Ausgabe

Juden und das polnische Militär 1918–1939

Christoph Tepperberg

Inhalt

Christhardt Henschel: Jeder Bürger Soldat. Juden und das polnische Militär (1918–1939). (= Schriften des Simon-Dubnow-Instituts, Band 29)

Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2024.

503 Seiten, gebunden, 14 Abbildungen, 1 Karte, 11 Tabellen, Euro 73,95.- (Print), Euro 70,00.- (E-Book)

ISBN: 9783525370544 (Print); ISBN: 9783647370545 (E-Book)

 

Am 11. November 1918 war Polen nach 123 Jahren als selbstständiger Staat wiedererstanden: die Zweite Polnische Republik. Wie kaum eine andere Institution war die polnische Armee an der Gründung und Ausgestaltung dieses Staates beteiligt. Das vorliegende Buch befasst sich mit der komplexen Frage, ob und in welchem Masse Staatsbürger, die nicht der polnischen Mehrheitsgesellschaft angehörten (Deutsche, Juden, Ukrainer), Zugang zu den Streitkräften erhalten sollten und erhielten, wer Pole sei und wer als polnischer Soldat gelten könne. Das Spannungsverhältnis zwischen allgemeiner Wehrpflicht und dem Nationalisierungsanspruch der Armee trat im Umgang des Militärs mit seinen jüdischen Soldaten besonders deutlich zutage. Das Verhältnis war von Ablehnung und Kooperation, von Ausschluss und Inkorporation geprägt, was sich sowohl im militärischen Alltag und bei militärischen Konflikten als auch in der Erinnerungskultur widerspiegelte.

 

Der Autor bringt zunächst einen Rückblick auf die Rolle polnisch-jüdischer Militärs in der Zeit bis 1918, namentlich im Kościuszko-Aufstand 1794, in den Napoleonischen Kriegen, den polnischen Aufständen von 1830, 1848, 1863 und während des Ersten Weltkrieges. (S. 21-74)

 

Der nächste Abschnitt befasst sich mit der Entstehung der polnischen Armee und den ersten Jahren danach. Juden des aufgeteilten polnischen Territoriums (»Teilungsgebiete«) hatten bis 1918 als Soldaten für Russland, Österreich-Ungarn und Deutschland gekämpft. Nunmehr wurden Juden als polnische Staatsangehörige zu den polnischen Streitkräften eingezogen.

 

Der neue polnische Staat stand während dieser ersten Jahre in Grenzkriegen mit seinen (neuen) Nachbarn, namentlich im Polnisch-Ukrainischen Krieg 1918-1919 und dem Polnisch-Sowjetischen Krieg 1919-1921. Dabei ebnete das Misstrauen gegenüber Minderheiten den Weg zur gezielten Exklusion von Personen, die nicht als Teil des nationalen Kollektivs betrachtet wurden, bis hin zur Gewaltanwendung an vermeintlich nichtpolnischen Zivilisten.

 

Tradierte antisemitische Vorurteile waren auch im neuen Polen Realität, sind es zum Teil bis heute. Chauvinismus und Judäophobie vertieften, insbesondere in den Jahren 1918–1920, das Misstrauen gegenüber jüdischen Mitbürgern. Die Multilingualität vieler polnischer Juden machte diese in den Augen der polnischen Mehrheitsbevölkerung zu Kollaborateuren der russisch-bolschewistischen Sache. In mehreren Grenzstädten, in denen Juden zum Teil die Mehrheitsbevölkerung bildeten, kam es zu Übergriffen des polnischen Militärs und zu pogromähnlichen Ausschreitungen.

 

Für jüdische Soldaten war der Militäralltag weit unerfreulicher als für ihre christlichen Kameraden. Juden wurden mit weniger Respekt behandelt, es gab eine hohe Anzahl an jüdischen Deserteuren. Die Generalität ortete bei Juden eine begrenzte Neigung zum Militärdienst und eine mangelnde Brauchbarkeit als Kombattanten. 1920 wurden jüdische Soldaten direkt für militärische Rückschläge verantwortlich gemacht. Im Rahmen all dieser Umstände kam es im August 1920 zur Separierung und Internierung tausender jüdischer Soldaten im Militärlager zu Jabłonna-Legionowo. Diese Geschehnisse markieren in besonderem Masse den problematischen Umgang der polnischen Armee mit ihren jüdischen Kameraden. Es folgte eine Reihe parlamentarischer Anfragen durch jüdische Abgeordnete und entsprechende zeitgenössische Reflexionen. Jabłonna verblieb als Trauma im kollektiven Gedächtnis der polnischen Judenheit. (S. 75-191)

 

Der Abschnitt »Jeder Bürger Soldat, jeder Soldat Bürger«, der einen definierten Idealzustand formuliert, beschreibt die Phase der Stabilisierung und Strukturierung des Staatswesens und der Streitkräfte, dazu auch den Widerspruch zwischen einer polnischen »Nationalarmee« und der realen multiethnischen Staatsarmee. Mit zunehmender Konsolidierung von Staat und Militär wurde Polen zu einem Gemeinwesen, das sich als »Nationalstaat« definierte, Minderheiten aber mit gewissen Einschränkungen integrierte. Die Armee als Institution (nicht aber einzelne Militärangehörige) entzog sich dem weiterhin stark antisemitisch aufgeladenen öffentlichen und politischen Diskurs. Die Armee fuhr eine Doppelstrategie von Zugeständnissen und innerinstitutionellen Barrieren. Juden wurden von strategisch wichtigen und höheren Positionen ferngehalten, wenngleich sich angesichts der innen- und aussenpolitischen Lage das Misstrauen der Militärs zunehmend auf Ukrainer und Deutsche verschob. Zugleich wurde jüdischen Soldaten die Einhaltung ihrer religiösen Pflichten ermöglicht, etwa Dienstfreistellung und Versorgung mit koscherem Essen an jüdischen Fest- und Feiertagen. Die Parole »Jeder Bürger Soldat« galt nicht selbstverständlich für die ethnisch-religiösen Minderheiten. Auch Juden verstanden sich nicht zwangsläufig als »Bürgersoldaten«, wohl aber gab es Anzeichen dafür, dass manche Juden das Tragen der polnischen Uniform mit dem Gefühl von Anerkennung und Prestigegewinn verbanden. (S. 193-328)

 

Ein Abschnitt »Gedächtniskultur« widmet sich unter anderem der Organisation jüdischer Kriegsveteranen und der Erinnerungsfunktion jüdischer Kriegshelden. (S. 329-384) Der Autor beendet seine Studie mit einer Vorausschau auf den Diskurs nach 1939 und einem Resümee seiner Abhandlung. (S. 385-406)

 

Der Band verfügt über ein Verzeichnis der Abkürzungen (S. 408-409), über ausführliche Quellen- und Literaturverzeichnisse (S. 411-488), dankenswerterweise auch über Orts-, Personen- und Sachregister. (S. 489-503) Durch die von Christhardt Henschel mit Akribie und hoher Quellendichte durchgeführten Forschungen entstand ein umfassendes, differenziertes Bild von Juden und Militär im Polen der Zwischenkriegszeit.

 

Zum Autor

Christhardt Henschel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Warschau. Er publiziert seit 2004 zur Geschichte Polens, zur jüdischen Geschichte Ostmitteleuropas und zur Militärgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.

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