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Das Beste, was ein jüdischer Arzt geben konnte Max Bermann erinnert sich an Meran

Sabine Mayr

Die Familie Bermann zählt zu den Gründern der jüdischen Gemeinde Meran in den 1870er Jahren. 

Inhalt

Die Familie Bermann prägte die Entwicklung des Kurortes mit den koscheren Hotels Starkenhof, Bellaria und Ortler sowie dem zuletzt von Josef  Bermann geleiteten Kurhaus Waldpark. Unter den faschistischen "Rassegesetzen" wurde die Familie vertrieben, ihr beträchtlicher Besitz beschlagnahmt, versteigert, geraubt. Die Hotelbetreiberin Terka Bermann wurde 1943 aus Meran deportiert.  Im Mai 2024 besuchte Max Bermann, der Sohn Josef Bermanns, erstmals Meran.

 

DAVID: Welche Erinnerungen haben Sie an Meran?

Max Bermann: Ich war zwei Jahre alt, als ich Meran verliess, daher kann ich ehrlich gesagt nicht behaupten, ich hätte klare Erinnerungen an die Zeit dort. Aber meine Familie und auch Verwandte, die ich in Round Hill Lodge in New York State traf, in einem Hotel, das mein Onkel Otto Bermann in den U.S.A. nach dem Krieg gegründet hatte, sprachen von der schönen Stadt. Meran war ein unter jüdischen Familien sehr beliebter Ferienort. Hier wurde mein Vater 1898 geboren, als es noch zu Österreich gehörte, und hier lernten sich mein Vater und meine Mutter kennen. Sie verliebten sich hier und heirateten 1935. Daher war Meran für mich ein magischer Ort. Als ich vor einem Jahr entschieden habe, dem Jüdischen Museum in Meran ein Porträt meines Grossvaters Max Bermann zu schenken, dachte ich mir: „Nun werde ich mir die Wirkungsstätte meines Grossvaters und meines Vaters auch einmal ansehen müssen.“

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Das Kurhaus Waldpark der Familie Bermann in Meran, Prospekt, vor 1918. Stadtarchiv Meran, mit freundlicher Genehmigung.

 

DAVID: Was haben Ihr Grossvater und Vater in Meran gemacht?

Max Bermann: Beide waren Ärzte. Mein Grossvater Max Bermann besass und leitete das Sanatorium Waldpark und mein Vater arbeitete nach seinem Studium der Medizin in Wien mit ihm in Meran. Als mein Grossvater im Jahr 1933 starb, wurde mein Vater leitender Arzt im Sanatorium Waldpark. Mein Vater war Max’ zweiter Sohn. Alle Geschwister meines Vaters lebten in Meran und gründeten dort in verschiedenen Branchen Unternehmen. Über Max‘ ersten Sohn Wilhelm weiss ich wenig, nur, dass er aufgrund von Wunden, die er sich im Ersten Weltkrieg zugezogen hatte, und späteren Komplikationen gestorben ist. Nach meinem Vater kamen Fritz, Fred oder Friedrich, Agrarwissenschaftler und Chemiker mit Unternehmen in Meran und Mailand, dann meine Tante Kate oder Käthe und als jüngster Bruder schliesslich René, auch Otto genannt, der wie andere Angehörige der Familie Bermann in der Hotellerie tätig war und in den U.S.A. mehrere Hotels auf dem Land besass.

 

DAVID: Max Bermann war nicht nur ein hochgeschätzter Kur­arzt in Meran, sondern auch ein wichtiges Mitglied der jüdischen Gemeinde. Welche Erinnerungen haben Sie an Ihren Grossvater und das Sanatorium Waldpark?

Max Bermann: Ich kann mich an nicht sehr viel erinnern, weiss aber, dass seine Behandlung sich vor allem an Patienten und Patientinnen mit Lungenkrankheiten richtete, mit Tuberkulose, Asthma, chronischer Bronchitis oder Emphysemen. Was mich immer ein bisschen belustigte, war die Traubenkur, da ich Trauben immer mit Wein in Verbindung brachte und mir dachte: „Ok, welch nette Art Kranke zu behandeln, indem man ihnen Wein zu trinken gibt und dann weiteren Wein, damit sie sich besser fühlen.“ Die Traubenkur war eine besondere Kur hier in Meran und anscheinend auch erfolgreich, denn Kranke wurden wieder gesund.

 

DAVID: Erinnern Sie sich an Ihre Grossmutter Caroline Bermann?

Max Bermann: Ich lernte meine Grossmutter Caroline erst in New York kennen, wo sie aber nicht mit uns lebte und ich sie auch nur selten sah. Sie war damals schon älter und kränklich. Ich glaube, sie hatte ein schwaches Herz. Sie war Sängerin und Ottos Sohn, mein Cousin Mark Bermann, der Klavier spielt, musizierte mit meiner Grossmutter Caroline. Er nahm auch Lieder auf, die meine Grossmutter geschrieben hatte. Ich erinnere mich an sie als eine sehr feine und freundliche Person. Mit meiner Schwester und mir spielte sie manchmal Karten, aber ich habe nicht sehr viel Zeit mit ihr verbracht.

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Ordinationszimmer im Kurhaus Waldpark der Familie Bermann in Meran. Prospekt: Stadtarchiv Meran, mit freundlicher Genehmigung.

 

DAVID: Wo lebten Ihre mütterlichen Grosseltern Anna und Max Blumenfeld? 

Max Bermann: Meine Grossmutter Anna Blumenfeld muss auch mit uns in Meran gelebt haben, da mein Grossvater Max Blumenfeld auf dem jüdischen Friedhof in Meran begraben liegt. Max Blumenfeld leitete in Berlin ein Waisenhaus für jüdische Jungen. Die Stelle hat er von seinem Schwiegervater übernommen. Max Blumenfeld litt an einer Krankheit, von der ich nichts Genaueres weiss. Er brachte seine Familie wegen der Krankheit nach Meran.

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Sonnen- und Luftkur auf der Terrasse im Kurhaus Waldpark der Familie Bermann. Stadtarchiv Meran, mit freundlicher Genehmigung.

 

DAVID: Welche Erinnerungen über das jüdische Leben in Meran erfuhren Sie später durch NS-Verfolgte?

Max Bermann: Ich muss sagen, dass meine Familie und viele andere jüdische Familien, die mit meiner Familie in New York in Verbindung waren – in New York lebten ja sehr viele jüdische Familien –, nicht gern über die Vergangenheit sprachen. Vielleicht war es zu schmerzhaft, oder vielleicht habe ich als Junge auch zu wenig darauf geachtet. Ich hörte, wie sie von anderen Orten erzählten, an denen sie ihren Urlaub verbrachten, von Wien, St. Moritz oder anderen Städten, aber über Meran kamen kaum Details. Jahre lang war ich auch nicht zuhause. Im Alter von 12 bis 17 Jahren besuchte ich die Highschool in New Hampshire, im Alter von 17 bis 21 war ich im College in Ohio und im Alter von 21 bis 25 war ich an der Medizinischen Universität in Buffalo, New York. Viele Menschen, die ein Trauma erlebt haben, möchten nicht darüber sprechen. Und dies war auch bei meiner Mutter der Fall. Sie sprach nie mit mir über den Krieg, ausser dass sie erklärte, dass sie aufgrund der Kriegsjahre ihren Glauben an G‘tt verloren habe. Ich kann mich selbst an keine konkreten Ereignisse erinnern, nur, dass ich einmal möglicherweise vor dem Eingang zum Sanatorium Waldpark nahe an einem Tor stand, hinter dem sich ein grosser weisser Hund befand. Das ist meine einzige persönliche Erinnerung an Meran. Aber das Portrait meines Grossvaters ist ein Erinnerungsstück aus Meran. Wir haben auch noch deutsche Medizinbücher, die mein Vater und vermutlich auch mein Grossvater konsultiert haben, und einen silbernen Kiddusch-Becher aus Meran bewahrt.

 

DAVID: Welche Sprache haben Sie in Meran gesprochen?

Max Bermann: Ich sprach Deutsch und Italienisch. Als ich im Alter von acht Jahren nach New York City kam, lernte ich in sechs Monaten Englisch und nach zehn Monaten hatte ich sowohl Deutsch als auch Italienisch vergessen.

 

DAVID: Was erlebte Ihre Familie ab Herbst 1938, als in Italien die Rassengesetze eingeführt wurden?

Max Bermann: Mein Vater konnte mit seiner Mutter Caroline und seinen Geschwistern 1939, als ich gerade ein Jahr alt war, in die U.S.A. fliehen. Meine Mutter, meine Schwester und ich sollten meinem Vater nachfolgen, denn die Bestimmungen zur Einwanderung in die U.S.A. liessen es nicht zu, ehe sich mein Vater in New York als Arzt etabliert hatte. Als es so weit war, verhinderten der Krieg und der Kriegseintritt Italiens unseren Nachzug in die U.S.A. und wir kamen aus Mailand, wohin wir aus Meran geflüchtet waren, vorerst nicht mehr weg. Mein Vater sprach nie über die Schwierigkeiten, welche seine Familie und auch die jüdische Gemeinde damals zu bewältigen hatten. Ich erinnere mich an keine Äusserung meiner Familie über jene Zeiten. 

 

DAVID: Wie kam Ihre Mutter mit dieser Lage zurecht?

Max Bermann: Meine Mutter beherrschte mehrere Sprachen und arbeitete als Sekretärin und Übersetzerin. Ich bin mir nicht sicher, ob sie in Meran schon gearbeitet oder nur mit ihren Eltern geurlaubt hatte, jedenfalls war sie in Mailand aufgrund ihrer guten Sprachkenntnisse in Deutsch, Italienisch, Polnisch, Französisch und Englisch Chefsekretärin, und ich glaube, sie arbeitete als Übersetzerin sogar für das deutsche Heer. Zwei Jahre lang lebten wir in Mailand. Unsere Lage wurde aber zunehmend gefährlich und 1943 gelang es ihr, von ihrem Vorgesetzten Reisepapiere zu erhalten, die für eine andere Familie vorgesehen waren, die wir aber nutzen konnten, um Mailand sicher zu verlassen. Wir lebten darauf in einem kleinen Dorf nördlich von Mailand, an dessen Name ich mich nicht erinnern kann. Ich glaube, wir wohnten in einem Haus, das einem ihrer früheren Arbeitgeber gehörte. Es war kein Deutscher, sondern ein anderer Arbeitgeber, für den sie zuvor als Chefsekretärin gearbeitet hatte. Dort lebten wir, bis der Krieg vorbei war. Ich kann mich erinnern, dass wir in einem Haus am Eck einer Piazza wohnten, dass ich in die Schule ging und dass meine Schwester und ich sonntags immer zur Messe gingen. Meine Mutter kam mit ihrer Mutter nicht mit zur Messe. Sie erklärten uns, dass meine Grossmutter an Arthritis leide und nicht gehen könne, und dass meine Mutter daher bei ihr bleiben müsse. Ich glaube, meine Mutter arbeitete mit italienischen Partisanen zusammen und wurde von ihnen als Kurier eingesetzt. Um unsere Ortschaft gab es immer wieder Truppenbewegungen. Deutsche Truppen kamen, als die Alliierten vorrückten, und wenige Tage später zogen italienische Soldaten nach. Dass sie nicht aufeinandertrafen, ist Personen wie meiner Mutter zu verdanken, die Informationen weiterleitete, sodass italienische Soldaten die Stadt sicher betreten konnten. Sie war sehr oft abwesend und strickte andauernd, Pullover und anderes für die Ortsbewohner, was unser Durchkommen sicherte.

 

DAVID: Eine grossartige Leistung.

Max Bermann: Sie war eine wundervolle, sehr intelligente Person und vollbrachte Bewundernswertes, als sie es schaffte, uns vor der Verfolgung zu schützen und die Familie zusammenzuhalten. Sie achtete sehr darauf, unsere jüdische Identität nicht zu verraten. Daher sprachen wir damals nie darüber, dass wir Juden waren. Von unserer jüdischen Herkunft erfuhr ich erst in den USA. Meine Mutter respektierte immer, dass mein Vater die traditionellen jüdischen Feiertage einhalten wollte, und führte ein sehr ehrbares Leben, aber mein Vater war nicht orthodox. Ich würde sagen, wir waren reformierte Juden. Mein Vater wuchs selbst in einer religiösen Familie auf, die nicht streng orthodox war, aber die traditionellen jüdischen Feiertage einhielt. Ich feierte meine Bar Mitzwa, als ich 13 war. Die Verwandten der Familie Bermann galten in den U.S.A. als liberale Juden. Möglichweise durch Partisanen kam meine Mutter auch mit der Jüdischen Brigade des britischen Heeres in Kontakt. Ich erinnere mich an einen Soldaten der Jüdischen Brigade, der uns bei Kriegsende geholfen hat, unsere Weiterfahrt nach Neapel zu organisieren, von wo wir mit dem Schiff Richtung New York wegfuhren. Ich war damals sehr jung und erinnere mich nicht an spezielle Namen, aber ich glaube, man nannte uns „Bermanni“. Grossmutter Anna Blumenfeld kam nicht mit uns, sie setzte mit ihrem Sohn Fritz Blumenfeld nach Israel über. Mein Onkel Fritz Blumenfeld ging 1939 nach Palästina, wo er als technischer Ingenieur im Kibbutz En Charod lebte und die technische und maschinelle Ausstattung des Kibbutz leitete, hat mir später sein Sohn Omri mitgeteilt. Anna folgte ihm 1946. Wir kamen 1946 in den U.S.A. an. Mein Vater und meine Mutter hatten eine sehr gute Beziehung, aber über sein Leben mit meiner Mutter vor der Flucht aus Meran sprach er nie mit mir.

 

DAVID: Wie schlug sich Ihr Vater Josef Bermann in New York durch?

Max Bermann: Mein Vater kam, wie gesagt, 1939 nach New York. Um seine Familie nachziehen lassen zu können, musste er zunächst die Voraussetzungen dafür schaffen, um in den U.S.A. als Arzt arbeiten zu dürfen. Er hatte ein ausländisches Diplom und musste daher sämtliche Prüfungen bestehen und ein eigenes Training absolvieren, um als Arzt anerkannt zu werden. Dies dauerte einige Zeit und das ist auch der Grund, weshalb es nicht möglich war, gleich mit meinem Vater nach New York zu reisen. Mein Vater war Allgemeinmediziner. Bei seiner Beerdigung in der Stephen Wise Free Synagoge in New York City im Jahr 1966 sprach der Rabbiner in der Synagoge davon, dass er das Beste gab, das ein jüdischer Arzt nur geben konnte. Er hat von seinen Patienten und Patientinnen nur eine geringe Bezahlung verlangt und behandelte auch Patienten, die nicht zahlen konnten. Noch in den 1950er- und 1960er-Jahren nahm er für eine Visite gerade einmal fünf Dollar an. Seine Patienten liebten ihn und er war ein sehr guter Arzt, der alles Mögliche behandelte und sich auch andauernd fortbildete, indem er neueste medizinische Zeitschriften las. Mein Vater war ein sehr sorgsamer, guter Arzt. Er liegt neben meiner Mutter und anderen Mitgliedern der Familie im Westchester Hills Cemetery in Hastings-On-Hudson in New York begraben.

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Dr. Max Bermann und Dr. Josef Bermann bei der Visite. Foto: Max Bermann, mit freundlicher Genehmigung.

 

DAVID: Sie sagten, Sie selbst besuchten die Medizinische Universität in Buffalo?

Max Bermann: Ja, und nach meinem Medizinstudium absolvierte ich ein Praktikum im Maimonides Hospital in Brooklyn. Nach einem zusätzlichen Jahr Praktikum, ebenfalls in Brooklyn, kam ich während des Vietnamkriegs zur Navy. Solange ich Medizin studierte, wurde ich im Militärdienst zurückgesetzt. 1965 wurde ich an die Naval Air Station in Maine versetzt und ich hatte Glück, denn ich musste an keinen auswärtigen Einsätzen teilnehmen. Nach dem Militärdienst zog ich nach Boston, Massachusetts, wo ich als Allgemeinmediziner begann und mich sodann zum Radiologen ausbildete. Ich fühlte, dass meine eigene Art des Denkens und der Erinnerung eine gute Voraussetzung dafür war. Ich führte mit meinen Händen gerne spezielle radiologische Verfahren aus wie die Anfertigung von Arterio- und Arthrogrammen oder die Injektion von Kontrastmitteln an verschiedenen Körperstellen und Gelenken. Das gefiel mir und ich habe das auch lange Zeit hindurch gemacht. Ich glaube, dass ich dabei recht gut war.

DAVID: Wo steht Ihre Familie politisch?

Max Bermann: Die Politik der U.S.A. versucht nach rechts zu rücken und in vielen Ländern vollziehen sich ähnliche Entwicklungen. Der Wandel gehört zum Leben und Menschen versuchen ihre Träume von einem besseren Leben zu verwirklichen, aber dabei werden auch ernsthafte Fehler gemacht. Ich, meine Eltern und viele mir bekannte jüdische Familien sind liberale Demokraten, aber einige jüdische Familien in den U.S.A. vertreten auch eine konservativere politische Meinung.

DAVID: Vielen Dank für das interessante Gespräch!

 

 

Eine Fortsetzung zur Geschichte der Familie Bermann in Meran folgt in DAVID Heft 143, Chanukka 5785/Dezember 2024.

 

 

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Die beiden Max Bermanns im Jüdischen Museum Meran. Foto: Jüdisches Museum Meran, mit freundlicher Genehmigung.