Der Künstler Fishel Rabinowitz hat nicht weniger als neun Konzentrations- und Arbeitslager der Nazis überlebt und konnte kürzlich sogar seinen 100. Geburtstag feiern. Eine Begegnung mit einem aussergewöhnlichen Menschen in seinem Tessiner Wohnort Locarno.
Fishel Rabinowitz wohnt nur einen Steinwurf entfernt vom vielleicht bekanntesten Platz der Schweiz, der grossen Piazza im Touristenort Locarno. Dort werden im Rahmen des grössten Schweizer Filmfestivals im August jeweils bei gutem Wetter die neuesten Streifen gezeigt. Für Fishel Rabinowitz ist diese Nähe nichts Besonderes, er meint bloss: „Ich bekomme es vor allem als Lärm bis spät in die Nacht mit“. Dass sich der Künstler nicht für Filme interessiert, hat vielleicht auch damit zu tun, dass er selbst in seinem langen Leben Dinge erlebt hat, die Stoff böten für unzählige Filme oder sich kaum verfilmen liessen.
Rabinowitz kommt 1924 im polnischen Sosnowiec als eines von zehn Kindern auf die Welt. Die Eltern sind traditionell-orthodox, ein Vorfahre war einst ein berühmter Rabbiner. Wie in den meisten Familien üblich wird der Schabbat respektiert, man isst nur koscher. Der Vater stellt Seife her und verkauft sie – etwas, was er auch noch machen wird, nachdem Deutschland am 1. September Polen überfallen hat und damit für Millionen von Jüdinnen und Juden die Vernichtung beginnt. Nach 1939 produziert Familie Rabinowitz die Seife allerdings nur noch heimlich, nachts, die Besatzer sollen nichts davon mitbekommen, was schliesslich aber doch passiert.
1941 wird der junge Fishel als Erster seiner Familie deportiert. Noch ahnt niemand, dass er, als einer von nur vier Menschen einer insgesamt 35-köpfigen Familie, das Grauen überleben wird: Neben ihm selbst sind das zwei seiner Brüder sowie ein Cousin.
Warum er überlebt, obwohl er körperlich nicht der Stärkste der Familie ist, bleibt Fishel selbst ein Rätsel. Eine Erklärung hat er immerhin: „Ich hatte leuchtend rotes Haar und wurde von den Deutschen deshalb nur `Rotschopf` genannt. Sie fanden mich lustig, vielleicht deshalb haben sie mich menschlicher behandelt als andere Häftlinge.“ Rabinowitz muss hart arbeiten, Eisenbahnschienen verlegen, Strassen bauen. Als gegen Ende des Krieges die Lager aufgelöst werden, weil die Wehrmacht überall auf dem Rückzug ist, beginnen auch für Fishel Rabinowitz die sogenannten Todesmärsche. Nach 55 Tagen kommt er völlig entkräftet und abgemagert im KZ Buchenwald an. Dort erlebt er im April 1945 die endgültige Befreiung durch die amerikanische Armee: „Ich hatte überlebt, im Gegensatz zu den meisten Mitgliedern meiner Familie. Doch die Bilder, die ich in jenen schrecklichen Jahren immer wieder sehen musste, werde ich nie vergessen, so alt ich auch werden mag.“
Der Überlebende kommt 1947 in die Schweiz und verbringt als Lungenkranker seine ersten Jahre in Davos. Nach seiner Heilung lässt er sich im italienischsprachigen Kanton Tessin nieder, wo er jahrzehntelang in einem Kaufhaus als Chef-Dekorateur arbeitet. Er heiratet und wird Vater eines Sohnes, doch das Erlebte lässt ihn nicht los. Er möchte es den nächsten Generationen weitergeben, aber Schreiben kommt für ihn nicht in Frage: „Ein Bruder von mir, der überlebt hat, ist nach Australien ausgewandert und hat dort ein Buch über seine schrecklichen Erfahrungen geschrieben, natürlich auf Englisch.“ Als Fishel bei einem Besuch jenes Bruders dieses Buch durchblättert, wird ihm klar: „Schreiben kann ich nicht, ich wüsste schon nicht, in welcher Sprache.“ Als kreativer Mensch findet er schnell eine andere, eigene Sprache: Die der Kaligraphie. Hier kommen ihm vielleicht sein religiöses Elternhaus und seine Kenntnisse der hebräischen Sprache entgegen, aber auch der Kabbala und der jüdischen Zahlenlehre, der Gematria: „So begann ich, mit den 22 hebräischen Buchstaben zu arbeiten.“ Schon als Dreijähriger hatte er damals, in Polen, Buchstaben aus den Gebetbüchern kopiert. Nun fällt ihm ein, dass er als Dekorateur Schaufenster mit der sogenannten Papierschneidetechnik gestaltet hatte und arbeitet mit sogenannten Papiercuts.
Sinnbildlich dafür etwa das Bild Biographie eines Überlebenden, das in seiner Wohnung an der Wand hängt, wie viele andere seiner Werke: Der erste Buchstabe, das Aleph, sitzt dort allein am oberen Bildrand und beobachtet, wie die anderen Buchstaben abgestürzt sind. Sieben Doppelbuchstaben hat der Künstler darin spiegelverkehrt dargestellt, gemäss der Kabbala ändert er so ihre Bedeutung: Aus Wissen wird Ignoranz, aus Stärke Sklaverei und aus Gnade Schändlichkeit. Für Fishel Rabinowitz wirkt das viel stärker als die eigentliche Darstellung von Gewalt, diese stumpfe die Menschen schnell ab und werde nicht mehr beachtet.
Welchen Stellenwert seine Kunst bald haben wird, zeigt sich 2010: Dann überreicht der damalige (und heutige) israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bei einer gemeinsamen Kabinettssitzung in Berlin der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel ein Werk von Rabinowitz – eine besondere Auszeichnung für die jahrelange Arbeit des Künstlers.
Rabinowitz hat im Nachgang von „9/11“ auch ein Kunstwerk gestaltet, das den Terrorangriff von 2001 thematisiert – weil für ihn klar ist, dass das Grauen und die Unmenschlichkeit leider nicht 1945 geendet haben. Darum sagt er: „Würde ich heute noch meiner Kunst nachgehen, dann hätte ich sicher auch nach dem 7. Oktober mich mit jenen schrecklichen Ereignissen auseinandergesetzt.“ Doch das Alter fordert auch beim unglaublich agil wirkenden 100-Jährigen seinen Tribut: „Seit einigen Jahren kann ich leider nicht mehr arbeiten, mir fehlt die Kraft dazu.“
Es wäre nicht Fishel Rabinowitz, würde er trotz seiner 100 Jahre keine Zukunftspläne schmieden: Für das geplante Shoah-Mahnmal der Schweiz, dass in der Hauptstadt Bern entstehen soll, wird er einen Entwurf einreichen. Denn auch der Schweiz, die nicht in die schrecklichen Ereignisse des Zweiten Weltkrieges hineingezogen wurde, stünde ein angemessenes Gedenken an die Shoah gut an, findet der Jubilar.
Nachlese
www.last-swiss-holocaust-survivors.ch
Alle Abbildungen: P. Bollag, mit freundlicher Genehmigung.