Musikakademie nach Budapest. Dort blühte das Musikleben, von der Oper über die Operette und den afroamerikanischen Jazz bis zum Verbunkos, damals Zigeunermusik genannt. In Notenbeispielen zeigt die Autorin Parallelen zu Stilmerkmalen von Verbunkos und Jazz im Werk von Paul Abraham.
Schon im Ersten Weltkrieg hatte der junge Komponist Erfolge. Seine in Budapest 1928 aufgeführte erste Jazz-Operette „Zenebona“ bekam ungarnweit Beifall, in Wien wurde sie unter dem Namen „Spektakel“ am Johann-Strauss-Theater aufgeführt. Paul Abraham komponierte auch Musik für den Tonfilm. Das Aufblühen des Kinos begünstigt seine Filmmusik, so im ersten Ufa-Ton- und Sprech-Film „Melodie des Herzens“. Der Ufa-Produzent Erich Pommer und der Künstleragent Sándor Marton trugen wesentlich zum Erfolg von Paul Abraham bei. Von den etwa 20 Filmen, zu denen Abraham die Musik schrieb, wurde „Glück über Nacht“ im Januar 1933 uraufgeführt. Die Liedtexte stammten von Robert Gilbert, einem marxistisch orientierten Texter. Der Tonfilm-Schlager „Ich kauf` mir `ne Rakete“ griff darin die heimliche – durch den Friedensvertrag von Versailles verbotene – Aufrüstung der deutschen Reichswehr auf.
Die Jahre 1930 bis 1932 beweisen, dass „noch Wunder geschehen können“: Die drei Operetten „Viktoria und ihr Husar“ (Budapest und Leipzig – danach ein Welterfolg), „Die Blume von Hawaii“ (Leipzig) und „Ball im Savoy“ (Berlin, Schauspielhaus) etablieren den Ruf des Komponisten endgültig. Die „Blume von Hawaii“ war sofort an 85 deutsche Bühnen verkauft und wurde zur meistgespielten Jazzoperette der Weimarer Republik. Die Schauplätze sind „international“.
Die Nazi-Diktatur war für Paul Abraham der Anlass, Deutschland 1933 zu verlassen. Über Wien emigrierte er nach Budapest, das er verliess, als Ungarn 1938 antisemitische Gesetze erliess. – Hatte Paul Abraham als achtjähriges Kind noch in der katholischen Maria-Himmelfahrt-Kirche in Apatin auf der Orgel gespielt, so ging er jetzt wegen seiner jüdischen Herkunft ins Exil. In Abbazia/Opatija verbrachte Paul Abraham im Jahr 1938 einige erfolgreiche Monate mit Aufführungen. 1939 emigrierte er nach Paris, von dort 1940 über Bilbao in Spanien nach New York. Seine Frau Sári (Charlotte) folgte ihm nicht ins Exil, sie traf ihn 1956 in Hamburg wieder.
In New York zeigten sich bei dem mit Syphilis Infizierten bereits Symptome, wie Wahnideen. Die musikalischen Erfolge für den „Zugewanderten“ „lassen zu wünschen übrig“. Trotzdem gab es Treffen mit anderen Exilierten, etwa Robert Stolz und Robert Gilbert. Im Jahr 1956 folgte die Rückkehr nach Europa, in eine Klinik in Hamburg, wo Paul Abraham im Mai 1960 stirbt. Er war staatenlos, auf eigenen Wunsch kein U.S.-Bürger. Das kommunistische Ungarn will ihn nicht. Durch Vermittlung von Theodor Heuss, damals Bundespräsident, erhält er „Asyl“ in Deutschland. Dort kann er die Erfolge seiner Kompositionen nicht mehr wahrnehmen.
Die Autorin, Musikpädagogin und -historikerin bringt in 14 Kapiteln sehr viele Anmerkungen und ungefähr 250 Abbildungen in s/w und in Farbe, dazu 70 Seiten Literaturangaben und ca. 600 Namen im Personenverzeichnis. Für Themen, die nur mittelbar die Hauptperson betreffen, wäre mehr redaktionelle Bearbeitung vor allem für die Lektüre von Laien hilfreich gewesen. Dennoch kommt Karin Meesmann mit dem Projekt einer wissenschaftlichen „Gesellschaftsbiographie“ im Sinne von Siegfried Kracauer zum guten Ende; das Werk bietet aufgrund seiner Details viel Stoff für weitere Forschungen.