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Szombathely – jüdische Gemeinde und jüdischer Friedhof

Michael Bittner

Bei den Römern hiess die Stadt Savaria, deutsch Steinamanger, ungarisch Szombathely[i] – hat das etwas mit dem Schabbat zu tun? Mein Freund Árpád ist sich nicht sicher.

 

[i] Ungar. Szombat, dt. Samstag; vgl. regional: Murska Sobota; Anm.d.Red.

Inhalt

Jedenfalls war Szombathely für Juden lange Zeit „Sperrgebiet“, nur einzelne privilegierte Familien durften sich vor 1867 hier niederlassen. Dafür gab es in der Umgebung, vor allem auf den Besitzungen der Fürsten Batthyány, jüdische Siedlungen, ihr Zentrum war Rechnitz (ung. Rohonc). In der Stadt gab es hingegen nach 1871 zwei jüdische Gemeinden, die orthodoxe existierte bis 1956. Diese kaufte die Synagoge in der Thököly Strasse 48, ein Gebäude, das heute in Privatbesitz steht und massiv umgebaut wurde.[i]

 

Die neologe Synagoge, ab 1871 durch den Wiener Architekten Ludwig Schöne (1845–1935) im maurischen Stil errichtet, ist als Gebäude erhalten, wird aber seit Mitte der 1970er Jahre als Konzerthalle verwendet.[ii] Schöne war ein vielbeschäftigter Baukünstler des Historismus, der vor 1918 eine grosse Anzahl von Wiener Zinshäusern errichtete, aber auch Grossaufträge in Ungarn ausführte.[iii] Die kleine jüdische Nachkriegsgemeinde von Szombathely konnte den Bau in der kommunistischen Zeit nicht erhalten, daher ging dieser in den Besitz der Stadtgemeinde über, die ihn prächtig restauriert hat.

 

Die ehemalige israelitische Grundschule wurde in ein Haus der jüdischen Kultur umgebaut; hier finden Ausstellungen statt. Allerdings: bei der Volkszählung 2001 gaben nur noch 64 Personen ihre Zugehörigkeit zur jüdischen Religion bekannt.[iv]

 

Der Friedhof wurde 1836 begründet und 1873 nach der Spaltung des ungarischen Judentums erweitert:1880 kam ein orthodoxer Teil dazu, durch eine Mauer vom neologen Areal abgetrennt. Das letzte orthodoxe Begräbnis fand 1975 statt, seither gibt es nur noch die neologe Gemeinde.[v] Der Friedhof wird heute noch benützt, die Informationen im Internet sind landestypisch dürftig, die Anlage fehlt auch in der Wikipedia-Liste.[vi] Das Tahara-Haus ist  erhalten und viele qualitätvolle Grabdenkmäler aus dem frühen 19. Jahrhundert zieren das „Haus des Lebens“, etwa eine Stele mit vollplastisch skulptiertem Schwan.[vii] Wie bei neologen Friedhöfen üblich, sind die Gräber bunt durchmischt: die Ausrichtung wurde pragmatisch gehandhabt, das heisst, nicht immer sind die Grabstätten nach Jerusalem orientiert, und sogar Selbstmörder oder Frauen, die im Kindbett gestorben sind, wurden nicht räumlich separiert bestattet. In neuester Zeit gibt es Kerzen und Blumen auf den Gräbern, eine Übernahme aus der christlichen Grabpflege-Tradition, die man auch in anderen europäischen Ländern beobachten kann. Anders im orthodoxen Teil: innerhalb der weissen Mauern im Art Deco-Stil herrscht Ordnung, aber auch Fotografierverbot. Dieser Teil des Friedhofs wird von amerikanischen Freiwilligen gepflegt und ist in tadellosem Zustand, er ist auch immer versperrt. Szombathely war der letzte Stützpunkt der faschistischen Diktatur in Ungarn, daher auch Ziel alliierter Bombenangriffe. Diesen fiel der nahegelegene Bahnhof zum Opfer; einige Sprengkörper fielen auch aufs Friedhofsgelände, man kann die Schäden heute noch sehen (Abbildung 2).

 

Der Holocaust zerstörte auch hier die jüdische Gemeinde. Am 19. März 1944 richteten die Faschisten ein Ghetto ein, bereits am 4. Juli wurde fast die gesamte jüdische Bevölkerung deportiert: laut den Recherchen von Yad Vashem wurden 5.880 Menschen ermordet,428 überlebten, eine Person wurde wahrscheinlich ebenfalls ermordet, zwei fielen im Militärdienst, das Schicksal vom 215 Menschen ist bislang ungeklärt.[viii] Der Schock lähmte eine ganze Generation, nur langsam besann man sich wieder darauf, jüdisch zu sein, eignete sich das religiöse Wissen an, holte nacheinander drei Rabbiner, die alle erfolglos wieder abreisten.

 

Die heute 60-Jährigen bauten die neologe Gemeinde wieder auf. Massgeblich beteiligt waren Sándor Márkus, der frühere Kultusvorstand, und Tibor Spiegler, der Sohn des Shoah-Überlebenden Elemér Spiegler, der 2019 mit 106 Jahren verstarb.[ix] György Polgár veröffentlichte 2022 in der Jüdischen Allgemeinen einen Artikel mit dem Titel Phönix aus der Asche – ein treffender Ausdruck für die Aufbruchsstimmung unter den Juden im ganzen Land.[x] Die jüngere Generation möchte ihren „alten Platz in der Stadtgesellschaft zurückerobern“, schrieb Polgár treffend.

 

Ein Beispiel ist die Ausstellungstätigkeit: tausende Menschen sahen Eye to Eye, die Fotoausstellung, von Krisztina Kelbert kuratiert.[xi] Die Aufnahmen stammen aus dem Archiv der Fotografenfamilie Knebel, deren 12.000 Glasnegative die Zeitläufte überstanden haben.[xii] Sie zeigen in 38 Stationen über 430 Menschen, jüdische Bürger und Strassenjungen, Geschäfte, Hochzeiten, kulturelle Aktivitäten und geben einen lebhaften Eindruck vom jüdischen Leben, wie es einmal war. Eine ausgesprochen interessante, berührende Ausstellung, zu der ein sehr ausführlicher Katalog erschienen ist, der auch über die Geschichte der jüdischen Gemeinde informiert.

 

Beim Lokalaugenschein ist der Betsaal am Batthyany-Platz gut besucht, es wird die Haman-Geschichte szenisch gelesen, mit den traditionellen Kommentaren – inklusive Klopfen, Lärmen und Buhrufen. Es gibt auch Hamantaschen und Wein, ein unterhaltsames Beisammensein, man traf sich vor der Aufführung von Anatevka im städtischen Theater, zu dem aus mehreren westungarischen Städten Autobusse mit jüdischen Gemeindemitgliedern gekommen waren.

 

Die Stadt Szombathely ist eine herbe Schönheit, sie erschliesst sich dem Besucher nicht sofort wie die attraktiveren Städte Ungarns, aber die Energie ihrer Bewohner macht sie interessant. Ihrem Ziel, wieder eine Rolle im öffentlichen Leben zu spielen, kommt die neologe Gemeinde mit grossem Eifer immer näher.

 

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Abbildung 1: Grabsteine am jüdischen Friedhof in Szombathely.

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Abbildung 2: Die neologe Abteilung am jüdischen Friedhof in Szombathely.

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Abbildung 3: Gräber der Familie Szende am jüdischen Friedhof in Szombathely.

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Abbildung 4: Eye to Eye, Ausstellung in Szombathely, 2024.

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Abbildung 5: Grabstein von Ella Kardos am jüdischen Friedhof in Szombath

Alle Abbildungen: I. Bittner, mit freundlicher Genehmigung.

[xii]Kelbert, Krisztina: Eye to Eye. With the History of Szombathely's Jewish Community (Szombathely 2016), S. 15